„Mit Material von dpa“

Silvesternacht Der Journalismus sollte sich an seine Kardinaltugenden erinnern. Über Köln II und das Versagen der Massenmedien
Ausgabe 01/2017
In diesem Jahr steht vor allem das Verhalten der Polizei zur Diskussion
In diesem Jahr steht vor allem das Verhalten der Polizei zur Diskussion

Foto: Maja Hitji/Getty Images

Die Ereignisse der Kölner Silvesternacht geben auch in ihrer zweiten Auflage zu denken. Für das Ergebnis muss man dankbar sein, aber auch dieses Jahr gibt es Kritik: Das Vorgehen der Polizei sei racial profiling gewesen, die Polizei habe anreisende junge Männer nordafrikanischer Herkunft aussortiert und anders behandelt als andere. Die Polizei hingegen spricht von Gefährdergruppen, die erkennbar gewaltbereit gewesen seien. Der Vorwurf, eine Diskriminierung allein aufgrund der Herkunft, ist trotz des im Verhältnis zu sonstigen polizeilichen Standardmaßnahmen eher geringen Eingriffsniveaus schwer: Wenn es nicht nur Einlasskontrollen gab, sondern auch Festsetzungen, handelt es sich um Freiheitsberaubungen unter Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 3 GG. Was also genau war den Personen vorzuwerfen, die aussahen wie solche aus Nordafrika?

Bürger, die dieser Sache auf den Grund gehen wollen, sind auf Massenmedien angewiesen. Doch was diese verbreiten, gibt kein stimmiges Bild: Von Einlasskontrollen, Platzverweisungen, Festsetzungen, Einkesselungen ist die Rede. Angetrunken seien die Nordafrikaner gewesen, sagt ein Kommentator, andere sahen „Gewaltbereitschaft“ (eine Verhaltensprognose, kein Faktum), Dritte wollen außer Äußerlichkeiten nichts gesehen haben. Fotos zeigen auch andere Personen eingekesselt. Es bleibt im Vagen, wo und wie sich Gruppen zuvor in sozialen Netzwerken verabredet haben sollen. War das Auswahlkriterium also Hautfarbe oder Ethnie oder geografische Herkunft oder nur eines oder beides nebst Geschlecht und Alter? Oder kamen zu diesen eher statischen Eigenschaften auch Verhaltensmerkmale in der konkreten Situation hinzu? Offenkundig gelangen wir an Erkenntnisgrenzen, denn wir müssen – nicht anders als die Polizei – eine Verhaltensprognose machen, für die wir keine belastbare Grundlage haben.

Unbefriedigend ist dabei, dass wir der Intuition keinen Lauf lassen dürfen, denn dass ein äußerlich gleichartiger Personenkreis im Vorjahr kriminell war, erhöht zwar die statistische Wahrscheinlichkeit von Taten, diese Ähnlichkeit ist jedoch blanke Diskriminierung von Phänotypen. Das „Es sind wieder die vom Vorjahr“ ist uns nur erlaubt, wenn es dieselben „die“ sind und nicht die einer Gruppe. Ein und dieselbe Auswahl konkreter Personen (etwa 900 junge Männer aus Nordafrika) kann also sowohl rechtmäßig als auch rechtswidrig sein, und dies hängt allein von Auswahlkriterien und Sachverhalten ab. Nur Logikern bereitet dies kein Kopfzerbrechen.

Warum aber berichten Massenmedien ganz überwiegend nur „mit Material von dpa“, und warum ist fast nichts außer Koloratur über den Abend vor Ort bekannt? Es wäre ein Leichtes gewesen, durch Nachfragen und Interviews für die Öffentlichkeit zu recherchieren, welche Geschichte die Nordafrikaner erzählen, und sich ein Bild von den Gruppen zu machen. Woher kommen sie? Waren sie schon im Vorjahr da? Wie haben sie sich verabredet? Was führt sie an den Ort? Wie wirken sie? Was ist ihre Intention? Und wie nahmen andere die Situation wahr, etwa Frauen?

Racial profiling ist abzulehnen, weil es nach äußerlichen, abstrakten Kriterien erfolgt. Gegen diese gefährliche Verallgemeinerung hilft nur die Aufklärung des Konkreten. Journalisten müssen dabei nicht zum Ermittler werden – aber präzise die Fakten sammeln, mit allen erlaubten Mitteln, bevor andere die Narrative stricken.

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