„Stadt der Engel“

Literatur Der Schriftsteller Christoph Hein schrieb anlässlich ihres neuen Romans "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" eine Laudatio auf Christa Wolf

Am 16. Juni diesen Jahres stellte Christa Wolf in der Akademie der Künste zu Berlin ihr neues Buch Stadt der Engel vor. Der Publikumsandrang erinnerte an frühere Zeiten, in denen Christa-Wolf-Lesungenstets überfülllt waren und die Leser ihr fast wie eine Gemeinde andachtsvoll lauschten.

In den letzten zwanzig Jahren hatte Christa Wolf Irritationen, Angriffe, Kampagnen erlebt und durchstehen müssen wie wenige deutsche Autoren vor ihr. Die, die sie liebten und schätzten, waren um sie besorgt, fürchteten um sie, um ihre Gesundheit, um ihre Arbeitskraft. Aber als sie die Bühne in Berlin betrat, schienen alle Sorgen um sie unnötig, entbehrlich, unnütz zu sein.

Sie war wie immer, sie las wie immer, eine lebhafte Person, von Misslichkeiten des Alter gezeichnet, doch nach wie vor kräftig, unsentimental, selbstbewusst. Und mit ihrem Text ging sie mitten hinein in das, was manihr vorwarf, worauf man bei ihr lauerte, was man gegen sie verwenden wollte.

Eine stolze Frau war da auf der Bühne, scheinbar unbeeindruckt von dem, was um sie herum getobt hatte, gegen sie angerannt war, sie herunterziehen wollte. Eine Patrona saß da, sprach mit ruhiger, klarer Stimme, voller Würde, scheinbar unbeeindruckt von einer züngelnden, nach ihrem Blut gierenden Journaille. Eine Patrona, würdig, lebenserfahren, lebenssatt, ganz bei sich, in sich ruhend.

Er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, heißt es in einem alten Buch. Vielleicht hat er es befohlen, vielleicht behüten Dich Engel auf allen Deinen Wegen.

Und nun hat sie über die Engel geschrieben, ein Buch über die „Stadt der Engel“ vorgelegt. Die Autorin hat dem Buch keine Genrebezeichnung hinzugefügt, nur einen Untertitel: The Overcoat of Dr. Freud. Und auch der Verlag seinerseits hat auf jegliche Einordnung verzichtet, etwa aufeinen umsatzfördernden Hinweis wie „Roman“. Wir bekommen das neue Buch von Christa Wolf gewissermaßen erklärungslos in die Hand, ohneeine der für uns hilfreichen Schubläden, die uns eine erste Interpretationgeben, ein Vor-Wissen ermöglichen könnten, eine Mitteilung, ob wir es mit erfundenem, gar mit einem frei erfundenem Leben zu tun bekommenoder mit einem authentischen Leben, vielleicht mit einem Dokument, einer Autobiografie, mit einem wahrheitsgemäßen und überprüfbaren Bericht.

Der Untertitel scheint uns einen Hinweis zu geben, das jedenfalls istdie Funktion eines Untertitels. The Overcoat of Dr. Freud. Dem Namen des berühmten Psychoanalytikers ist ein Wort beigegeben, was uns zuder Annahme berechtigt, das Buch wird keine Arbeit zu diesem Wissenschaftler sein, vielmehr verspricht uns der Overcoat eine Geschichte. Eine merkwürdige, eine skurrile, eine anekdotische vielleicht. Und eineStory aus einer vergangenen, einer versunkenen Zeit, denn der Overcoat ist sprachlich längst verschlankt zu einem coat und ist daher in der altertümlicheren Form nicht mehr mit Mantel, sondern mit dem vergessenen Wort Überzieher zu übersetzen, also einem Bekleidungsstück, das als Letzter in meiner Familie mein Großvater noch besaß und überzog.

Uns erwartet, so dürfen wir vermuten, eine Anekdote aus einer vergangenen Zeit, eine Erinnerung an eine Geschichte, die sich zu Großvaters Zeiten in einer Stadt der Engel zutrug. Was dem Überzieher von Dr. Freud in der Stadt der Engel zustieß.


Das Buch über die Stadt der Engel ist zuallererst das Buch über eine Stadt, über El Pueblo de la Reina des Los Ángeles, wie der unverkürzte Name lautete, Das Dorf der Königin der Engel.

