Zwischen allen Stühlen

Anders-Sein in Ost und West Der "Unruhestifter" Fritz J. Raddatz, Schriftsteller und Feuilletonist, legt seine Memoiren vor

Seit Monaten trommelte der Propyläen-Verlag (der lange zum Axel-Springer-Konzern gehörte und nun mit ungewisser Zukunft bei Bertelsmann gelandet ist) für die Lebenserinnerungen des Publizisten Fritz J. Raddatz. Vorab erschienen mehrseitige Anzeigen in den Branchenblättern, man lockte in reichlich verschickten Presse-Informationen mit "pikanten Zitaten aus den bisher unveröffentlichten Tagebüchern" und mit aufwertenden, zum Teil falschen Angaben zu seiner Biographie. Den Literaturredaktionen, die Umbruchfahnen zur Rezension bestellten, wurde eine Strafe von 20.000 Euro angedroht, falls vor dem 15. September ein Wort über das geheimnisumwitterte Werk in die Öffentlichkeit gelange. Der Verlag wollte offensichtlich einen teueren Vorabdruck verkaufen und dann auf einer großen Pressekonferenz am 17. September im noblen Hotel Vier Jahreszeiten in Berlin die "lang erwarteten Memoiren" in der "Tradition von Rousseau und Sartre" medienträchtig vorstellen.

Doch beides ging nicht so recht auf. Lediglich Springers Welt druckte am 13. September einen kleinen Auszug, und die pompöse Hotel-Präsentation war nach wenigen Minuten wieder zu Ende, da es nicht mehr als drei Fragen gab. Die Feuilleton-Kollegen weigerten sich ganz offensichtlich, Statistenrollen in dieser durchsichtigen Inszenierung zu übernehmen. Verstört hatte zudem Frank Schirrmacher von der FAZ, der seine Einführung dazu nutzte, den beleidigten Großkritiker Marcel Reich-Ranicki ins Spiel zu bringen und laut zu beklagen, dass er im 496 Seiten starken Werk nur ein einziges Mal vorkomme und dann noch nicht mal ins Personenregister aufgenommen worden sei.

Ungewollt passte alles wunderbar, denn genau davon handelt Raddatz´ Buch: Von den großen und kleinen Eitelkeiten dieser Welt, von den Selbstinszenierungen der Autoren, Verleger und Kritiker, von den Tratschgeschichten zwischen Bett und Büro. Das 72 Jahre lange Leben des Fritz J. Raddatz liefert dafür reichlich Stoff, zumal wenn das Intimste über Jahrzehnte in Tagebüchern und Briefen festgehalten wurde, was sich dann geschickt zu einer Collage zusammensetzen lässt.

So begleitet man den Westberliner Oberschüler, der in der Abiturprüfung mit seinem Thomas-Mann-Briefwechsel prahlte, 1949 bei seinem Wechsel nach Ostberlin, wohin er nach dem Tod des Vaters zu seinem Vormund zog, einem "Pfaffen", in dessen Bett er sich alsbald wiederfindet. Pfarrer Hans-Joachim Mund betreut, mit Polizeidienstgrad versehen, als Seelsorger die DDR-Haftanstalten (nicht ganz so einflussreich, wie Raddatz glauben machen möchte, aber doch als eine Art "Gott in Bautzen"). Nach einem missglückten Zwischenspiel im FDJ-Verlag Neues Leben kommt Raddatz zu Volk und Welt, wo er 1952 die Auslandsabteilung übernimmt und 1953 mit 22 Jahren stellvertretender Cheflektor wird. Prägende Begegnungen mit Autoren der Weltliteratur folgen in den Jahren danach. Als 1956/57 die Entstalinisierung der DDR misslingt und sein vermeintlicher Reform-Mitstreiter Wolfgang Harich ihn bei der Stasi anschwärzt, entschließt er sich 1958 zum Wechsel in den Westen. Hier fühlt er sich erst einmal "heimatlos, herrenlos und klassenlos", gelangt über ein Gastspiel beim Kindler-Verlag aber schnell zu Rowohlt, wo er 1960 Stellvertreter des Verlagsleiters wird.

