Hamburg, Berliner Tor, Straßenstrich und Hauptbahnhof um die Ecke, Bodybuilding-Studios, Shishabars, aber auch die große Hamburger IBM–Niederlassung gleich nebenan. Daneben jede Menge Gemüsehändler, Nähstuben und Brautausstatter. Auf der einen Straßenseite die Gebäude eher schmucklose Rot- und Gelbklinkerbauten der Nachkriegszeit, leicht angestaubt, quadratisch, praktisch und nicht gut. Gegenüber der aufwendige, repräsentative Prunk-Hochbau von IBM. An dieser räumlichen und sozialen Schnittstelle liegt die Zahnarztpraxis von Martin Lehmbäcker (58). Seit 31 Jahren arbeitet der geborene Ost-Berliner für eine Klientel, die unterschiedlicher kaum sein kann. Denn im Stadtteil St. Georg leben Arbeitslose, Zugewanderte, Familien mit Kindern ebenso wie Angestellte, Schauspieler und Musiker.
Mein Arbeitstag als Hilfszahnarzt im alten Arztkittel meines Vaters beginnt an einem windigen, regnerischen Dienstag um 8.00 Uhr mit der Einweisung und der Tagesplanung durch Arzthelferin Verena. Sie und Martin Lehmbäcker verstehen sich nach mehr als acht Jahren Zusammenarbeit fast wortlos. Fünf Patienten haben sich an diesem Vormittag angemeldet – alles umfangreichere Arbeiten – und sechs am Nachmittag.
Honorar bar auf die Hand
Der erste Patient ist ein Problemfall. Alter: um die 50 Jahre. Herkunft: Syrien. Beruf: Gemüsehändler. Zähne: (fast) nicht vorhanden, trotzdem starke Schmerzen. Von dem Gebiss mit den üblichen 32 Zähnen sind noch ganze drei vorhanden, ein Backenzahn sowie zwei Eckzähne, die stark wackeln und durch dünnen Draht mit einem weiteren frei schwebenden Schneidezahn verbunden sind. Dass der Mann überhaupt noch etwas kauen konnte, grenzt an ein Wunder. Martin Lehmbäcker macht zuerst eine Spülung, um den Arbeitsbereich zu desinfizieren. Dann muss er den letzten verbliebenen Backenzahn ziehen, der ist nicht mehr zu retten. Der Patient macht am Ende trotz allem einen zufriedenen Eindruck und bekommt zum Schluss noch eine Ermahnung mit auf den Weg: „Heute Abend nichts mehr essen und morgen sehen wir, ob es langsam verheilt – und bring dann mein Honorar mit.“ Ich bin überrascht. Meine Zahnarztrechnungen bezahlt die Versicherung, allerdings überweise ich dann häufig noch eine Zuzahlung. „Viele meiner Patienten haben gar keine Versicherung, die zahlen bar“, sagt Lehmbäcker. „Das sind oft Selbstständige mit zum Teil bereits jahrelang ungeklärtem Aufenthaltsstatus. Die leben häufig in größeren Familienverbänden und bleiben weitgehend unter sich. Aber sie sind sehr zuverlässig. Nie ist mir einer etwas schuldig geblieben.“
Der nächste Patient ist ein erfolgreicher Anwalt, wie sein Vorgänger so um die 50 Jahre alt, dem zahlreiche Implantate eingesetzt werden sollen. Die Basis für die Kunstzähne ist eingewachsen und muss freigeschnitten werden. Später werden dann darauf die passenden Zähne gesetzt. Eine sehr aufwendige, langwierige Arbeit, die hohe Konzentration erfordert „Wird ein Gebiss völlig saniert, kann das schon mal weit mehr als 20.000 Euro kosten“, meint Martin Lehmbäcker.“ Die Arbeit, sich diese Ausgaben zu sparen, fängt in der Kindheit an und hört später nicht auf. Martin Lehmbäcker beschreibt das Problem volksnah auf Berlinerisch: „Wo keen Dreck, da gibts och keene Karies.“ Aus seiner Sicht sind gesunde Zähne nicht eine Frage des Geldbeutels, sondern des Bewusstseins und der Bildung. Doch im Großen und Ganzen kann man auch in diesem Bereich beobachten, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter aufgeht. In diesem Fall zwischen denjenigen, die sich eine hochwertige Sanierung ihrer Zähne leisten, und denjenigen, die dazu finanziell nicht in der Lage sind. Es gibt noch einen anderen Aspekt: Studien haben ergeben, dass Bewerber mit gepflegten Zähnen bei Bewerbungsgesprächen erfolgreicher abschneiden. „Wer hier nicht ein wenig Zeit investieren will oder kann , verbaut Chancen beim sozialen Aufstieg“, sagt Martin Lehmbäcker.