Geblieben von den prächtigen, früheren Bezeichnungen der Stadt istder Beiname City of Angels, und ein scheinbar schlichtes, ein stolzes: „L.A.“
Die Autorin beschreibt, wie sie in der Stadt der Engel lebt, sich in ihr bewegt, Schwierigkeiten meistert oder auch erst aufbaut, mit den Bewohnern kommuniziert oder wie man aneinander vorbeiredet, vorbeireden muss, da persönliche Geschichte und Gewohnheiten und Erfahrungen so verschieden waren und sind, so sehr verschieden, dass Verständigung unmöglich wird.

„Sind Sie sicher, dass der Staat noch existiert“, fragt der Grenzbeamte auf dem Flughafen von L.A. jene Dame, die Monate oder Jahre nachdem Ende der DDR mit einem Pass dieses untergegangenen Staates einreisen will.

Sie erzählt von den Schwierigkeiten, in die feineren, die besseren Häuser eingelassen zu werden. Bullige Wächter bewachen sie, die schroff und abweisend und misstrauisch den Einlass Begehrenden prüfen. Ganze Stadtviertel sind abgesichert, verriegelt, große Wohnareale mit schweren Toren gesichert. Man lebt in extrem unsicheren Vierteln, die man für einen Spaziergang nicht ungefährdet verlassen kann. Auf der anderen Seite die verwahrlosten Viertel, die Region der homeless people, die man nur in der Sicherheit eines verschlossenen Autos durchqueren kann. Bedrückt dich das nicht, fragt die Autorin eine Freundin. Man gewöhnt sich an alles, lautet die Antwort. Wie man sich hierzulande an die Berliner Mauer gewöhnte, die uns einst Westberlin verriegelte. Diese Mauer war unsere Vergangenheit, die Mauern von L.A. sind möglicherweise unsere Zukunft, denn vielleicht wird man sich auch bald in Europa an Mauern um die nicht verwahrlosten Wohnviertel gewöhnen müssen, sie zur eigenen Sicherheit vielleicht gar herbeisehnen.


Und dann beginnt in dieser Stadt der Engel das eigentliche Buch, die Selbstbefragung der Autorin, die große Überprüfung, eine unaufhörliche und wohl auch nach dem Ende dieser Arbeit unabgeschlossene Betrachtung des eigenen Lebens. Eine Recherche, die für die Autorin nach einer Lebenskrise unabweisbar war. Sie hatte als junge Frau mit dem Geheimdienst ihres Staates gesprochen, dann eine Zusammenarbeit abgelehnt und das Ganze vergessen. Und Jahrzehnte später wird sie von den geöffneten Akten und von den Medien auf diesen damaligen Kontakt verwiesen, nein, sie wird auf ihn reduziert. Auf den Titelseiten der Zeitungen weist ein anklagender Zeigefinger auf ihr Foto, eine brutale Banalisierung eines Lebens auf einige Gespräche, auf Gesprächsnotizen eines Geheimdienstes. Sie hatte es vergessen, doch über Nacht gibt es scheinbar diese große und wichtige deutsche Autorin nicht mehr, nur noch jene Karikatur nach Aktenlage. Ich wage gar nicht darüber nachzudenken, was das in einem Menschen, für einen Menschen ausrichten kann, angerichtet hat. Vermutlich wird, wer nie im Fokus der öffentlichen Anklage stand, nicht erahnen können, wie tief, wie nachhaltig, wie lebensgefährdend jene Wochen und Monate und Jahre für sie waren.

Die Kunst, die Musik, die Literatur geben ihr Kraft. Ein Gedicht von Paul Fleming, eine Mahnung an sich selbst wird ihr zum Stecken und Stab:

Sei dennoch unverzagt! Gib dennoch unverloren!
Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,
Vergnüge dich an dir, und acht es für kein Leid,
Hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.
Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren,
Nimm dein Verhängnis an, lass alles unbereut.

Diese Worte von Fleming, dieses Gedicht wird zum zentralen Punkt des Buches. Dass die Autorin seiner Mahnung folgt, bezweifle ich nach der Lektüre allerdings. Die Autorin ist wohl zu stark preußisch-protestantisch geprägt, als dass sie allzeit unverzagt sein kann und schon gar nicht vermag sie alles unbereut zu lassen. Da vermag sie nicht der Landstörtzerin Courasche von Paul Flemings Zeitgenossen Grimmelshausen zu folgen, deren Lebensbekenntnis in dem stolzen Satz zusammengeschlossen ist: Das, so mir mangelt, ist die Reu.

