In einigen Jahren wird man Kindern erzählen müssen, was eine Kassette war. Das Medium zur Speicherung von Musik ist angesichts der Konkurrenz von CD, MD und vor allem natürlich von MP3-Formaten obsolet geworden. Das hatte man von der Schallplatte auch behauptet, sie hält sich aber als Liebhaber-Stück und DJ-Accessoire. Liebhaber der guten, alten Musikkassette sind in der Minderzahl, weil Kassetten tatsächlich ungeeignet zum Auflegen sind und das ständige Spulen schon zu Hause auf die Nerven geht. Darüber hinaus sind die digitalen Formate schneller, billiger, handlicher, und von der Qualität des Klangs wollen wir gar nicht erst reden. Soviel zu den Vorteilen, die jeden Versuch, die Kassette wieder als Medium zu etablieren, von vornherein lächerlich erscheinen lassen.
Und doch haben zwei Hamburger Mittzwanziger mit "Einlegen Kassetten" ein Musik-Label gegründet, das exklusiv auf Kassette veröffentlicht. In diesen Tagen bringen Einlegen Kassetten mit The Island und Heimweg zwei neue Künstler auf Kassette heraus, und die Chancen stehen nicht schlecht, dass die beiden Veröffentlichungen einen ebenso großen Erfolg haben werden wie die ersten beiden: komplett ausverkauft nach einigen Monaten. Es sei dazugesagt, dass der Preis mit sechs Euro pro Tonträger nicht sehr hoch ist und dass eine einmalige Auflage von 100 Kassetten womöglich zum raschen Absatz beiträgt. Der Preis deckt gerade die Produktionskosten, alles andere ist die Leidenschaft der Beiteiligten, das Projekt weiter zu führen. Was also hat die Kassette an sich?
Die Kassette (auch: Kassedde, Kasi, Band, Tape, K7) ist als Medium schon recht betagt. Als sie 1963 erstmals auf der Internationalen Funkausstellung präsentiert wurde, war sie nicht nur revolutionär als technische Entwicklung, sondern auch ein Kind des Kalten Krieges, das macht sie als zeitgeschichtliche Zeugin noch heute interessant. Welcher aus dem Westen Deutschlands in den Osten Reisende erinnert sich nicht an die Konfiszierung der damaligen Lieblingskassette durch die DDR-Grenzer? Und wer würde heute glauben, dass die Kassette, wenn leer und sowieso auf der östlichen Seite der Grenze hergestellt, einst bewusstes Mittel im Klassenkampf war? Während sich im Westen die Plattenbosse schon in den späten sechziger Jahren über Kopierer ärgerten, die Langspielplatten auf Kassetten überspielten, liefen im DDR-Radio gerne komplette Alben ohne Unterbrechung, speziell zum Mitschneiden.
Der politische Charakter der Kassette speiste sich schon immer aus dem Privaten, spätestens seit die Massenherstellung von Kassettenrecordern die Heimproduktion von Musik ermöglichte. Musiker, die bei herkömmlichen Plattenlabels keine Chance auf einen Vertrag hatten, konnten ihre Aufnahmen so auf den Markt bringen. Jede Schulband zeigte irgendwann stolz die erste eigene Kassette, mit Hilfe derer Konzerte organisiert wurden. Ob Demotapes und Eigenvertrieb den Musikmarkt revolutioniert haben, sei dahin gestellt, in jedem Fall brachten sie Bewegung in die von Plattenlabels oder Konzertveranstaltern bestimmte Musiklandschaft.
Und sie brachten Bewegung ins Private, ermöglichte die Einfachheit der Aufnahme doch den Liebesbrief per Tape. Mit sehr viel Liebe zum Detail - und diese wuchs mit zunehmender Liebe zur angebeteten Person - wurden über Jahre Mix-Kassetten als Zusammenstellungen jeweiliger Lieblingsmusik zusammenkopiert und mit meist bebendem Herzen überreicht. Schließlich hing am geteilten Musikgeschmack fast das Schicksal der ganzen Beziehung. Wurde die Liebe erwidert, bedurfte es nur eines Schrittes, um sie auf ewig festzuschreiben: die kleinen Plättchen an der oberen Kante herausbrechen. Die Kassette war so für alle Zeit kopiergeschützt, nie wieder hätte sie im Fall eines Streits überspielt werden können.
Schließlich sollte man die praktischen Vorteile von Kassetten bedenken. Die Bänder, sofern sie einmal gerissen waren, konnten in liebevoller Kleinarbeit wieder geflickt werden, selbst ein Süßwasser-Bad überstanden sie mit geringen Einschränkungen. Sie konnten in Wut durch den Raum geschleudert werden und waren trotz der Spuren fast immer noch hörbar. So gesehen entwickelten Kassetten ein Eigenleben: Sie konnten ihrem Besitzer erzählen, wie sie in fremden Händen behandelt worden waren. Das ist einer der Aspekte, die Benjamin Maack von Einlegen Kassetten schätzt. Er macht noch auf einen zweiten aufmerksam, der nicht nur die Grundeinstellung seines Labels klarmacht, sondern auch für den privaten Charakter von Kassetten ein schönes Bild liefert. Auffällig im Vergleich zu anderen Medien ist Plastik-Verkleidung, die das Band schützt. Insofern ist die Optik der Kassette eine Analogie zu ihrem Inhalt: Die Musik auf dem Band wird von einem geschlossenen Raum geschützt genauso wie die Musik in den allermeisten Fällen auch in einem geschlossenen Raum aufgenommen wurde. Folgerichtig veröffentlicht Einlegen Kassetten vor allem Musik, die im heimischen Wohnzimmer von meist nicht mehr als einer Person eingespielt wurde.
So entsteht der Eindruck, als sei die Kassette die Apotheose des Privaten - all jener Gefühle und Leidenschaften, die Musik entweder hervorruft oder die durch Musik zum Ausdruck gebracht werden. Tatsächlich eignet sich die Kassette nur bedingt zum öffentlichen Spiel, wenngleich Studenten des Londoner Goldsmith´s College bereits eine alte, neue Form des "Kassetten-Auflegens" wiederentdeckt haben: Alle Gäste einer Tanzveranstaltung bringen ihre bis zum gewünschten Lied vorgespulte Lieblingskassetten mit, die dann nacheinander abgespielt werden. Das ist ein charmanter Versuch, der letztlich nur zeigt, dass Kassetten ein wenig zu umständlich sind, um die Geschwindigkeit der heutigen Musikindustrie wirklich beeinflussen zu können. Daher eignen sie sich weder für eine Neuordnung des Marktes noch zur Verklärung. Darum geht es bei Einlegen Kassetten auch nicht. Worum es geht, ist die Möglichkeit, Musik zu veröffentlichen. Die Produktionskosten für die Kassetten sind zwar höher als bei CDs und weniger Mühen machen Aufnahmen auch nicht. Wer kein Geld hat, als Label aber auffallen will, denkt sich etwas Besonderes aus. Bei Einlegen Kassetten ist die Wahl des Besonderen auf Kassetten gefallen, im besten Wissen, dass die Kassettenrecorder sich, wenn nicht mehr im Wohnzimmer, so doch auf den meisten Dachböden befinden und man für gute Musik das Gerät wieder abstaubt.
Kassetten der Künstler The Island (EK03) und Heimweg (EK04) sind über www.einlegen.de zu beziehen, die Veröffentlichungen von Willson (EK01) und Ludwig (EK02) sind vergriffen.
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