Die Sozialisation ist schuld

Lückenhaft Ein neues Buch zum Vergleich von Ost- und Westdeutschland mit alten Thesen

Zum 15. Jahrestag der deutschen Einheit im vergangenen Herbst sind mehrere Bücher erschienen, in denen es um Ergebnisse und Irrwege des Vereinigungsprozesses ging. Autoren aus Ost und West stritten auf der Frankfurter Buchmesse darüber, es folgten Podiumsdiskussionen in dutzenden Städten, die Medien berichteten ausführlich. Immer wieder ging es darum, wieso die innere Einheit noch nicht erreicht sei, was getan werden müsse, wie lange es noch dauern würde.

Wenn nun der Münchner Beck-Verlag ein halbes Jahr später noch einen Band dazu vorlegt, erwartet man entweder Antworten auf die bisher offen gebliebenen Fragen oder eine erkennbar andere Perspektive oder doch zumindest einen neuen methodischen Ansatz. Versprochen wird gleich zu Beginn, die Gründe aufzudecken, die zur Angleichung oder zum Fortbestehen der innerdeutschen Unterschiede geführt haben. Dies soll auf "empirisch breit fundierter" Grundlage geschehen, können doch die professoralen Herausgeber und ihre jungen Autoren auf die Umfragedaten aus dem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft "Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wählerverhalten im vereinigten Deutschland" zurückgreifen, bei dem es Wiederholungsbefragungen mit ein und denselben Personen in den Jahren 1994, 1998 und 2002 gegeben hat. Doch statt dessen werden in den Einzelbeiträgen die soziologischen Ergebnisse referiert, die man zumeist schon aus den Allensbach-Jahrbüchern oder der Nomos-Publikation der gleichen Herausgeber vom Vorjahr kennt und die Wolfgang Herles in seinem polemischen Band Wir sind kein Volk besonders zugespitzt präsentiert hat.

Genau wie der ZDF-Kulturchef stützen sich nun auch die westdeutschen Wissenschaftler (es ist nicht ein einziger Forscher aus dem Osten vertreten) mehrheitlich auf die Sozialisationshypothese, wonach die anhaltenden Prägungen der Ostdeutschen durch die DDR verantwortlich dafür sind, dass noch so große mentale Unterschiede bestehen. Zwar spricht sich Katja Neller (Stuttgart) in ihrem Beitrag über Ost-West-Identitäten dafür aus, die Situationshypothese zu berücksichtigen, die davon ausgeht, dass die ökonomischen und sozialen Erfahrungen im Transformationsprozess nach 1990 entscheidend zur Distanz vieler Ostdeutscher zu den Werten der Bundesrepublik beigetragen haben. Doch nur im Abschlussbeitrag von Kai Arzheimer (Mainz) kommen Themen wie Dauerarbeitslosigkeit, schrumpfende Städte und das Verschwinden öffentlicher Einrichtungen auf dem Lande tatsächlich zur Sprache. Grundlegende Untersuchungen zur jüngeren Situation in den neuen Ländern, wie etwa Wolfgang Englers Standardwerk Die Ostdeutschen, bleiben durchgängig unberücksichtigt.

Interessantes statistisches Material in einzelnen Beiträgen, so bei Kerstin Völkl (Stuttgart) über die tendenziell sinkende Akzeptanz der bundesdeutschen Demokratie-Praxis durch Ostdeutsche zwischen 1991 und 2002 und zum markanten Vertrauenseinbruch gegenüber staatlichen Institutionen im Jahre 1993, bleibt leider ohne ernsthafte Erklärung. Dabei wäre gerade dies interessant gewesen und ist eingangs auch versprochen worden. Stattdessen liest man wieder einmal vom "relativ starken Einfluss der DDR-Nostalgie", was jedoch keineswegs belegt wird.

