Bilder sind Spiele mit Licht. Wer hat die Wahrheit dieser Bilder unverzüglich fassen können? Ich sah im Elektronikmarkt des Rathaus-Centers Berlin-Pankow den qualmenden Turm, das Flugzeug von rechts, wie es kurz verschwand und sich dann von hinten durch den zweiten Tower brannte. Ekelwut befiel mich, üblicher Reflex auf Hollywood-Apokalypsen, wie auch dies eine sein musste, im Idioten-TV. Immer, wenn ich herkam, lief auf dem großen Vorführschirm ein Krieg der Pyromanen. Jetzt las ich die Senderkennung: ntv.
Die Menschen glotzen stumpf, wie fensterlose Seelen. Aus der CD-Abteilung plärrte Whitney Houston. Ein paar Halbwüchsige verfolgten das New Yorker Spektakel in der HiFi-Grotte. Erschütterung ließ sich nicht spüren. Aber was sah man mir an? Draußen war übliche Welt. Die Straßenbahnen schnurrten über den Markt, die Airbusse pflügten den nassen Himmel und landeten sicher in Tegel. Unser Rathaus stand, die Kirche, die Buchhändlerin lachte und bestellte das Buch, der Fotohändler händigte die Urlaubsfotos aus - durch die Welt ein Riss?
Dann drang die Wahrheit ein. Fernsehen, anderes ließ sich nicht tun. Einzige Milderung war die Simultanität. Alle sahen dasselbe, in der ganzen Welt. Alle fühlten gleich, mochte man glauben, bis die arabischen Bilder kamen: tanzende Kinder, die strahlende Oma in Schwarz, der Zuckerbäcker, wie er der Kamera, also mir, mit Freudenküchlein entgegeneilt. Arafats flatternde Lippe: We are shocked, totally shocked. Unbelievable! Plötzlich, wie eine Obszönität, Fußball, Schalke gegen Athen. Das durfte ich jetzt nicht sehen, aber auch nicht immer wieder den New Yorker Flammenball, der als Videoclip in heavy rotation unablässig über den Bildschirm walzte. Als das Fernsehen die Todgeweihten immer wieder aus dem World Trade Center springen ließ, schloss ich die Augen, wie stets, wenn Hitlers Exekutoren die Juden immer wieder in die Grube morden, wenn der Saigoner Polizeichef dem Vietcong immer wieder in die Schläfe schießt, wenn die Raumfähre Challenger immer wieder explodiert. Man verbiete sich den Tod als Film. Süß ist´s, fremder Not bei tosendem Kampf der Winde / Auf hochwogigem Meer vom fernen Ufer zu schaun, so höhnt oder warnt Lukrez. Nicht, als könnte man sich am Unfall andrer ergötzen / Sondern weil man sieht, von welcher Bedrängnis man frei...
Ich bin kein Amerikaner, noch wünsche ich, einer zu sein
Wann hieß es an diesem 11. September zum ersten Mal, nun seien wir alle Amerikaner? Kanzler Schröder sprach vom Angriff auf die ganze freie Welt, auf unsere Werte, auf die offene Zivilgesellschaft. Empfand wer anders? Ich fuhr Taxi. Na, ooch erschüttert? dröhnte der Fahrer und entpuppte sich als Exemplar jener Berliner Spezies, die fremdes Desaster als eigene Größe empfindet. Dit verlogene Jeheule! sprach das Subjekt. Würd´ der Ami so´n Uffriss machen, wenn die Dinger jestern in Deutschland rinjeknallt wärn? Ick frage! Wat denn, so schweigsam? Ich überlege... Vietnam, sagte der Mensch. Chile, Grenada, Golfkrieg, der Ami benimmt sich wie ´ne Sau. Jetzt hat er´s mal selber abjekricht... Das gestern war die beschissenste perverse Menschenverachtung. Und wenn Sie in den Türmen gewesen wären...Is ja jut, begütigt er. Trifft eben immer die Falschen.
