Die Videoclips, die über die Leinwand im vollbesetzten Kaisersaal der Hamburgischen Bürgerschaft flimmern, sehen ein wenig nach einem neuen Computerspiel aus. „Black Block – The Resurrection“ könnte es heißen oder „Riot Police IV“. Einige Sequenzen – sie werden von einem Einsatzleiter der Polizei vorgeführt – stammen von Youtube. Gefilmt wurden sie von Teilnehmern der großen Demonstration im Hamburger Schanzenviertel, die als „Krawall-Demo“ bundesweit durch die Nachrichten flackerte. Tausende Menschen waren am 21. Dezember 2013 auf die Straße gegangen, um für den Erhalt des autonomen Kulturzentrums Rote Flora, für ein Bleiberecht von rund 300 Lampedusa-Flüchtlingen und gegen Gentrifizerung zu demonstrieren. Jetzt laufen die Videos vor dem Hamburger Innenausschuss. Sie zeigen, wie der sogenannte Schwarze Block hinter dem Fronttransparent der Demo losläuft und von eilig herbeilenden Polizeikräften zurückgedrängt und -geprügelt wird.
In anderen Sequenzen, die mit Polizeikameras aufgenommen wurden, sieht man, wie aus der Masse der Demonstranten hier eine Leuchtrakete, da ein Stein oder eine Flasche fliegt. Vollverschalte Polizisten staksen über die Sitzbänke eines Cafés, um zu den schwarzen Gestalten im Hintergrund zu gelangen. Aus der Vogelperspektiv, vom Helikopter aus gefilmt, wirkt die Szene noch irrealer: Am rechten Bildrand herumtänzelnde schwarze Punkte, am linken eine Raupe aus weißen Polizeihelmen, die stets aufs Neue vorzustoßen versucht. Es sind je vielleicht 20 oder 30 Kämpfer auf beiden Seiten – umgeben von Tausenden von Demonstranten, die Abstand zu halten versuchen. Und zwischendrin blitzt immer mal wieder das gelbe Gemäuer der Roten Flora auf, des letzten, nicht-legalisierten linksautonomen Zentrums in Deutschland.
So aufgeheizt wie die Atmosphäre derzeit im Stadtstaat ist, sollte man die Computerspiel-Metapher dort besser nicht anbringen. Seit den Krawallen und vor allem seit einer Attacke auf das Polizeikommissariat 15 an der Davidstraße, bei der laut Polizei einem Beamten mit einen Steinwurf der Kiefer gebrochen wurde, herrscht in Hamburg Erregung und Empörung auf allen Seiten. Inklusive Mahnwachen und Facebook-Kampagnen „Pro Polizei“.
Bei der Innenausschuss-Sitzung, die von den Grünen beantragt worden war, um Übergriffe durch die Uniformierten aufzuklären, verlangte Innensenator Michael Neumann (SPD) ein unmissverständliches „Bekenntnis zum ausschließlichen Gewaltmonopol“ der Staatsgewalt und erregte sich über Darstellungen in den Medien, die für die Hamburger Eskalation nicht nur militante Demonstranten haftbar machen, sondern die Polizei in der Mitschuld sehen. „Diese Schuldfrage stellt sich nicht“, erklärte Neumann, der bis 2010 Offizier der Bundeswehr war, im Basta-Ton.
Eine entscheidende Frage wurde in der vierstündigen Sitzung nicht gestellt: Was ist das für eine polizeiliche Strategie, kleine Einheiten in eine unübersichtliche Massenversammlung laufen zu lassen, aus der heraus einzelne Grüppchen von Militanten Steine, Flaschen und Böller werfen? Wieso hat die Einsatzleitung die Kräfte nicht zurückgezogen, um den Werfern keine Zielscheibe zu geben. Eine Strategie, die sich unzählige Male in der Vergangenheit bewährt hat. So sie denn angewandt wurde. Dieses Mal wurde sie das nicht. Dieses Mal standen sich einzelne Player gegenüber und sammelten Punkte. Nur: Welche (politischen) Player treten hier gegegeneinander an, und warum?