Aber sie nimmt diese Mahnung an und bemüht sich, mit diesem mahnenden Wort im Kopf, die eigene Geschichte zu erfassen, sich selbst zu begreifen. Das Flemingsche Dennoch, das ist die Farbe des Buches, die Haltung der Autorin, des unablässigen Sich-Befragens, des aufmerksamen Durchforschens, des eigenen Erinnerns.

Was klagt, was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
Ist sich ein jeder selbst. Schau alle Sachen an:
Dies alles ist in dir.

Das Buch ist eine Lebensbeichte, es ist künstlerisch geformt und gebaut, glänzend gebaut, handwerklich perfekt. Manches mag dem Zufall geschuldet sein, etwa die zufällig für diese Zeit geplante Reise in die Staaten, in das ferne L.A. Der Aufenthalt in dem so fernen, fremden Land gibt eine wundervoll kontrastierende Folie für ein Durchforschen jener Person, die die Autorin einmal war, die sie ist. Der Gesprächspartner Peter Gutman, die Freundin Emma, die Suche nach der Briefschreiberin L., die Treffen mit jüdischen Überlebenden der Nazibarbarei, der Besuch bei den Hopi-Indianern, die bedauernswerte Überlebende ihres eigenen Untergangs sind und ebenfalls nicht wüssten, wie sie antworten sollten, wenn sie gefragt werden: Are you sure your country does exist? Vielleicht sollten die Hopis einen Satz von Georg Christoph Lichtenberg dagegen halten: Der Amerikaner, der Kolumbus entdeckte, machte eine böse Entdeckung.

Alles wird der Autorin zum Spiegel der Selbstbefragung, des Hinuntersteigens. Stets sich selbst mahnend mit dem Fleming-Wort: lass alles unbereut, und doch fast verzweifelt bereuend. „Über alles bekennend zu schreiben, würde mich zerstören“, zitiert sie Thomas Mann, und fährt dann doch fort, gräbt weiter in den Erinnerungen, versucht tiefer und tiefer hinabzusteigen und alles bekennend zu schreiben. Sündenbewusstsein und Rechtfertigungszwang drängen gegen den Fleming an. Das Wissen um das Geliebt-werden-wollen, das Dazu-Gehören, das Nicht-von- der-Fahne gehen. Stets den eigenen Erinnerungen misstrauend, und unablässig um sie bemüht.

Ich erinnere mich, weil ich meiner vergewissern will. Ich interessiere mich für die fremden Erinnerungen, weil ich mich begreifen will. Der Schmerz, den ein anderer erlitt, er kann meinen lindern. Die Schläge und Verletzungen, die mein Nachbar hinzunehmen hatte, sind Balsam für meine offenen Wunden. Was andere Menschen traf und verstörte und zerstörte, es macht das Entsetzliche, das mich traf, gewöhnlicher und besänftigt dadurch mein Entsetzen. Die Toten der anderen machen mir die meinen leichter.

„Ich will herausfinden, wie ich damals war. Warum ich mit denen überhaupt geredet habe. Warum ich sie nicht weggeschickt habe. Was ich wenig später getan hätte“, befragt sie sich und antwortet selbst: „Weil ich sie noch nicht als ,dieʻ gesehen habe.“

Ich hatte es darin einfacher als Christa Wolf. Als Pfarrerssohn musste ich mit 14 Jahren die Schule verlassen und ging illegal nach Westberlin. Durch den Mauerbau wieder eingefangen, hatte ich nun die nächste Todsünde auf mein Haupt versammelt, der Staat entschied wiederholt, dass er alle und jeden benötige, aber nicht mich. Das machte es leicht, Nein zu sagen. Ich gehörte nicht dazu. Bevor ich mich entscheiden konnte, hatten sie entschieden. Hatten ,dieʻ entschieden. Ich teilte nicht ihre Hoffnung, ihren Glauben, das machte einsam, aber unabhängig. Weil ich sie immer als ,dieʻ sehen musste.


