1.
Siegfried Unseld hat viele Jahre um mich geworben. Ich war Autor anderer Verlage und sah, solange ich mit diesen Verlagen zufrieden war, wenig Grund für einen Wechsel.
Es ist durchaus angenehm, umworben zu werden; gewöhnlich ein Privileg der Damen.
Es entstand eine Freundschaft, es wuchs eine Zusammengehörigkeit zum Verlag, lange bevor ich in den Verlag kam. Wir führten viele Gespräche über seinen Verlag, über anstehende Entscheidungen, bei denen er sich beraten lassen wollte, selbst über Personalentscheidungen sprach er mit mir. Vielleicht war es der Umstand, dass ich mit dem Verlag verbunden, aber kein Autor des Verlages war, der ihn bewog, mit mir darüber zu sprechen.
Die Zeiten wechselten, die Umstände wurden umständlicher, und schließlich waren es zwei Damen, die Nägel mit Köpfen machten und damit die Werbung beendeten, seine und meine Frau. Vielleicht verstörte es die beiden Damen, dass ein Mann derart umworben wurde.
2.
Als meine Frau starb, war Siegfried sehr krank, und es kostete mich viel Mühe, ihn davon abzuhalten, auf einem eisigen Berliner Friedhof von seiner Freundin Christiane Abschied zu nehmen. Ich beschwor ihn, nicht nach Berlin zu kommen, und sagte, ich würde stattdessen nach Frankfurt reisen, und wir würden gemeinsam mit Ulla bei einem Glas Rotwein ihrer gedenken.
Was ich nicht wusste, was wir alle damals noch nicht wussten, Siegfried war nicht nur krank, sondern sterbenskrank und würde Christiane bald folgen.
In der schmalen und sehr kurzen Liste meiner Verdienste, steht diese Leistung - dass es mir schweren Herzens gelang, Siegfried davon abzuhalten, todkrank auf einen winterkalten Friedhof zu gehen - sehr weit oben.
3.
In den Berichten der Überlebenden der deutschen Vernichtungslager, der KZs, las ich immer wieder von der Scham überlebt zu haben. Die Überlebenden schämen sich vor den Toten ihres Überlebens. Eine irrationale Schuld, gewiss, die dadurch aber für sie nicht geringer wird und nicht lösbar. Ich vermutete damals, dieses unsinnige und mich überraschende Schuldgefühl habe mit dem Vernichtungslager zu tun, mit dem Mord, mit dem Zusammenleben in einer Todesbaracke.
Sehr viel später - es brauchte Zeit und vor allem eigene Erfahrung - begriff ich, dass alle Überlebenden Schuldgefühle haben. Nichts, gar nichts kann mir erklären oder begründen, warum mein mir Nächster stirbt und ich überlebe. Es ist unbegreiflich und höchst ungerecht. Wir haben so vieles versäumt an diesem Nächsten, dieses Wissen und Gefühl bleibt, und es bleibt diese irrationale, untilgbare Schuld.
4.
Von den Stoikern stammt der tröstliche und äußerst logische Satz, dass uns der Tod nicht kümmern muss, denn wir haben nichts mit ihm zu tun. Wo wir sind, ist nicht der Tod, und wo der Tod ist, sind wir nicht. Für den jungen Studenten der Philosophie und Logik war es ein einleuchtender Satz. Aber selbst seine geringe Lebenserfahrung hinderte den jungen Mann daran, aus diesem Satz und der von ihm wahrgenommenen Trauer der Hinterbliebenen zu schlussfolgern, der Welt und den Menschen fehle es allein an philosophischer Unterrichtung und logischer Schulung, um dem Tod angemessen, also stoisch, zu begegnen.
Es brauchte wiederum einige Zeit und Erfahrung, ehe ich begriff, dass es diesem weisen Satz an Weisheit mangelt. Dass der Satz wohl tröstlich ist, aber so hohl und falsch, wie es tröstliche Worte immer sind.
Wo der Tod ist, sind nicht wir, das ist gewisslich war. Aber leider ist der andere Teil des Satzes unwahr, denn wo wir sind, ist der Tod sehr wohl anwesend. Mein Leben ist nicht allein die natürliche, kreatürliche Existenz. Nicht, dass ich atme und esse, meine Bedürfnisse erfülle und für mein Leben und meine Sicherheit sorge, macht mein Leben aus; ich bin nicht allein eine bloß tierische Existenz. Mein Leben, das ist vielmehr ein Geflecht von Beziehungen mit den mir nahen Menschen. Ich bin ein Ensemble all meiner Beziehungen. Die, die ich liebe, das bin ich. Und wenn sie sterben, wenn sie mir fehlen, verliere ich einen Teil meiner Existenz, beginnt mein Sterben.
