Mentale Erscheinungen

Spaltung statt Ursachenforschung Der falsche Ansatz des ZDF-Kulturjournalisten Wolfgang Herles zur Erklärung der Fehler im deutschen Einigungsprozess

Es wäre ein Leichtes, auf die Polemik von Wolfgang Herles genauso polemisch zu antworten. In seinem tatsächlich als "Polemik" untertitelten Buch Wir sind kein Volk fehlt es nicht an haltlosen Überspitzungen, falschen Zahlenangaben und unbelegten Vorurteilen, die man ohne Schwierigkeiten auseinandernehmen könnte. Das ist in den öffentlichen Diskussionen, die der Münchner Piper Verlag derzeit landauf, landab organisiert, auch schon mehrfach geschehen, und manch Kritiker hat ihm inzwischen die Leviten gelesen. Doch das Problem liegt tiefer. Es geht um den Zugang zur jüngsten deutschen Geschichte, um die Interpretation der Fehlentwicklungen im Prozess der deutschen Einheit.

Herles verfolgt zunächst die durchaus begrüßenswerte Absicht, mit der Schönfärberei der letzten 15 Jahre Schluss zu machen und die Fehler der Einheit beim Namen zu nennen. Er will die "Lebenslügen, Selbsttäuschungen und Tabus der ganzen Nation" attackieren und aufzeigen, warum wir derart in die "Misere" geraten sind, verbunden mit dem hehren Ziel, "ein vom Vereinigen ramponiertes Land wieder in Ordnung zu bringen". Doch statt nach den wirklichen Ursachen zu forschen, die bekanntlich im gesellschaftlichen Sein, also in den wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, aufzufinden wären, konzentriert er sich ganz auf das Bewusstsein und hier speziell auf die unterschiedlichen Mentalitäten in Ost und West, an denen er möglichst alles festmachen möchte.

Sein eigentlicher Feind ist dabei das "DDR-nostalgische Milieu", dem er sein erstes Kapitel widmet. Gegründet auf wenige Meinungsumfragen aus dem Allensbacher Jahrbuch von 2002 kommt er zu der kühnen These, dass ein beträchtlicher Teil der Ostdeutschen noch immer völlig anders ticke, nämlich "kollektivistisch", und deren leistungsunwillige, auf Versorgung ausgerichtete Jammermentalität das eigentliche Problem darstelle. Da wird beispielsweise ohne jeden Beleg unterstellt, dass die Superillu- und Privatfernseh-verblödeten "Ossis nicht so viel lesen", obwohl alle Untersuchungen der Mainzer "Stiftung Lesen" belegen, dass im Osten nach wie vor mehr Zeit fürs Bücherlesen aufgewendet wird als im Westen. Im östlichen Landstrich sieht Herles vornehmlich "resignierte Wendeverlierer", allen voran die Frauen, die "als mündige Bürger untauglich" sind.

Nachdem sich Herles über einige "Helden der Einheit" wie Stolpe, Thierse, Gysi und Merkel lustig gemacht hat, kommt er dann unter der Überschrift "Neid regiert das Land" zu den "drei Kardinalfehlern der Einheit". Die sieht er in der frühen Währungsunion zum Kurs von 1:1, in der schnellen Angleichung der Einkommen und in der Übernahme der Sozialsysteme. Dabei erklärt er die "Erhöhung der Lohnkosten" zur "zentralen Ursache der ostdeutschen Probleme" und die Sozialunion für "eine wesentliche Ursache für die Krise der Sozialsysteme" heute.

Weitgehend ausgeblendet werden dabei die eigentlichen wirtschaftlichen Ursachen und die zentralen Fehler des Einigungsprozesses, die zu einer so großen Desillusionierung bei der ostdeutschen Bevölkerung geführt haben. Die liegen nämlich in der Deindustrialisierung der Region, im Verlust von 80 Prozent der Wirtschaftskapazitäten und in der Behinderung eines eigenständigen Mittelstandes. Der Osten ist als Absatzgebiet für Westwaren betrachtet worden. Helmut Kohl hat es jetzt bei seinem Wahlkampfauftritt in Strausberg erstmalig auch zugegeben, da er die Schuld daran, dass es noch immer keine "blühenden Landschaften" gibt, nicht allein auf sich sitzen lassen will: "Es gab auch im Westen in führenden Industriepositionen Leute, die kein Interesse daran hatten, dass sich die Betriebe in der DDR entwickelten." Nicht ohne Grund hat sich damals das Kanzleramt geweigert, die ostdeutsche Wirtschaft zur Chefsache zu machen und die Kontrolle der Treuhandanstalt der DDR-Staatsbetriebe zu übernehmen. Auch das Bonner Wirtschaftsministerium lehnte eine Zuständigkeit für die ostdeutsche Wirtschaft ab, so dass die ehemals "volkseigenen" Betriebe schließlich komplett beim Finanzministerium zur schnellen finanziellen Verwertung landeten. Was sich nicht verkaufen ließ, wurde geschlossen.

Hinzu kam auf Druck der FDP die Klausel "Rückgabe vor Entschädigung" in den Einigungsvertrag, so dass die Grundstücke und Häuser mehrheitlich zu den Erben in den Westen flossen. Dies wiederum hatte zur Konsequenz, dass viele neu gegründete Betriebe nach der ersten Existenzgründerfinanzierung keine weiteren Kredite mehr bekamen, da sie ja keine immobilen Sicherheiten vorweisen konnten. Heute gehören noch ganze fünf Prozent des produktiven Kapitals in Ostdeutschland Ostdeutschen. Wen wundert es da, dass es keinen "selbsttragenden Aufschwung" gibt, denn von den riesige Transfersummen gen Osten fließen auf diese Weise 70 Prozent zurück zu den Mutterfirmen im Westen.

All diese Informationen sucht man bei Herles vergeblich. Dafür ist viel vom Hang zu Gleichmacherei und Zentralismus zu lesen. Statt zu den eigentlichen Knackpunkten vorzustoßen, verbleibt der Kulturjournalist auf der Ebene der mentalen Erscheinungen. So lässt sich die Schuld an der Misere neben den übereifrigen Bonner Patrioten unterschwellig den Ostdeutschen selbst zuschieben, auch wenn man in der Einleitung das Gegenteil behauptet. Völlig logisch dann, dass Herles am Ende des Buches verkündet, die "Vollendung der Einheit ist ein gefährliches Hirngespinst".

Die unverkennbaren Unterschiede zwischen Ost und West werden auf diese Weise nicht produktiv gemacht, sondern hier wird die Spaltung des Landes auf Kosten der einen Seite betrieben. Dass man damit im Westen punkten kann, liegt auf der Hand, denn nun gibt es für den erheblichen Reformstau der alten Bundesrepublik, für den schmerzvollen Abschied von liebgewordenen Besitzständen einen klaren Schuldigen: Die Reformierbarkeit der heutigen Bundesrepublik nach marktwirtschaftlichen Vorstellungen kommt nicht so richtig voran, da die Mentalität des Ostens dies behindert, von der das Land insgesamt hinabgezogen werde.

Solche Fehleinschätzungen hört man an Rhein und Isar offenbar gern, denn das Buch ist in wenigen Wochen auf Platz neun der Bestsellerliste empor geschnellt. Wieder "in Ordnung bringen" kann man das Land damit aber keineswegs.

Wolfgang Herles: Wir sind kein Volk. Eine Polemik. Piper, München 2004, 240 S., 12,90 EUR


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