Die Jahre bis zu seinem Rauswurf 1969 sind dann wohl die wichtigsten seines Lebens, sie bilden auch im Buch den interessantesten Teil. Er beschreibt den legendären Bohemien-Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt als liebenswerten "dünnhäutigen Elefanten", der alles für seine Autoren tat, sie sogar ins Bordell mitnahm (leider den schwulen Baldwin zu den Damen in der Herbertstraße), und mit dem er zusammen die rororo-aktuell-Reihe auf den Weg brachte. Doch der "Paradiesvogel" Raddatz wird trotz aller Erfolge wegen seiner "Schnippischkeit" und dem zur Schau gestellten Anders-Sein - er lebt abwechselnd mit Frauen und Männern zusammen - nicht von allen Kollegen gemocht. Fehlte ihm in der DDR die "Parteibindung", so ist es jetzt die "Spitzengruppenbindung". Nach einer von Raddatz gebilligten, aber dann misslungenen Ballonaktion, mit der Flugschriften in die DDR gebracht werden sollten, organisieren seine Widersacher den Abgang. Fazit: "Der Unterschied beider Systeme ist einfach zu fassen: Im Osten wird man verhaftet, im Westen fliegt man raus."

Es folgt eine Zeit als freier Autor, mit Kontakten zum Spiegel, dessen Herausgeber Rudolf Augstein er als hämisch und zänkisch beschreibt, mit dem gescheiterten Versuch, nach der wissenschaftlichen Habilitation ein eigenes Forschungsinstitut auf die Beine zu stellen - und immer wieder mit mondänen Abenden, egal ob bei der reichsten Frau der Welt, Ann Getty in New York, bei seinem "unerbittlichen Freund" Günter Grass in Berlin oder beim Malerfürsten Wunderlich auf Sylt.

Aus jener Phase relativer Distanz zum institutionalisierten Medienbetrieb stammen Raddatz´ nachdenkliche Überlegungen zum Dasein der Journalisten, denen er - sich eingeschlossen - eine ungeheuerliche Selbstüberschätzung bei gleichzeitig geringem Selbstwertgefühl bescheinigt. Vehement plädiert er dafür, die historisch gewachsene Rangfolge nicht auf den Kopf zu stellen. Das Primäre sei der Autor, der künstlerische Schöpfer, das Sekundäre der literarische Geburtshelfer, also der Lektor, Übersetzer, Verleger, und das Tertiäre dann der mediale Vermittler, der Journalist und Kritiker.

Ganz so nachgeordnet scheinen dann aber die Jahre ab 1975 als Zeit-Feuilleton-Chef mit Porsche und Jet-Set rund um den Globus doch nicht verlaufen zu sein, wie die folgenden 50 Seiten des Buches belegen, die bereits Anlass für öffentliche Auseinandersetzungen in der Hamburger Wochenzeitung waren. Raddatz lässt wenig Gutes an dem unterkühlten Einerseits-Andererseits-Journalismus der Hanseaten, die nach seiner Meinung Engagement und Temperament für eine "geistige Geschlechtskrankheit" halten. Er fühlt sich dort fremd, erlebt Konkurrenzneid und Wichtigtuerei, aber kaum Selbstironie. Ab 1983 bescheinigt er sich rückwirkend "Materialermüdung" und "Vernutzung an fremden Texten", so dass der abermalige Rauswurf - diesmal für den historischen Irrtum, dass Goethe schon mit der Eisenbahn unterwegs gewesen sein könnte - fast wie eine Erlösung erscheint. Er redet die "törichte Blamage" nicht klein, spricht von "hochfliegendem Scheitern" und geht mit sich selbst genauso schonungslos um wie mit den meisten anderen, dabei zuweilen sogar ein wenig exhibitionistisch.

Getreu seinem Motto "Wer keinen Anstoß erregt, gibt auch keine Anstöße", porträtiert er in den Folgejahren dann als freier Autor der Zeit die großen Autoren der Gegenwart, besucht Susan Sonntag und Gabriel García Marquez. Alexander Solschenizyn und Toni Morrison. Als nach 25 Jahren 2002 sein Vertrag bei der Wochenzeitung ausläuft, gibt es nicht einmal einen Händedruck zum Abschied, wie er bitter vermerkt.

Wenn man das Buch nach knapp 500 Seiten zuschlägt, hat man manch erstauntes Kopfschütteln und fragendes Stirnrunzeln hinter sich, aber auch viele vergnügliche Stunden mit einem durchaus spritzigen Text. Ein großes Memoirenwerk, wie es seit vielen Jahren nicht mehr existierte - so die Verlagswerbung -, ist es eher nicht geworden, dazu sind Ich-Verliebtheit und Selbst-Stilisierung des Autors zu groß, aber immerhin erhält man höchst ungewöhnliche Einblicke in den eigenwilligen Literaturbetrieb der deutschen Nachkriegszeit. Dafür Respekt und Dank einem Fritz J. Raddatz, der "über Anstand wie Unaufrichtigkeit, über die kleinen Mogeleien wie das große Sehnen" geschrieben hat und dabei auch das eigene Scheitern nicht aussparte.

Fritz J. Raddatz: Unruhestifter. Erinnerungen. Propyläen. München 2003, 494 S.,
24 EUR

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