Der Gesprächspartner Peter Gutman sagt in dem Buch einmal, die Autorin möge sich endlich damit abfinden, „ein durchschnittlicher Mensch zu sein, mit Fehlern und Fehlhandlungen, wie alle. Herrgott noch mal, hör schon auf! sagte er. Du hast doch niemandem geschadet! Doch, sagte ich trotzig. Mir selbst.“

Ich bin unsicher, ob die Autorin darin Recht hat. Sie hat zu einem Zeitpunkt ihres Lebens eine Entscheidung getroffen, die ganz ihrem damaligen Leben, ihren damaligen Auffassungen entsprach. Sie hat einen Staat verteidigt, an den sie damals glaubte, der ihr verteidigungswürdig schien, für dessen Werte und Existenz sie einstehen wollte. Die junge Frau, die sie war, glaubte an die verkündeten Ideale und wollte für sie eintreten. Und als diese Ideale sich als brüchig, verfault, verlogen, als Illusion erwiesen, hatte sie den Mut, sich von ihnen zu trennen, von ihnen und auch von ihren Genossen, von Freunden. Und diesen Weg ging sie auf eine beispielhafte, einzigartige, bewunderswerte Weise. Als gläubige junge Frau war sie in höchste Gremien der Partei gewählt und dort, im Zentralkomitee einer allmächtigen Partei, widerstand sie nun öffentlich und auf eine Art, die noch heute Bewunderung erregt. Beim Lesen und Anhören der Dokumente jener Partei-Sitzungen entsteht der Wunsch, dass es auch noch heute Leute gäbe, die in einer Regierung und in einer Partei der amtlichen Meinung so entschieden und geradezu selbstmörderisch zu widersprechen wagen, was offenbar in einer Demokratie nicht leichter fällt als in einer Diktatur, kommt es doch genau so selten vor.

Und jene staatserschütternde Affäre, die später nach Biermann benannt wurde, der gegen seinen Willen ausgebürgert worden und mehr als unglücklich war, sein Land verlassen zu müssen, der die Bundesrepublik zutiefst verachtete, die Affäre wurde ausgelöst von zwölf Autoren, die sich öffentlich gegen eine Entscheidung der DDR-Regierung wandten und damit anderen Bürgern Mut machten, gleichfalls Nein zu sagen. Und Christa Wolf war eine der zwölf Unerschrockenen.

Und 1989 fiel die Mauer, weil in den Städten Tausende und Zehntausende, in Berlin Hundertausende für ein anderes Land auf die Straße gingen. Die entstehende und sich artikulierende Mündigkeit, das Aufbegehren, die Proteste der Bürgerrechtler, und schließlich die Wende, - Christa Wolf hatte daran ihren Anteil, und viele der heute geehrten oder auch vergessenen Bürgerrechtler, sie hatten von ihr, ihren öffentlichenAuftritten, ihren Schriften, ihren Reden die Kraft und den Mut geliehen und bekommen, um Nein zu sagen und die Konsequenzen nicht zuscheuen. Ohne jene unerschrockenen, unerschreckbaren Personen wie Christa Wolf wäre die Geschichte der DDR, die Geschichte Deutschlands in den achtziger Jahren mutmasslich anders verlaufen. Wir solltenes nicht vergessen, nur weil die Presse mal eben eine andere Schlagzeile brauchte.


Gay Talese, ein zeitgenössischer, älterer Reporter der USA, ein überaus erfolgreicher Journalist, sagte, dass ihm erst als älterer Mann klar geworden sei, dass Reporter keine guten Menschen seien. Reporter würden nach biografischen Brüchen suchen, an denen sie in das Leben ihrer Opfer schlüpfen könnten. Wie Vampire, sagte er, lebten sie vom Blut anderer.

Zu dieser Erkenntnis hätte ich zwei Anmerkungen zu machen. Zum einen, es sind sehr höfliche Vampire, die nicht durch den Schornstein kommen und nicht durch ein nächtlich offen stehendes Fenster. Sie melden sich an, sie bitten darum, empfangen zu werden. Sie sind dabei recht hartnäckig, klopfen immer wieder an die Tür, erscheinen aber erst, wenn ihr ausgesuchtes Opfer sie einlässt. Und zum anderen: sie schlüpfen wohl an einer aufgespürten Bruchstelle in das Leben ihrer Opfer, aber von diesem Leben benötigen sie nur einen kleinen, manchmal einen winzigen Teil, nämlich jenen Teil, der für ihr blutiges Geschäft taugt. Der Rest, das ganze und große Leben ihres Opfers, ist für sie unbrauchbar.

