Welcome, Polonia!

EU-Erweiterung Ein Gruß an die schlesischen Nachtigallen

Vor einigen Jahren fragte mich Richard von Weizsäcker, wann denn meiner Meinung nach die deutsche Einheit wirklich erreicht sei. Ich antwortete ihm, und er sah mich daraufhin verblüfft an. Ich konnte seinen Augen ablesen, dass er nicht allein an meinem politischen Verstand zweifelte. Ich erklärte ihm daraufhin meine Antwort mit drei Sätzen, und er brach in ein sehr heiteres Lachen aus.

Auf seine Frage, wann die Deutschen in Ost und West endlich geeint seien, sagte ich: Wenn wir Schlesien wiederhaben. Und dann erläuterte ich ihm meine Ansicht. Deutschland, sagte ich, wurde später als die anderen europäischen Staaten geeint. Erst als die deutschen Länder einen gemeinsamen äußeren Feind hatten, Frankreich, der sie im Kampf notgedrungen einigte, fanden sie zu der nationalen Einheit. Offenbar benötigten die Deutschen einen sie einigenden Gegner. Das Saarland, fuhr ich fort, wurde erst ein Jahrzehnt nach Kriegsende ein westdeutsches Bundesland, und in den folgenden Jahren und Jahrzehnten missbilligten die Westdeutschen dieses neu dazugekommene Land mit der etwas anderen Geschichte, der etwas anderen Kultur und Lebensart. Was das uns alles kostet, wehklagten die Deutschen, warum sollen wir für die bezahlen, uns ging es früher auch nicht besser, die sollten erst einmal arbeiten lernen.

Erst mit dem Fall der Mauer und dem Beitritt der ostdeutschen Länder in den bundesrepublikanischen Länderbund war die vollständige Vereinigung mit dem Saarland erreicht. Die Saarländer gehörten nun zu den Westdeutschen und konnten mit ihnen über die Ostdeutschen in die allbekannten und weitgehend identischen Klagen ausbrechen. Wenn Schlesien wieder zu Deutschland kommen würde, dann wäre die Einheit der Ost- und Westdeutschen erreicht. Gemeinsam könnten Ost und West dann klagen: Was uns dieses Schlesien alles kostet! Wieso sollen wir für ein Land aufkommen, das gar nicht richtig zu uns gehört! Uns ging es früher auch nicht gut! Die Schlesier sollen erst einmal arbeiten lernen!

Ich bin Schlesier, ich bin "der endgültig letzte Vertreter der schlesischen Dichterschule", wie Peter Hacks mich in einer Laudatio titulierte, und ich hoffe - um des Friedens willen - dass es in Europa keine Grenzveränderungen mehr geben wird. Ich halte die im 20. Jahrhundert erfolgten Grenzveränderungen für politisch falsch und menschlich verheerend. Stalins Grenzverschiebungen in Richtung Westen vertrieben Polen und Deutsche aus angestammten Gebieten, die ihnen unvergessen bleiben, deren Verlust sie weiterhin schmerzen wird. Es sind Wunden, die nur sehr langsam vernarben, und bei Wetterumschwüngen werden sich die Narben immer wieder melden. Eine Korrektur aber würde das Unrecht nicht aus der Welt schaffen, sondern neues Unheil heraufbeschwören.

Mit dieser Ansicht stehe ich nicht allein in Deutschland, möglicherweise aber bei einer Minderheit. In den schlesischen Bergen, las ich kürzlich in einem neu erschienenen Erinnerungsbuch, können die fremden Lieder kein Echo finden, denn in Schlesien singen die Nachtigallen noch heute deutsch. Dazu würde ein Berliner wohl nur den - unübersetzbaren - Satz sagen: Nachtigall, ick hör dir trapsen.

In einem Gespräch über die Folgen der Globalisierung bat mich ein Mann der Wirtschaft, der früher einmal ein Ministerpräsident war, um Auskunft, was einen deutschen Unternehmer bewegen soll, in Deutschland zu produzieren, wo der Arbeitslohn, nicht gerechnet die Lohnnebenkosten, mit 17 Mark zu Buche schlägt, wenn der Lohn für eine Arbeitsstunde in Warschau fünf Mark beträgt, in Moskau vier Mark und in Hanoi zwölf Pfennige? Und nur wir Westeuropäer, fügte er hinzu, zahlen in Vietnam zwölf Pfennige, die einheimischen Unternehmer zahlen nur elf Pfennige. Ich konnte ihm nicht antworten, weiß ich doch, dass man in Hanoi ebenso gut Textilien herzustellen vermag wie in Deutschland und dass die chinesischen und indischen Computerfreaks gewiss nicht weniger begabt und schnell sind als die deutschen.