Der Taxifahrer war kein Einzelfall. Rechtsradikale begrölten den Schlag gegen die Judenmetropole New York. In einem linken Kreuzberger Szene-Laden wurde vor dem Fernseher mit Sekt angestoßen. Das menschliche Deutschland trauerte. Die Kirchen füllten sich. Um die US-Botschaft wuchsen Blumenaltäre. Die NATO erklärte den Bündnisfall, da gab es in der Anteilnahme den ersten Riss. Springer erhob Solidarität mit den USA zum Paragraphen des Verlagsstatuts. BILD schmiss die Propaganda-Orgel an. Über Tage ließ das Blatt Prominente folgenden Satz zu Ende sprechen: "Jetzt sind wir alle Amerikaner, weil ..." Der Hauszyniker dichtete "100 Gründe, Amerika (gerade jetzt) zu lieben": "6. Weil ihr vor dem Essen betet wie US-Präsident Bush..., 33. Weil Bill Clinton Sex im Oval Office hatte..., 50. Weil ihr bei der Nationalhymne die rechte Hand auf euer Herz legt..., 68. Weil Britney Spears so einen nackten Bauch hat und Jennifer Lopez so einen tollen Popo..., 72. Weil euer Benzin noch so billig ist..., 100. Weil ihr für uns Freund, Vorbild und Fackel der Freiheit seid."
Ich bin kein Amerikaner, noch wünsche ich einer zu sein. Ich teile nur partiell den Zivilisationsbegriff eines Landes, dessen Präsident 131 Todesurteile unterschrieben hat. Aber Staat und Gesellschaft der USA sind zweierlei. Fünf Monate habe ich dort gelebt, 1990. Die Mauer war gefallen. Amerika galt vielen Ostdeutschen als Traum- und Gegenwelt. Das World Press Institute St. Paul/Minnesota lud zehn Journalisten aus zehn Ländern zur Kreuzreise ein: von den stoischen small towns des Mittleren Westens in die Slums von Chicago, von den Umerziehungslagern für street gang kids ins Weiße Haus. Wir sahen unermesslich viel, ein fünfzigfaches Land, ein Volk aus allen Rassen, das Nationalismus als Bindemittel gebraucht. Ich liebte die Beweglichkeit der Amerikaner, ihren Humor, ihre neidlose Toleranz, die Offenheit ihrer Lebensentwürfe, den naiven, herzlichen Mut. Mir missfielen die Obsessionen der Gewalt, die Anbetung des Goldenen Kalbs, das haarsträubende Sozialgefälle, die Blindheit für den Rest der Welt. Unvergesslich: der Star-Ökonom Lester Thurow, wie er uns schneidend referierte, welche postsowjetischen Länder es schaffen würden: Ostdeutschland ja, Bulgarien nicht. Aber, fragte Thurow, schert die Welt Bulgarien? So wenig wie Brasilien. - Unsere bulgarische Kollegin saß starr. Brasilianer waren nicht zugegen.
Ich habe Angst - kein Kanzler und kein Kommunarde sprach das aus
Gewaltige Energien investiert Amerika zur Vermeidung der Selbsterkenntnis, wie die USA die Bipolarität der Welt stetig reproduzieren. America first als Ziel der Geschichte, das zeugt den Antiamerikanismus immer wieder neu. In das Entsetzen über den 11. September hat sich alsbald eine zweite Angst gemischt: Es könnte die US-Administration das Erlittene missbrauchen. Die Pietät gebot zunächst, davon zu schweigen, doch die Angst war da - erst vor Bushs heilungswütiger Rache, dann, als die gottlob ausblieb, vor Krieg zur neuerlichen Befestigung der Pax americana, der permanenten Teilung der Welt in unsere Welt und die da draußen. Für oder wider uns - dieser Supermacht-Sound ist einem Ostdeutschen so unwohl vertraut wie die Treueschwur-Rhetorik der Satelliten. Während des Golfkriegs war ich in Taipeh und sah einen einzigen kleinen Antikriegs-Altar. Prompt knallte ein Ami den Schutzmacht-Mündeln ins Kondolenzbuch: DON´T CALL US WHEN CHINA INVADES TAIWAN!