Ich sterbe sukzessiv. Wir alle sterben nach und nach, sterben mit denen, die wir lieben. Vielleicht betrauern wir uns selbst, wenn wir um einen uns nahen Menschen klagen. Wir sind verzweifelt, weil unser eigenes Sterben begonnen hat.
5.
Zwei Wochen nach dem Tod meiner Frau, besuchte mich einer meiner Söhne und erkundigte sich, wie es mir gehe. Ich sagte zu ihm, wenn es jetzt klingeln würde und deine Mutter stünde vor der Tür, so wäre ich nicht erschrocken, ich wäre nicht verwundert oder verstört. Ich würde wohl nur - leicht vorwurfsvoll - fragen: Wo warst du denn nur? Und dann hinzufügen: Ich dachte schon, du wärst tot.
Und so ist es geblieben. Verstanden habe ich ihren Tod noch immer nicht, und mir geht es heute noch immer so wie damals.
Und das ist bei Siegfried nicht anders. Dass er seinen Verlag nicht mehr leitet, habe ich noch nicht verstanden. Und mein letzter Roman, das letzte Manuskript, es liegt schon so lange im Verlag vor, und er hat sich noch immer nicht bei mir gemeldet, obwohl er doch weiß, wie ungeduldig ich auf einen Brief von ihm warte. Wo er doch früher bereits nach wenigen Tagen sich meldete, um mir von seinem Lektüreeindruck zu berichten.
Ich hoffe noch immer, dass sein Brief bald kommt. Und ich will nicht verhehlen, dass ich etwas gekränkt bin, weil er mich diesmal warten lässt. Und genau das werde ich, wenn sein Brief endlich eintrifft, ihm auch sagen: Wieso dauerte es diesmal so lange, Siegfried? Ich dachte schon, du wärst tot.
6.
Bei meinem ersten Besuch von Goethes Wohnhaus in Weimar, bewunderte ich vor allem sein Arbeitszimmer. Ich war ein sehr junger Mann, von meiner Berufung und den künftigen Leistungen vollkommen überzeugt, wenn ich auch kaum etwas vorzuweisen hatte, das diesen Anspruch hätte belegen können, und hatte am Aufbau des Goetheschen Arbeitsplatzes ein kollegiales Interesse.
Goethes Arbeitszimmer war für mich überraschend funktional und schien mir viel moderner zu sein als das von Brecht. Eine wohl durchdachte Mischung von Schreibtischen und Stehpult, der Platz für den Mitarbeiter, der Schreibplatz für den Kopisten.
Works in progress, Goethes Arbeitszimmer war und ist für mich eine sinnlich erfahrbare Veranschaulichung dieser Haltung.
Ein paar Jahre später las ich die Zeilen von Walter Benjamin über seinen Besuch in Goethes Haus. Er beschreibt das Arbeitszimmer und die angrenzende winzige Schlafstube Goethes, an die sich seine Bibliothek schließt. Dazu notiert er den Satz: Daneben wartet sein Werk, um ihn allnächtlich von den Toten loszubitten.
Als Siegfried mir vor Jahren, bei einem meiner ersten Besuche in der Klettenbergstraße, das Suhrkamp-Archiv zeigte und die schweren Regale, eins nach dem anderen, vor mir vorbeirollen ließ, schaute er selbst voll Neugier und Verwunderung auf diese Bibliothek der Unseld-Kultur. Es war ihm Stolz anzumerken, aber auffälliger war mir, wie versonnen er diese Bibliothek großer Namen betrachtete. Alle, mit denen er Umgang pflegte, kennen diesen Blick seiner Versonnenheit, wenn er gedankenverloren eingetaucht war in die Welt des umsichtigen Verlegers und besorgten Kaufmanns oder in die Welten eines Goethe und eines Hesse. Ich denke, er wusste, dass es dieses Werk ist - seine eigenen Bücher wie die seiner Autoren, die nicht weniger seine Leistung sind -, dass diese erstaunliche Autoren-Versammlung das Werk ist, das ihn allnächtlich von den Toten losbitten wird.
Rede, gehalten in der Frankfurter Paulskirche am 8. Oktober 2003 anlässlich des Gedenkaktes zum Tod Siegfried Unselds.
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