Chez Lidél

Marktplatz Gegen den Sonntag helfen nur zwei Dinge: joggen und shoppen. Das eine ist so anstrengend, dass jegliche Depression ihre Lust verliert, das andere ist ...

Gegen den Sonntag helfen nur zwei Dinge: joggen und shoppen. Das eine ist so anstrengend, dass jegliche Depression ihre Lust verliert, das andere ist eine kleine Vorschau auf die wohltuende Normalität des Alltags. An diesem Sonntag ist es wieder so weit: Ich jogge im Grunewald und auf dem Weg nach Hause liegt Lidl, unterirdisch angelegt am Insbrucker Platz und bis 21 Uhr geöffnet. Fein, denke ich, dem Sonntag geben wir den Rest, der Kühlschrank ist sowieso leer.

Es ist 18 Uhr. Auf der Treppe nach unten kommen mir die ersten Einkäufer entgegen, vornehmlich Bierdosenpaletten werden hier weggeschafft. Um die Ecke tobt das wahre Leben: Gruppen von leicht alkoholisierten Menschen im angeregten Gespräch bilden eine letzte Barriere zum Einkaufsspaß. Mit meinem Trainingsanzug habe ich ganz unbewusst das richtige Outfit gewählt, so dass ich mich unbemerkt in den Strom der Sonntagseinkäufer einreihe.

Im Eingang steht der Wachschutz, als wolle er Eintrittskarten für eine Show kontrollieren und ehrlich Leute, ich habe ja schon viel erlebt, aber das hier ist der Hammer: was auf den ersten Blick wie der Einschlag einer Bombe aussieht, ist nur der fortgeschrittene Verwahrlosungszustand eines verkaufsoffenen Sonntags. Ich bahne mir meinen Weg im Slalom um zufällig stehen gelassene Paletten, dutzende leerer Kisten, aufgerissene, angebissene und durcheinandergeschmissene Esswaren, zerborstene Weinflaschen. Was macht die Scheibe Gouda auf dem DVD-Player gleich neben den zerzausten Azaleen im Kunststoffübertopf? Eine Tomate hat sich im Vorderrad meines Einkaufswagens verfangen und zieht eine rötlich schimmernde Spur hinter sich her. Wir nähern uns der Obst und Gemüsetheke, wenn das, was durch das Mahlwerk tausender Kundenhände gegangen ist, nicht eher die Bezeichnung Biotonne verdient. Exotisch ist die Auswahl allemal, Überreste von Mangos und Lychis stecken in der Selleriekiste und zwischen dem abgepackten Suppengrün. Blässliche Erdbeeren der Spät- oder Frühernte hier und da, überall umgeschmissene und entleerte Kartons von Einkäufern, die auf der Suche nach der unberührten Natur sind.

Die Stimmung im Lidl ist latent aggressiv, es könnte um das ein oder andere gute Stück leicht eine Schlägerei ausbrechen, wir sind bei den Urbedürfnissen der Menschheit angelangt. Von der Eiertheke, es wird unappetitlich, bin ich gleichermaßen schockiert wie fasziniert. Würde sich jemand aufregen, wenn ich jetzt in die Bananenkiste pinkele? Diese Scheißegal-Haltung, ist das Kultur? Oder Geschäftsstrategie? Alles ist einerlei, die Dinge haben keinen Wert, alles ist billig und so fülle auch ich meinen Einkaufswagen randvoll - nur mit verschweißter und gut verpackter Ware, versteht sich!

Kurz vor der Kasse noch ein letztes geschicktes Ausweichmanöver um das aufgeplatzte Sixpack Bier auf dem Fliesenboden. Die Kassiererin ist in Trance, zieht in einem Affenzahn das Zeug über die Infrarotleuchte. Zwischen den einzelnen Kunden eine längere Pause: einer aus der leicht alkoholisierten Gruppe von draußen will das Pfand für seine Dose wiederhaben. Für solche Geldangelegenheiten muss sich eigens eine Verkäuferin aus dem hinteren Bereich ihren Weg durch den Laden bahnen. Es ist 18 Uhr 45 und meine Sonntagsdepression ist gründlich vorbei für diese Woche. Den fortschreitenden Zustand von Verwahrlosung wird wohl nur noch der Ladenschluss um 21 Uhr aufhalten können, wenn es dann nicht zu spät ist.

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