In den vergangenen 30 Jahren haben sich sowohl das Image als auch die finanziellen Rahmenbedingungen der Zahnärzte stark verändert. Lagen sie in den 80er-Jahren noch in der Spitzengruppe der Einkommensbezieher, gilt dies nach zahlreichen Gesundheitsreformen heute so nicht mehr uneingeschränkt. Nach Untersuchungen der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung liegt der Durchschnittsumsatz eines niedergelassenen Zahnarztes bei rund 400.000 Euro im Jahr, mit sinkender Tendenz. Das klingt zwar zunächst eindrucksvoll, aber von dieser Summe muss noch die Miete sowie der Unterhalt der Praxis samt Bezahlung der Mitarbeiter und Anschaffung neuer, meist teurer zahntechnischer Geräte abgezogen werden. Unterm Strich verbleibt da bei zum Teil langen Arbeitszeiten von durchschnittlich 45,8 Stunden in der Woche nicht selten ein Netto-Stundenlohn von weniger als 25 Euro.
Ich bin bei meinem eintägigen Job als Hilfszahnarzt mittlerweile in der Nachmittagsschicht angekommen. Auf dem Behandlungsstuhl sitzt eine junge Frau Anfang 30, die am ganzen Leib zittert. „Das ist eine Stripperin aus einem Lokal beim Hansaplatz, sie kommt regelmäßig, hat aber immer tierische Angst vor der Behandlung“, meint Martin Lehmbäcker. Hier helfen nicht nur gute Worte, sondern auch ein Beruhigungsmittel sowie Lehmbäckers „Wunderpille“, eine Tablette mit eher homöopathischer Wirkung. Diese ist heute vonnöten, da sich einfache Zahnschmerzen nach dem Röntgen als chronische Wurzelentzündung entpuppen, die einer Wurzelbehandlung bedarf. Wie schön, dass es Martin Lehmbäcker mit seinen Geschichten im starken Berliner Dialekt gelingt, die Patientin abzulenken. Trotzdem ist das Ausbohren der drei Backenzahnkanäle eine körperlich anstrengende Arbeit in schwieriger Arbeitsposition. Auf der Stirn des Arztes stehen nach einer halben Stunde bereits kleine Schweißperlen. Die Patientin ist mittlerweile in dem Stadium, in dem sie alles klaglos über sich ergehen lässt. Nach einer weiteren halben Stunde ist es geschafft. Die Wange ist noch etwas dick, doch bis zum Arbeitsbeginn um 22.00 Uhr sollte es wieder gehen. Martin Lehmbäcker erzählt mir, dass viele seiner Kollegen auf Grund der Arbeitshaltung unter schweren Rückenproblemen leiden und dadurch gezwungen werden, frühzeitig in Rente zu gehen. Auch er hat schon Probleme mit der Halswirbelsäule. Berufsrisiko.
Der letzte Patient heute ist Mehmet (42). Er ist Stammkunde und hat ein ganz besonderes Problem: Sein einziger verbliebener Zahn unten rechts wackelt und ist nicht mehr zu retten. Martin drückt mir eine kleine Zange in die Hand und meint: „Du hast doch heute viel gelernt. Wie würdest du das machen?“ Tja, wie? Wie fasse ich die Zange an? Wie stark muss ich ziehen? Lieber drehen? Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Ich versuche mit der Zange den Lockerungsgrad des Zahnes zu ertasten – der ist groß, er hängt schon fast. Rückmeldung an den Chef. Er nimmt mir die Zange aus der Hand und dann geht alles ganz leicht. Mit einem kurzen Ruck hat er ihn gezogen. Mehmet schaut uns dankbar an. Vielleicht sollte ich beruflich doch noch umsatteln … Martin Lehmbäcker lächelt und versteht meine Gedanken: „Klar, das ist keine Goldgrube, auch wir müssen heute kleinere Brötchen backen. Aber Menschen so vieler Kulturen helfen zu können, sich mit ihnen auseinanderzusetzen – das ist schon sehr erfüllend. Ich kann mir keinen schöneren Beruf vorstellen.“
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