Irgendwann einmal in jenen aufgeregten Jahren rief mich eine Bekannte aus der Gauck-Behörde an und sagte mir, dass mittlerweile zweiundachtzig Journalisten meine Akte angefordert hätten. Bald danach gab ich einer großen Zeitung ein Interview. Drei Journalisten saßen in meinem Wohnzimmer, um mich zu befragen. Das Gespräch begann mit einem Satz, der im gedruckten Interview fehlt. Einer der drei Herren eröffnete das Gespräch und sagte zu mir: „Herr Hein, wir haben leider nichts gegen sie in der Hand.“

Er lächelte, um anzudeuten, dass dies ein Scherz sei, aber wir alle wussten, es war kein Scherz, ich hatte sie enttäuscht. Nun lächelten alle drei Journalisten mich an, ich konnte ihre gepflegten weißen Zähne sehen, und für einen Moment glaubte ich, die drei hätten besonders lange Eckzähne, aber das war gewiss nur eine optische Täuschung.


In einem kleinen Abschnitt des Buches gibt es eine „Was wäre wenn“-Überlegung, die an Uwe Johnsons Kapitel im Irrealis der Jahrestage erinnert. Johnson dachte damals darüber nach, was geschehen sein würde, wenn sein geliebtes mecklenburgisches Jerichow zum Westen gekommen wäre. Statt einer LPG und den restlichen DDR-Einrichtungen hätte es dann in Jerichow eine Filiale der Dresdner Bank gegeben, die Bauern würden im Gran Turismo-Wagen zum Melken fahren, auf dem Bahnhofsvorplatz stünde ein Mahnmal der deutschen Teilung und der überlebende Adel, schreibt Johnson, kandidierte für die CDU.

In Christa Wolfs Irrealis-Kapitel endet die Flucht ihrer Familie nicht dort, wo die überanstrengten Pferde sie tatsächlich beendeten, sondern in der amerikanischen Zone. Und sie fragt sich, welchen Beruf sie im Westen ergriffen, welche Stadt, welche Partei, welche Urlaubsorte sie dort gewählt hätte. Und es ist für sie nicht nur ein Gedankenspiel. Ihr Leben, unser aller Leben war und ist abhängig von einigen Koordinaten außerhalb unser Eingriffsmöglichkeiten. Christa Wolf hätte ein anderes Leben geführt, ein ganz anderes. Eins, dass ihr das eine oder andere erspart hätte. Aber hier, in diesem anderen Land, in dem Land, für das sich aus Erschöpfung ihre Pferde entschieden hatten, wurde sie gebraucht und hier erfüllte sie preußisch-protestantisch ihre Aufgabe.


Freilich sie hätte sich dann nicht den als Vorwurf gemeinten Satz anhören müssen, dass es kein richtiges Leben im falschen gäbe. Es ist ein Satz von Adorno, wohl der berühmteste, auf jeden Fall der bekannteste seiner Sätze. Inzwischen ist er eine Spruchweisheit geworden, ein Kalender-Sinnspruch, ein Sprüchel, das Kaffeetassen, T-Shirts und Wandteller ziert und mittlerweile auch für Todesanzeigen brauchbar wurde, zumal für jene Mitbürger, denen ihr Glaube es nicht erlaubt, die sonst üblichen Bibelsprüche bei dieser Gelegenheit zu nutzen. Und natürlich wurde er zum vernichtenden Urteil über Menschen, die in einem totalitären Staat, die in einer Diktatur leben oder lebten. Der Satz wurde als letztinstanzliches Urteil über DDR-Bürger gebraucht. Es gab auch die nett-gemeinte Umkehrung dieses Urteils, es wurde vom „richtigen Leben im falschen System“ gesprochen, wodurch die DDR-Bürger freigesprochen werden sollten.

Eins ist so unsinnig wie das andere, und Adorno war ein zu genauer, zu konkreter Autor, als das ihm ein solcher Unsinn unterlaufen wäre. Der Satz steht bei ihm völlig anders, ist aus dem ursprünglichem Verwendungsumfeld herausgerissen, wurde vom Kontext einer bestimmten Philosophie losgelöst. „Asyl für Obdachlose“ – so nennt sich bei ihm jene moralische Miniatur, in der es um das Wohnen geht. „Die Zerstörungen der europäischen Städte“, sagt er, „ebenso wie die Arbeits- und Konzentrationslager setzen bloß als Exekutoren fort, was die immanente Entwicklung der Technik über die Häuser längst entschieden hat.“

