Der das Tageslicht scheut

Literatur Tom Kummer erzählt von einem Mann, der seine Frau verloren hat. Was ihn hier noch im Leben hält, sind seine Söhne
Ausgabe 14/2020
Gar nicht so bleich, wie er sich findet: Tom Kummer
Gar nicht so bleich, wie er sich findet: Tom Kummer

Foto: Imago Images/Gerhard Leber

I am a driver. I go left. I go right. I go straight ahead. That’s it“, sagt Viggo Mortensen in David Cronenbergs Film Eastern Promises von 2007. Mortensen spielt einen Agenten, der in die russische Mafia eingeschleust wird, dort zunächst als Fahrer arbeitet und keine Fragen stellt. Ein wenig ist der Tom Kummer in seinem Roman wie dieser Fahrer.

Ein bisschen ist er auch wie Travis Bickle in Martin Scorseses Taxi Driver (1976): Schlaflos, traumatisiert, tablettenabhängig und ein wenig paranoid fährt er die manchmal zwielichtigen Kunden eines Genfer Limousinenservice durch die Schweiz – ohne Fragen zu stellen.

In Von schlechten Eltern erzählt Tom Kummer die Geschichte von Tom Kummer, der nach dem Tod seiner Frau Nina mit seinem jüngeren Sohn von Los Angeles nach Bern zieht. Ein Mann, der das Tageslicht scheut und der auf seinen Fahrten in den Süden der Schweiz, nach Bellinzona oder Airolo, seine verstorbene Frau halluziniert: „Unsere Trennung ist nur vorübergehend, Baby. Ich werde bald nachsterben.“

Was ihn im Leben hält, sind seine Söhne, Vince, der bei ihm lebt, und Frank, der in L. A. geblieben ist und dort bald in Schwierigkeiten gerät. Das Verhältnis zu Vince ist geprägt durch eine intensive Nähe, die den Leser mitunter unbehaglich stimmen kann: „Wir legen uns ins Bett. Liegen nebeneinander. Vince murmelt etwas, einen Fetzen Traummonolog, er wälzt sich hin und her. Als ich seine Decke anhebe, hüllt uns der warme, vertraute Duft von Nina ein, ihr wunderschöner, nackter, schlummernder Körper. Ich berühre sein Ohr, schiebe meinen Arm unter seinen Körper. Versuche an nichts zu denken. Einfach die Zimmerdecke anstarren und ihren Duft einatmen.“ Gleichzeitig ist es Vince, der oft die Kontrolle übernimmt, den Vater aus der Nacht in den Tag führt, mit ihm Radtouren unternimmt oder Basketball spielt, bis irgendwann Schule und Jugendamt auf den Plan treten.

Stillstand bedeutet Nina

Im Fond von Kummers Mercedes S-Klasse sitzen etwa ein suizidaler libyscher Oberst, ein ominöser nigerianischer Arzt oder eine US-amerikanische Journalistin, die herausgefunden haben will, dass die anderen Fahrer allesamt traumatisierte Flüchtlinge sind. Jede dieser Figuren hat das Potenzial für einen Roman. Doch die verschiedenen Plotlines werden nicht weiterverfolgt. Kummer, der Autor, lässt Kummer, die Figur, von einem Auftrag zum nächsten fahren. Stillstand bedeutet Nina.

Und Nina bedeutet Tod. Dabei wird die Landschaft zur Projektionsfläche: „Die Schweiz ist das Paradies auf Erden.“ Selbst das „Schweizer Wasser fühlt sich göttlich an. Sauber. Sicher“, pflichtet Vince dem Vater bei. Nur Frank erkennt in der Schweiz die „heuchlerischste aller Heuchlernationen“.

In einem seiner (gefälschten) Interviews, für die Kummer zur Jahrtausendwende berühmt-berüchtigt wurde, lässt er den Boxer Mike Tyson sagen: „Ich bin sehr oft allein. Und ich studiere den Klang bestimmter Wörter. Ich habe mir die Literatur von Tolstoi, Dickens und Fitzgeralds Der große Gatsby genau angeschaut. Bei diesen Autoren kommen Worte wie ‚Schicksal‘ und ‚Würde‘ sehr oft vor.“ Bei Kummer kommen Wörter wie „Hand“ (101-mal), „Augen“ (92), „Gesicht“ (82), „Kopf“ (76) und „Körper“ (49) sehr oft vor, Indiz der ausgestellten Leiblichkeit dieses Textes.

Auch das verbindet Von schlechten Eltern mit Eastern Promises und Taxi Driver, deren Helden oft wenig mehr bleibt als der nackte Körper. Doch Kummers Körper verfällt: „Seit ich als Nachtchauffeur arbeite, erschlafft meine Muskulatur. Ich bin bleich im Gesicht, fast grau.“ Und während sich die Paranoia des Taxi Driver nach außen wendet, wendet sich der Wahnsinn des Schweizer Chauffeurs nach innen, wird zum Amoklauf gegen die eigene Existenz: „Glaub mir, Baby, es ist für mich kein Privileg am Leben zu sein, könnte gut auf mich verzichten.“

Ist Von schlechten Eltern die Fortsetzung zur grandiosen Autofiktion Nina & Tom von 2017, wo Kummer nahezu exhibitionistisch von der Beziehung zu seiner verstorbenen Frau erzählt? „Ich lüge sie alle an“, sagt Kummer in Von schlechten Eltern. Vielleicht ist das der entscheidende Lektürehinweis. Was bleibt, wenn es keine Wahrheit gibt? „Ein Weltschmerz. Ein Wahnsinn. Ein Kummer.“

Info

Von schlechten Eltern Tom Kummer Tropen 2020, 245 S., 22 €

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