Ein westdeutscher Freund, der nach dem Wendejahr 1989 ein Jahrzehnt in einem ostdeutschen Bundesland als Minister gearbeitet hatte, sagte mir in einem Gespräch über die Aussichten und Zukunftschancen Ostdeutschlands: In fünfzig Jahren ist ganz Ostdeutschland ein einziger Naturschutzpark. Der Weg dorthin, erwiderte ich, könnte uns sehr teuer werden. Er könnte uns alles kosten. Ja, sagte er hilflos.

Im Jahr 1990 wurde ich gefragt, wie lange es dauern würde, bis die Menschen der beiden deutschen Länder zueinander gefunden hätten. Ich sagte, es würde vierzig Jahre dauern. Über vierzig Jahre lang hätten sich die beiden Landesteile allmählich voneinander entfernt, die Bürger in beiden Landesteilen hätten eine - anfänglich kaum merkbare, doch mit den Jahren wachsende - unterschiedliche Sozialisierung erfahren, die sie nachhaltig prägte. So langsam, wie die Unterschiede wuchsen, werden sie wieder verschwinden oder nivelliert. Die Presse reagierte unisono ablehnend auf mein Wort. Das Freundlichste, was ich zu hören bekam, war, ich sei ein verblendeter Pessimist. Falls sich heute die deutsche Presse an meine Worte erinnern sollte, würde es wohl heißen: Hein sei ein politischer Traumtänzer und ein unverbesserlicher Optimist, da er glaubt, dass schon in vierzig Jahren die Trennung endgültig überwunden sei.

Es gibt ein Temperaturgefälle in Europa. Dieses Gefälle verläuft nicht von einer Himmelsrichtung zur anderen, sondern von der Peripherie zum Zentrum. In Finnland, Polen, Russland, Süditalien und Portugal ist der Temperaturgrad der Empathie, der Menschlichkeit, der Solidarität und der Lebensfreude sehr viel höher als im europäischen Zentrum. Zur Mitte hin wird alles kühler, kälter und sehr viel effektiver.

Eine Volkswirtschaft und die zwischenmenschlichen Beziehungen in ganz Europa effektiv zu gestalten, ist nicht nur das Ziel der Europäischen Union und der Weltbank. Auch die Peripherie will ins Zentrum gelangen. Sie besitzt dazu jedes Recht, sie hat einen Anspruch auf den europäischen Wohlstand, den ihr keiner versagen will und kann. Die dabei entstehenden Verluste sind buchhalterisch zu vernachlässigende Größen.

Diejenigen Freunde, die längere Zeit in einem der peripher liegenden europäischen Länder gearbeitet hatten, klagten nach ihrer Rückkehr ausnahmslos über die vergleichsweise frostigen zwischenmenschlichen Beziehungen in Deutschland. Zwei Bekannte, die sehr lange in den menschlich freundlicheren Randgebieten gelebt hatten, kamen nach ihrer Heimkehr mit dieser deutschen Kälte nicht mehr zurecht und wurden Alkoholiker. Ostdeutschland, die neuen deutschen Bundesländer, sind die Armengebiete Deutschlands. Das Land Mecklenburg-Vorpommern ist wohl das ärmste von ihnen. In der Stadt Anklam beträgt die Arbeitslosigkeit fünfzig Prozent. Die Zeit bemerkte dazu: "Es ist eine Geschichte, in der die Verlierer aus dem Osten kommen, aber die Niederlage eine des Westens ist."

Die jungen Leute verlassen die ostdeutschen Bundesländer und ziehen in die westlichen Landesteile oder gehen ins Ausland. Die Landesregierung in Schwerin unterstützte jeden, der wegzugehen bereit war, mit einer größeren Geldsumme als Startkapital. Das Land verkauft seine Landeskinder nicht, wie es früher deutsche Fürsten taten, es bittet sie, das Land zu verlassen, da es nichts für sie tun kann.

