Der Schock von damals

Demokratischer Sozialismus Erich Loests Erinnerungen an die Reformversuche 1956/57 in der DDR rechnen die "Prozesskosten" der Entstalinisierung auf

Zu den Vorgängen um die missglückte Entstalinisierung in der DDR zwischen 1956 und 1958 sind in den letzten Jahren viele Bücher erschienen. Zum einen die Erinnerungen der Betroffenen, die sich teilweise in gegenseitigen Schuldzuweisungen ergingen, zum anderen mehrere wissenschaftliche Studien, zuletzt die gründliche Arbeit von Guntolf Herzberg. Nun legt der 81-jährige Erich Loest seinen Bericht Prozesskosten vor, der sich wohltuend von den bisherigen Veröffentlichungen unterscheidet. Ihm gelingt es, die damaligen Vorgänge in Berlin, Leipzig, Halle und Jena in einer Zusammenschau darzustellen und dies sowohl aus der Perspektive des Beteiligten als auch als sachlicher Chronist. Ihm gelingt die Verbindung einer Innenperspektive der Akteure mit einer unaufgeregten, bilanzierenden Einordnung der historischen Vorgänge, wie es wohl nur die Gelassenheit, ja Weisheit des Alters mit sich bringt.

Zur Erinnerung: Nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, auf dem Chruschtschow mit den Verbrechen Stalins abrechnete, gab es in Polen, Ungarn und der DDR vielfältige Reformbemühungen, bei denen aus den Reihen der kommunistischen Parteien heraus versucht wurde, einen demokratischeren, menschlicheren Sozialismus zu installieren. In Ungarn wurde dies mit Panzern niedergewalzt, in der DDR geschah es mit der Verhaftung der Reformer und abschreckenden, durchinszenierten Schauprozessen. Dies traf in Berlin die Gruppe um den Aufbau-Verleger Walter Janka, den Philosophen Wolfgang Harich und den Chefredakteur der Kulturbund-Zeitung Sonntag Gustav Just, in Leipzig die Autoren Gerhard Zwerenz und Erich Loest sowie mehrere Slawisten der Universität.

Unabhängig voneinander wollten diese mehr Freiheit für die Wissenschaft und die Medien, mehr Selbstständigkeit für staatliche und private Betriebe, eine Annäherung an die Bundesrepublik mit dem Ziel der deutschen Einheit. Über eine reformierte SED sollte der Schulterschluss mit der westdeutschen SPD erreicht werden, um so Adenauer abzulösen.

Doch bevor aus den Gedankenexperimenten politische Taten werden konnten, zerschlug die Staatssicherheit die Diskussionszirkel und deutete sie zu Verschwörergruppen um, die den sozialistischen Staat zerschlagen wollten. Es gab Haftstrafen zwischen drei und zehn Jahren, wobei einige Reuige auf vorzeitige Entlassung hoffen konnten. Erich Loest, der nicht zu Kreuze kroch, musste von den siebeneinhalb Jahren volle sieben Jahre in Bautzen absitzen.

Ein solches Schicksal hat bei Anderen Bitterkeit bis ans Lebensende ausgelöst, Groll und Zorn haben sich tief in die Seelen eingegraben. Doch Loest hat es im hohen Alter vermocht, noch einmal ohne Hass zurückzublicken, das Geschehene nüchtern und präzise zu rekonstruieren und die Schicksale seiner Mitstreiter über die Jahrzehnte weiter zu verfolgen. Wie wurde man nach der Haftentlassung behandelt, welche Chancen bot die "durchherrschte" Gesellschaft? Selbst dort, wo später aus den Akten eine Denunziantentätigkeit für das MfS offensichtlich wurde, verfällt er nicht ins Eifern, sondern versucht zu erklären, warum es dazu gekommen sein könnte.

Man begegnet bei seinem Gang durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zugleich vielen interessanten Zeitgenossen in neuen Zusammenhängen, sei es dem heutigen Ehemann der Linken-Bundestagsabgeordneten Gesine Lötzsch und dem Slawisten Ralf Schröder, die damals mit verurteilt worden waren, oder den zahlreichen Schriftstellern und Wissenschaftlern, die in stiller Solidarität die Familien der Inhaftierten unterstützt haben. Nach der Lektüre von Prozesskosten wird verständlich, warum es 20 Jahre dauerte, bis Intellektuelle in der DDR wieder einen vernehmbaren öffentlichen Prostest wagten und wieso vielen der Schock von 1956 noch bis 1989 in den Knochen steckte.

Erich Loest: Prozesskosten. Bericht. Steidl, Göttingen 2007, 300 S., 18 EUR


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