Aber wer darf bitten, ohne Terror im geringsten zu legitimieren, dass dieser 11. September die USA an ihre nicht-militärische Weltverantwortung mahnen möge? Einer tat´s: der Bundespräsident. 100.000 scharten sich zur Trauerfeier um das Brandenburger Tor. Meine 18jährige Tochter weigerte sich mitzukommen: Das sei Heuchelei. Sie zählte die Weltkatastrophen auf, die wir keiner Trauer wert befinden, weil wir sie nicht sehen oder fernzuhalten wissen. Sophie, sagte ich, sei nicht aus Wärme kalt. Hast du die Todgeweihten gesehen, wie sie in den Fenstern hingen, schrieen, verzweifelt winkten und sprangen, 300 Meter tief? - Das war entsetzlich, sagte Sophie, aber wenigstens haben sie nur kurz gelitten. Afrika, der Hunger, Frauen gebären jedes Jahr ein Kind, alle sterben, darum trauert keiner am Brandenburger Tor.
Dann sprach Johannes Rau. Mörder, sagte er. Sie sind Mörder und nichts sonst. Sie stehen nicht für einen Glauben. Fanatismus ist der ärgste Feind des Glaubens. Hass darf uns nicht zum Hass verführen. Nichts ist so leicht zu zerstören wie der Frieden. Wer den Terrorismus wirklich besiegen will, muss ihm durch politisches Handeln den Boden entziehen. Armut, Elend, Gewalt lassen Menschen verzweifeln und säen den Hass schon in die Herzen von Kindern. Der beste Schutz gegen Terror, Gewalt und Krieg ist eine gerechte internationale Ordnung.
Seit dem 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz hatte mir keine Rede so wohlgetan. Die Transparente ringsum sekundierten Rau: NACHDENKEN STATT BLINDER RACHE! KRIEG IST KEINE LÖSUNG! STOP TERROR! WIR TRAUERN UM DIE MENSCHEN, DIE WEGEN DER GRENZENLOSEN GIER DER ZIVILISIERTEN WELT VERHUNGERN! Linke Aktivisten verteilten Flugblätter mit antikapitalistischer Prosa und luden zum Aktionstreff nach Kreuzberg ein. Am gewiesenen Ort tagten drei Dutzend Menschen und repräsentierten fast genauso viele Denominationen: Rote Hilfe, Autonome Linkskommunisten, Gruppe Arbeitermarkt, Basta, Sozialistische Initiative "was tun?"... - Ja, was tun? Parolen dichten, Mahnwache an der Weltzeituhr, Kundgebung am Roten Rathaus. Terror sei grundsätzlich abzulehnen, aber züchteten die USA nicht ihre Gegner selbst? Saddam Hussein, die Taleban, bin Ladens Miliz: "Sie alle waren einmal Waffenbrüder Amerikas. Nur vor diesem Hintergrund ist das Aufkommen terroristischer Organisationen erklärbar." Daran stimmt vieles, aber wie simpel ist die monokausale Welt der Entlarvungspoesie.
Ich habe Angst - kein Kanzler und kein Kommunarde sprach das aus. Es hat ja nicht nur die USA getroffen. Ein Loch ist in der Welt. Die elementarsten Menschengesetze wurden pulverisiert, durch Menschen, die als Unseresgleichen lebten. Wir begreifen nicht, kraft welcher Rückbindung an was für eine Macht sie auf Abruf zu Mordmaschinen wurden. Vom Bösen hat man gesprochen; ich weiß kein besseres Wort. Ja, Kapitalismus tötet, Globalisierung teilt die Welt, Israel ist ein Verzweiflungsproduzent, den Moscheen des Islam fehlen Fenster zur Globalmoral, und dennoch formuliert all das für den 11. September 2001 keine innerweltliche Rationalität. It´s the end of the world as we know it ...
Benjamin Franklin, der weder guten Krieg noch schlechten Frieden kannte
Im Studium der Theologie hatte ich einen Lehrer, der enzyklopädische Bildung, praktische Vernunft und schlichten Glauben zur Lebenskunst verband. Der Name dieses ora-et-labora-Christen: Wolfgang Ullmann. Nach der Wende saß er für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, dann im Straßburger Parlament. Ihn hörten auch jene, die ihm politisch fern standen, weil sie spürten, dass hier kein Ideologe sprach, sondern ein Mensch, der sich selber prüfte und ermahnte. Jetzt sagte Ullmann: Ich habe keine Angst. Nicht weil ich so mutig bin, sondern wegen meines Alters. Ich habe die Dresdner Bombennacht überlebt. Später studierte, lehrte, lebte ich in der Gewissheit: Das liegt hinter uns. Mit dem Wissen um dieses Grauen wird uns Menschen so etwas nicht mehr passieren.