Hans Rattinger (Bamberg) konstatiert eine kulturelle Lücke, da "in den neuen Bundesländern ungefähr 15 Prozent weniger Bürger als im Westen einer politischen Partei zuneigen", die Parteienbindung also nicht richtig ausgebildet ist, was für ihn ein Problem darstellt. Dass eine gesunde Skepsis gegenüber Parteien und ihren politischen Versprechungen vielleicht etwas Produktives haben kann und neue Formen der Partizipation sinnvoll sein könnten, wird dabei nicht in Betracht gezogen.

Oscar Gabriel (Stuttgart) beklagt die um ein Drittel niedrigeren politischen Aktivitäten der Ostdeutschen, obwohl die Bereitschaft dazu in Ost und West laut seinen eigenen Umfragedaten aber eigentlich gleich ist. Als Begründung müssen erneut "die kulturelle Hinterlassenschaft des SED-Regimes" und die DDR-Sozialisation samt Nostalgie-Effekt herhalten. Dass dies etwas mit erlebter politischer Praxis zu tun haben könnte, wenn etwa die Spitzenpositionen der Ost-Berliner Wahlkreise bei einigen Parteien überwiegend mit West-Politikern besetzt werden, kommt nicht zur Sprache. Auch die anhaltende Unterrepräsentanz von Ostdeutschen in politischen Entscheidungsgremien wird nicht thematisiert (worüber selbst zeitweilige Ausnahmen in Einzelfällen nicht hinwegtäuschen können).

Harald Schoen (Mainz) und Roland Abold (Bamberg) nehmen den schwer kalkulierbaren ostdeutschen Wechselwähler zum Anlass, um über "Änderungen in Richtung eines Mehrheitswahlsystems" nachzudenken - statt in diesem Verhalten einen Impuls für mehr Glaubwürdigkeit bei den Wahlaussagen zu sehen, da es nicht mehr um parteipolitische Bindungen über Generationen geht, sondern um Überzeugung durch jeweils vorgelegte Konzepte. Jürgen Maier (Kaiserslautern) untersucht dann, ob Ostdeutsche für eine Personalisierung der Politik anfälliger sind als Westdeutsche, kommt nach knapp 30 Seiten aber zu dem Schluss, dass dem nicht so ist und Fernsehdebatten in einem Landesteil nicht mehr verfangen als im anderen.

Siegfried Bühler (Mainz) behandelt mit seinem Kollegen Harald Schoen die Unterschiede beim politischen Extremismus, nennt die bekannten Tatsachen (anteilig mehr rechtsextremistische Gewalttaten im Osten als im Westen), steigt dann aber nicht in die Ursachenforschung ein, die gerade hier interessant wäre, nachdem manch vulgäre Erklärungsansätze über das Land gerollt sind. (Man denke nur an die "Töpfchen-These" des Kriminologen Christian Pfeiffer oder Jörg Schönbohms abenteuerliche Herleitung von individuellen Gewaltverbrechen aus einem allgemeinen Werteverlust durch Enteignungen in der Landwirtschaft der DDR.)

Abschließend geht Kai Arzheimer auf die Rolle der jungen Generation im Vereinigungsprozess ein und kommt dabei zu der ernüchternden Erkenntnis, dass bei den "Neunundachtzigern", also jenen, die nach der deutschen Vereinigung aufgewachsen sind, keine wirkliche Annäherung zwischen Ost und West zu verzeichnen ist, da die familiären Prägungen zu stark fortwirken. Lediglich beim Frauenbild und der Frage, ob sich Kleinkindbetreuung und Berufstätigkeit verbinden lassen, sind spürbare Angleichungen auszumachen - und zwar in Richtung der ostdeutschen Position.

Die vorhandene Disparität im Lande wird uns wohl auch in Zukunft noch kräftig beschäftigen, so dass spätestens zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit mit neuen Büchern zum Thema zu rechnen ist - dann aber bitte mit wirklich neuen Erklärungsansätzen und tiefer lotenden Begründungen.

Jürgen W. Falter, Oscar W. Gabriel, Hans Rattinger, Harald Schoen (Hrsg.): Sind wir ein Volk? Ost- und Westdeutschland im Vergleich. C.H. Beck, München 2006, 244 S., 12,90 EUR


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