Er spricht über den Widerspruch von der Fatalität von Privateigentum einerseits und der Notwendigkeit, dieses Eigentum haben zu müssen, um nicht in Abhängigkeit und Not zu geraten. „Es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein“, sagt er, und genau hier schließt sich jene missbrauchte Sentenz an:„Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Es gibt kein richtiges Leben. Und es gibt kein falsches Leben. Wir alle haben ein einziges Leben und das ist leicht oder schwer, glücklich oder unglücklich, aber nie falsch oder richtig. Wir haben ein Leben und dieses eine Leben hat einigermaßen begonnen, bevor wir geboren werden, wie der junge Marx schrieb. Das Jahrhundert, das Vaterland, das Elternhaus entscheiden über viel von dem, was unser Leben ausmacht.
Und so kommt es, dass, wie Hugo von Hofmannsthal sagte:

Manche freilich müssen drunten sterben,
wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
andere wohnen bei dem Steuer droben,
kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.
Manche liegen mit immer schweren Gliedern
bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
anderen sind die Stühle gerichtet
bei den Sibyllen, den Königinnen,
und da sitzen sie wie zu Hause,
leichten Hauptes und leichter Hände.

Aber wer da leichten Hauptes und leichter Hände bei den Königinnen sitzt, er hat vielleicht ein schönes Leben, aber deswegen ist es nicht das richtige. So wie die, die drunten sterben müssen, nicht falsch leben. Entscheidend dann ist, wie sie es führen, die da oben und die unten. Und ein Leben bestehen, es führen, da ist einiges richtig oder falsch zu machen. Und da gibt es einiges bei Christa Wolf zu bewundern.


In dem Buch, in der Stadt der Engel, gibt es zwei ganz unmögliche Seiten. Auf diesen zwei Seiten werden Liedertitel aufgeführt, einer nach dem anderen, ein schlichtes Aufschreiben der Anfänge von deutschen Liedern, eigentlich kaum mehr als das Inhaltsverzeichnis eines gewöhnlichen Liederbuches mit den bekanntesten und beliebtesten deutschen Volks- und Kunstliedern.

Am Brunnen vor dem Tore und Im schönsten Wiesengrunde, An jenem Tag im blauen Mond September und Guten Abend, gute Nacht. Ein Titel folgt dem anderen, nach Wem Gott will rechte Gunst erweisen folgt Eine feste Burg, nach Ich hatt einen Kameraden heißt es Alle Vögel sind schon da.

Aber geht denn das, darf man das in einem seriösen Buch, in einem gewichtigen Band? Gehört sich das in einem ernsthaften literarischen Werk, das eine Lebensbeichte ist, ein Zu-sich-Finden, ein Sich-In-Fragestellen, ein Sich-selbst-Überprüfen?

Es geht eigentlich nicht, und hätte Christa Wolf von dieser Absicht irgendeinem Lektor oder vertrauten Leser erzählt, ein jeder hätte wohl den Kopf geschüttelt und ihr abgeraten. Aber wenn man diese wenige Seiten liest, diese Aufzählung bekannter Liedzeilen, entsteht vermutlich für jeden Leser, für jeden, der in dem deutschen, in dem deutschsprachigen Raum aufwuchs und einige Jahrzehnte in ihm lebte, das Gefühl einer Vertrautheit. Etwas wie Heimat schimmert auf, ein Raum, der Heimat sein könnte, der für den Heimatlosen eine Zugehörigkeit, eine Zuflucht sein kann oder doch als Hoffnung aufschimmern lässt.

Und wenn wir die Sprache als unsere eigentliche Heimat verstehen, dann verkörpern wohl diese Lieder den Kern der Sprache, dann bleibt das Wort von der deutschen Sprache kein abstrakter Begriff, sondern bekommt ein Gesicht, wird deutlich als Elternhaus und Kindheit, als unser eigentliches Daheim-Sein. Diese Lieder umfassen die Geborgenheit, in der wir aufwuchsen oder nach der wir uns sehnten und sehnen. Beim Lesen dieser Liedtitel ist unversehens die Melodie in unserem Kopf, hören wir Musik, entstehen Bilder aus unserem Leben, erinnern wir uns.

Natürlich ist es auch sentimental und rührselig, so rührselig und sentimental wie diese uns berührenden Lieder, deren Zauber wir uns kaum entziehen können. Christa Wolf brauchte wohl diesen Zauber als Engelskraft, um überleben zu können.

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