Über Unterschiede zwischen Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen wird in Philosophie und Wissenschaft kontrovers diskutiert. Viele der angeführten Kriterien wie zum Beispiel der Verweis auf die menschliche Fähigkeit zur Selbstreflexion, auf den menschlichen Einsatz der Technik, auf das Zukunfts- und Todesbewusstsein des Menschen, seine von der Reproduktion losgelöste Sexualität und seine möglicherweise eng an die Sprache gebundenen geistigen Fähigkeiten, halten neueren Befunden aus der Biologie nicht stand: Bei Bonobos und Delphinen konnte ein spielerisches, nicht der Fortpflanzung dienendes sexuelles Verhalten beobachtet werden; verschiedene Primaten verstehen es, sich wechselseitig in raffinierter Form zu täuschen, was eine relativ komplexe Sicht der eigenen Situation und der Welt voraussetzt; der Gebrauch von Werkzeugen ist bei einer Reihe von Primaten bereits seit längerem dokumentiert und schließlich geben Spiegeltests Auskunft darüber, in welchem Ausmaß ein Individuum in der Lage ist, sich als ein Selbst zu begreifen.
Mehr noch als solche Erkenntnisse hat die rasante Entwicklung auf den Gebieten der Molekulargenetik und der Neurobiologie dazu geführt, den Menschen ausschließlich als Bestandteil der Natur zu betrachten, der vollständig mit den Mitteln der Naturwissenschaft beschrieben werden kann. Bei Vertretern aus Philosophie und Kulturwissenschaft zeigen sich zwei Reaktionen: Jene, die den Verlust ihrer Deutungshoheit zu fürchten beginnen, werten die einzelwissenschaftliche Forschung häufig mit unnötiger Polemik ab; die anderen erklären sich vorschnell zu Anhängern des naturwissenschaftlichen Weltbildes und verschmelzen Versatzstücke aus Molekulargenetik, Neurobiologie und Evolutionstheorie zu einer naturalistischen Großtheorie, die alles erklären soll, aber häufig genug nichts erklärt.
Michael Tomasellos Studie zur Evolution der Kognition hebt sich von solchen Tendenzen auf wohltuende Weise ab. Tomasello ist Kulturanthropologe. Primatologie und Säuglingsforschung sind die Gebiete, die er experimentell durchschritten hat, um folgende Fragen zu beantworten: Wie kam das menschliche Denken in die Welt? Warum hat der Mensch kognitive Fähigkeiten ausgeprägt, die ihn sehr deutlich von anderen Lebewesen unterscheiden? Zu Beginn seines Buches formuliert er seine Fragen als Rätsel. Sechs Millionen Jahre seien für die Evolution einfach eine zu kurze Zeit, um zu erklären, warum der Mensch in der Lage ist, »komplexe Werkzeuggebräuche und Technologien, komplexe Formen der Kommunikation und Repräsentation durch Symbole und komplexe gesellschaftliche Organisationen und Institutionen zu erfinden und aufrechtzuerhalten.« Tomasellos Antwort ist verblüffend und sie verwirrt. Er unterscheidet zwischen einer biologischen und einer kulturellen beziehungsweise sozialen Form der Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten. Menschen nun, so seine These, bedienen sich in umfänglicher Form der kulturellen Weitergabe ihrer Fähigkeiten, was ihnen eine ihm Vergleich zur bloßen biologischen Vererbung evolutionär schnellere Entwicklung ermöglicht hat. Verblüffend ist seine Antwort für den Naturwissenschaftler, weil sich relativ schnell die Kultur als Schrittmacher menschlicher Fähigkeiten entpuppt. Verwirrend ist sie für die Kulturwissenschaften, weil die kulturelle Weitergabe im Prinzip als ein biologischer Mechanismus begriffen wird.