Der Ort, da Ullmann redete, war der Kirchsaal von Glienicke bei Berlin. Hier wurde Angst ausgesprochen, heiße und kalte, alte und junge, die vom Russeneinmarsch 1945 und die des Herbstes 2001. Ullmann hörte und hörte und erklärte wahrhaftig, es komme jetzt auf jeden Menschen an. Gewiss, der Bündnisfall sei eingetreten. Aber wer sei denn der Gegner? Die derzeitige Kriegsstimmung der Amerikaner erinnere an Europa 1914. Wir müssen in der NATO versuchen, das Ärgste zu verhindern, sagte Ullmann. Alle Religionsgemeinschaften müssen den Terror bannen. Und wir als Christen müssen sagen. Nein, keine Vergeltung! Denkt um! Rächt euch nicht!
Was würden Sie dem US-Präsidenten raten?
Dass er helfen möge, schleunigst den Internationalen Gerichtshof in Rom zu installieren. Auch auf die Gefahr, dass Herr Kissinger dort zu erscheinen hätte.
Dann sangen wir Martin Luthers 470 Jahre altes Lied: Verleih uns Frieden gnädiglich / Herr Gott, zu unsern Zeiten / Es ist ja doch kein andrer nicht / Der für uns könnte streiten / denn du unser Gott alleine. Dann war Samstag, die Antikriegs-Kundgebung vor dem Roten Rathaus von Berlin.
Gleich der erste Redner knatterte wider die Kriegstreiber der sogenannten Zivilisation. Transparente: BUSH WILL KRIEG! BUSH VORS KRIEGSGERICHT! Zum Kampftag titelte die junge Welt: AMERIKAS TRÄUME WERDEN WAHR! Plötzlich - träumte ich? - stand da oben hinterm Mikrophon meine Sophie, die John-Lennon-Gymnasiastin, und entbot der Menge ein Give peace a chance: Liebe Damen und Herren! rief Sophie höchst unrevolutionär. Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Kinder! Langsam erwachen wir aus der Ohnmacht. Indem wir über die vielen verlorenen Leben trauern, rufen wir zur Versöhnung, nicht zur Rache! Wenn die ersten Bomben fallen, mögen alle Berliner Schüler um 11 Uhr zum Alexanderplatz kommen, um einen Streik zu planen!
Zwei andere Mädchen traten Sophie zur Seite. Albert Schweitzer wurde zitiert, Bertha von Suttners Text von der weißen Fahne, Benjamin Franklin, der weder guten Krieg noch schlechten Frieden kannte. Dann Erich Kästner, Das letzte Kapitel: Die Menschen lagen gebündelt wie faulende Garben, andere hingen wie Puppen zum Fenster hinaus... Da dachte ich an den US-Kommandeur Dick White, wie er seinen Golfkrieg und die Iraker so plastisch beschrieb: "Es ist, als knipse man nachts in der Küche das Licht an. Die Kakerlaken beginnen zu rennen, und wir töten sie."
Dies ist ein Text aus dem Graben zwischen Trauer und Politik. Er will nichts gegen Amerika, nur gegen die Logik der Revanche. Als dies geschrieben wird, sind noch keine Bomben gefallen. Aber auch im bangen Harren auf den Kriegsbeginn lauert eine gut getarnte Heuchelei. Bushs Feldzug wird Opferbilder produzieren. Viele warten, dass diese Bilder jene Moral zerstören, namens der die USA ins Feld zu ziehen meinen. Schaudernd freut uns, dass wir recht behalten werden. Das ist unsere Schuld, unser Hosentaschen-Terrorismus.
Und wenn die Opfer unsichtbar bleiben? Wenn man uns à la Golfkrieg Computersimulationen und Konfettiparaden inszeniert? Bilder sind Spiele mit Licht. Du musst sehen, was du weißt.
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