Die Zahl derjenigen, die über die nicht mehr vorhandene innerdeutsche Grenze gehen, um im Westen ihr Glück zu suchen, nähert sich Jahr für Jahr den Flüchtlingszahlen, die vor 1961 die DDR in Richtung Bundesrepublik verließen. Die DDR-Regierung baute in ihrer Unfähigkeit und Hilflosigkeit eine Mauer auf, um damit das Problem zu lösen oder doch einzufrieren. Solche menschenfeindlichen und völkerrechtswidrigen Maßnahmen sind in einer Demokratie nicht zu befürchten. Da aber keine Produktion aufgebaut wird und keine Arbeitsplätze entstehen - denn ein Stundenlohn von sechs Cent wird nicht nur von den Gewerkschaften abgelehnt, und selbst eine, von der Wirtschaft schwer zu verkraftende Lohnsteigerung von hundert Prozent auf zwölf Cent lässt keine Aussicht auf Besserung der Zustände zu - kann die Regierung nichts tun, außer tatenlos zuzusehen, den Mangel zu verwalten und statistisch zu erfassen.

Und was wird aus diesen Ländern werden? Ein Armenhaus. Ein Altenhaus. Und vielleicht ein riesiges Naturschutzgebiet mit Fun-Center, Wellness-Bereichen, einem Walt-Disney-Garten und einem Jurassic-Park. Wovon können junge Menschen noch träumen, die in diesen armen Ländern aufwachsen? Nicht von einer Arbeit oder gar von einem Traumberuf, nicht von einer glücklichen Familie, nicht von einem zu erarbeitenden Wohlstand. Sie können nicht einmal davon träumen, irgendwann in ihrem Leben in die Lage zu kommen, für sich selbst zu sorgen, um nicht mehr von der Sozial- und Armenhilfe ihrer Kommune abhängig zu sein. In diesen deutschen Ländern hat es den Anschein, als seien es allein Gewaltfantasien, die in den Träumen der jungen Menschen einen Platz finden, sich in ihnen einnisten. Die Politiker und Journalisten wirken besorgt, wenn sie über diese deutschen Regionen sprechen. Sie sind besorgt, weil sie zwar noch davon sprechen, dass Mecklenburg und Anklam die Schlusslichter in Deutschland seien, aber bereits ahnen, dass dieses Bundesland und diese deutsche Stadt die Avantgarde in Deutschland darstellen und unsere Zukunft sind.

Am Computer würde man in einer solchen Situation die Erase-all-Taste drücken. Wenn zwei Generationen in Deutschland, die momentan ohnehin keiner braucht, einfach verschwinden würden, es wäre volkswirtschaftlich zu begrüßen und durchaus sinnvoll. Oder wie heute in Deutschland die Politiker und Journalisten in ihrem unbeholfenen und schlechten Neudeutsch, dem sogenannten Denglisch, sagen: es macht Sinn.

Es gibt in Deutschland ein weit verbreitetes Unbehagen an der sogenannten Ost-Erweitung der Europäischen Union. Man weiß, dass diese Länder zu Europa gehören und einen berechtigten Anspruch auf Aufnahme haben, aber man befürchtet, teilen zu müssen. Ganz so, als hätten die Deutschen Bertolt Brecht gelesen: Die Esser sind vollständig, was hier gebraucht wird, ist Hackfleisch.

"Ökonomisch war die deutsche Wiedervereinigung nicht nur ein schlechtes Geschäft, sie war ein Desaster", vermeldete soeben der Spiegel. In zehn Jahren wird die Zeitung die so genannte Ost-Erweiterung der EU als ein ebensolches oder größeres Desaster für Westeuropa ansehen, also als ein Missgeschick, ein Unheil, eine Katastrophe, einen Zusammenbruch. Das westdeutsche und das westeuropäische Problem liegen in dem Umstand begründet, dass man vor dem Jahr 1989 nichts vermisst hatte. Westdeutschland begriff sich als das vollständige Deutschland; einige einst dazugehörige Teile des Landes waren in den Nachkriegswirren verloren gegangen, aber damit hatte man sich längst abgefunden. Und Westeuropa verstand sich als das gesamte Europa, verbunden in der europäischen Union und trotzend dem asiatischen Kontinent, der hinter der Elbe begann.