Immer wieder akzentuiert Tomasello, dass die geistigen Fähigkeiten des Menschen weit über die Fähigkeiten nichtmenschlicher Lebewesen hinausgehen. Er akzentuiert aber auch, dass es zwischen der Natur und der Kultur des Menschen keinen glatten Schnitt gibt. Diese These ist im Prinzip nicht neu, spannend allerdings ist der Weg, den Tomasello einschlägt, um diese Auffassung zu begründen. Er glaubt nämlich, die Stelle aufgefunden zu haben, an welcher die kognitiven Fähigkeiten des Menschen in einem buchstäblichen Sinne aus der Natur herauswachsen. Der am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig arbeitende Anthropologe lässt sich hier nicht auf wilde Spekulationen und Märchen darüber ein, wie aus haarigen Vorfahren kultivierte Zeitgenossen wurden, sondern er erläutert seine These im Rückgriff auf experimentelle Studien zur Individualentwicklung von Kindern und nichtmenschlichen Primaten. Das »kulturelle Lernen« gründe in der Fähigkeit des Menschen seine Artgenossen als seinesgleichen zu verstehen. Im Unterschied zu Menschenaffen interpretieren Menschen andere Menschen als intentionale Wesen. Das heißt, als Wesen, die Überzeugungen hegen, Absichten haben, auf der Grundlage von Zwecken handeln, und sie begreifen sich nicht ausschließlich als Spielbälle in einem durch und durch kausal bestimmten Geschehen. Diese soziale Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ist Tomasello zufolge der zentrale Beschleunigungsfaktor der Evolution menschlicher Fähigkeiten und die Grundlage der menschlichen Kultur. Als Beleg für diese Auffassung werden detaillierte Studien zur Kognition von Säuglingen, zum Verhalten autistischer Kinder und Menschenaffen herangezogen. Im Alter von etwa neun Monaten, so zeigt Tomasello, verändert sich der kindliche Geist. Im Verhalten des Kindes zeigt sich, dass es sich mit anderen Menschen in einen Raum geteilter Aufmerksamkeit zu stellen beginnt und lernt, intentionale Akteure von bloßen Gegenständen zu unterscheiden. Mehrere Kapitel des Buches widmen sich der Frage, welche Rolle der Sprache im Rahmen des Entwicklungsprozesses des Menschen zukommt. Zu der verbreiteten Auffassung, die Sprache sei die Ursache menschlicher Kognition konstatiert Tomasello lapidar, das sei so, »wie wenn man Geld als evolutionäre Ursache menschlicher Wirtschaftstätigkeit ausgeben würde.« Er hingegen verortet die Grundlagen des Spracherwerbs in der sozialen Interaktion der Menschen. Auf der Grundlage einer beeindrucken Vielzahl von Experimenten wird erläutert, wie aus sprachlosen sprachfähige Wesen werden, und auf welche Weise Sprachfähigkeit und menschliche Kognition ineinander greifen.
Es spricht für den Autor, dass er sich einer einfachen Antwort auf die Gretchenfrage, ob die Kultur des Menschen aus ihren biologischen Wurzeln erklärt werden kann, verweigert. Sicher, die menschliche Kultur hängt von der biologischen Welt ab. Gleichwohl hält Tomasello die Erklärung der menschlichen Kognition durch genetische Anpassungen für vorschnell und unbegründet. Primatologen werden seinen Überlegungen ebenso widersprechen wie Philosophen. Was den einen zuwenig ist, ist den anderen zuviel. Gerade deshalb aber ist seine Arbeit in ihrem interdisziplinären Anspruch gelungen. Sie hält sich nicht länger mit dem Mythos von den zwei Wissenschaftskulturen auf, sondern versucht, den vermeintlichen Gegensatz zwischen Natur- und Geistes- beispielsweise Kulturwissenschaft zu unterlaufen. Menschen, so heißt es gegen Ende des Buches, sind Fische im Wasser der Kultur. Da wird man nicht widersprechen wollen.
Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Aus dem Englischen von Jürgen Schröder, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002., 285 S., 26,90 E
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