Doch weder die Ostdeutschen noch die Osteuropäer müssen sich Schuldgefühlen hingeben, denn auch dies ist eine Geschichte, in der die Verlierer aus dem Osten kommen, aber die Niederlage eine des Westens ist. Um zu dem Urteil eines Desasters zu gelangen, bedarf es eines kurzen Gedächtnisses, eines geschichtslosen Blicks und einer manipulierenden Sprachregelung. Bereits die so genannte Ost-Erweiterung, wie die Aufnahme Osteuropas in die EU vom Westen gekennzeichnet wird, ist geschichtlicher und sprachlogischer Unsinn, denn Europa wird nicht erweitert, man hat lediglich zu akzeptieren, dass es hinter der Elbe und der Oder europäische Länder gibt, die man bislang übersehen hatte.

Die entstandenen und entstehenden ökonomischen Probleme sind nicht das Desaster, sie sind vielmehr die Folgen jenes Desasters, welches Europa trennte. Sie sind die Folgen des Ersten und vor allem des Zweiten Weltkriegs, die beide nicht von Osteuropa ausgelöst wurden. Der faschistische Krieg trennte Europa für Jahrzehnte und erbrachte unterschiedliche Entwicklungen in Ost- und Westeuropa. Zwei inkompatible Systeme zu vereinen, verursacht erhebliche Kosten. Aber wenn der Verursacher über diese Folgen klagt und über sein Missgeschick und Unheil lamentiert, erinnert er an den Elternmörder, der für sich das Mitleid um ein armes Waisenkind einfordert.

Die Teilung Deutschlands war eine Folge des Zweiten Weltkriegs, und sie wurde durch einen westdeutschen Kanzler um Jahrzehnte verlängert. Denn als es Stalin zu dämmern begann, dass diese Aufteilung nicht langfristig zu halten sei und sein eigenes Imperium gefährde, machte er - durchaus eigennützig - den Vorschlag, Deutschland um den Preis der Neutralität wieder zu vereinen. Churchill unterbreitete einen gleichen Vorschlag, doch Adenauer, für den hinter der Elbe bereits Sibirien begann, lehnte diese beiden Angebote ab. "Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb", war seine Antwort, und so hielt die Teilung des Landes weitere vierzig Jahre an.

Die enormen Kosten, die nun Deutschland belasten, sind eine direkte Folge von Adenauers Entscheidung. Diese Kosten, durch eine kurzsichtige Politik und einen Kanzler entstanden, der wohl eher ein Regionalpolitiker war, werden durch eine Steuer eingetrieben, die den seltsamen Namen "Solidaritätssteuer" erhielt. Solidarität ist ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das gelegentlich mit einer freiwilligen Unterstützung verbunden sein kann. Eine Steuer hingegen ist eine staatliche Zwangsmaßnahme. Solidarität und Steuer in einem Wort zusammenzuführen, ist sprachlogischer Unsinn. Wenn es in Deutschland noch Richter gibt, die ein Bewusstsein von Sprache haben, so müsste eine jede Klage gegen diese Steuer Erfolg haben.

Absurd ist, dass auch die Ostdeutschen diese Steuer zu zahlen haben, also gezwungen werden, Solidarität mit sich selbst aufzubringen. So viel Unsinn, nur um den korrekten Namen "Adenauersteuer" zu umgehen. Aber auch das hat Tradition in Deutschland. Im Ersten Weltkrieg wurde eine Steuer eingeführt, um Panzerkreuzer bauen zu können. Diese Steuer bekam den possierlichen Namen "Sektsteuer".

So verschieden auch die Deutschen und die Polen sind, es gibt sie einigende Interessen. Nach dem Beitritt Polens werden, dessen bin ich gewiss, die Polen gemeinsam mit den Deutschen versuchen, weitere Esser vom Tisch fernzuhalten.

In Deutschland gibt es neuerdings eine fremdenfeindliche Partei, die einen Türken als Spitzenkandidaten hat. Er wirbt um die Wähler mit den Worten: Jetzt muss Schluss sein mit den Einwanderungen. Alle Türken, die in Deutschland sind, sollen bleiben, aber es dürfen nicht noch mehr einwandern, sonst wird das Land überfremdet und verarmt.

Unsere Menschlichkeit und unsere Sonntagsreligionen sagen: Keiner oder alle. Der Kassensturz jedoch ergab die Bilanz: Für alle reichts nicht. Welcome, Polonia! And God bless you!

Christoph Heins Brief erscheint gleichzeitig in der polnischen Wochenzeitung Polityka.


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