Rote Flora, Esso-Häuser und …
Da sind auf der einen Seite die Demo-Initiatoren aus dem Kreis der Roten Flora. Bundesweit hatten sie Unterstützer mobilisiert, um gegen eine mögliche Räumung des seit 1989 besetzten Gebäudes durch den heutigen Eigentümer, Klausmartin Kretschmer, zu demonstrieren. Kretschmer bezeichnet sich als „Kulturinvestor“. 2001 hatte er das Gebäude, ein altes Theater, der Stadt zu einem Spottpreis von 370.000 Mark abgekauft. Dem damaligen SPD-Senat schaffte er damit ein Wahlkampfproblem vom Hals, das besetzte Haus war manchen schon lange ein Dorn im Auge.
Vieles deutet darauf hin, dass „Kulturinvestor“ Kretschmer finanziell klamm ist. Jedenfalls drängt er seit zwei Jahren verstärkt darauf, seine Problemimmobilie in Premiumlage möglichst zügig und möglichst lukrativ zu „entwickeln“. Dabei helfen ihm ein Immobilienmanager und Anwalt namens Gert Baer, hinter dem nach Informationen der Flora-Aktivisten ein Konsortium von Hamburger Privatinvestoren steht. Die wollen die Räumung offenbar mit allen rechtlichen Mitteln durchsetzen.
Dabei treffen die Flora-Eigentümer allerdings auf eine knifflige Lage, denn die zunehmende Kommerzialisierung der inneren Stadtteile ist in Hamburg seit Jahren ein hochpolitisches Thema, quer durch die Schichten und politischen Lager. Auch für Normalverdiener wird Wohnraum in der Hansestadt zunehmend unbezahlbar. Und weil die einst vielfältig-schmuddeligen Szenestadteile Schanzenviertel oder St. Pauli mehr und mehr zu exklusiven Wohnlagen mit angeschlossener Massenvergnügungs-Industrie werden, hält man inzwischen bis in die oppositionelle CDU hinein die Duldung der besetzten Flora für eine Art Aushängeschild, für einen Rest-Beweis der hanseatisch-liberalen Vielfalt.
„Wie wichtig und nötig sind eigentlich Menschen und Orte, die den Status quo des Gemeinwesens immer wieder infrage stellen, für den soziokulturellen Reichtum und damit die Zukunft einer Stadt?“, fragte sogar Springers grundkonservatives Hamburger Abendblatt einmal. Es klingt bizarr, ist aber so: Angesichts der kommerziellen Verödung der Städte kann ein autonomes Zentrum wie die Flora zu einem positiven Imagefaktor einer Metropole werden.
„Flora bleibt unverträglich“ lautet die trotzige Parole, mit der sich die Besetzer gegen diese Umarmungsstrategie und den ihnen zugeteilten Hofnarrenstatus wehren. Auch darum ging es bei der Großdemonstration: Man wolle zeigen, dass man sich auf die vagen Schutzaussagen des Senats nicht verlasse und dass eine Räumung der Flora nicht mit friedlichen Sitzblockaden beanwortet werde, hieß es vor der Demo aus dem Kreis der Flora-Leute.
Dass der SPD-regierte Senat wahrlich kein idealer Partner bei der Verteidigung von Problemimmobilien ist, hat sich unlängst an den Esso-Häusern um die sogenannte Kulttanke an der Reeperbahn gezeigt. Ein 60er-Jahre-Wohnriegel, der in den Lokalmedien als Schandfleck gilt und baufällig is. Aber Mieter und Gewerbetreibende wehrten sich gegen die Abrisspläne des Immobilienkonzerns Bayerische Hausbau, auch aus Angst, keine neuen Bleiben zu finden. Stets hatten die zuständigen sozialdemokratischen Lokalpolitiker beteuert, mit ihnen werde es keinen Abriss geben, ohne dass ein Rückkehrrecht zu bezahlbaren Mieten gewährleistet sei.
Dann aber kam der 14. Dezember: Spätabends holten Polizisten die Mieter aus den Wohnungen und ließen umliegende Musikclubs räumen. Nach einer Erschütterung sei das Gebäude akut einsturzgefährdet, hieß es. Ganze fünf Minuten hatten die Bewohner zum Packen. Ohne Entschädigung wurden sie über Weihnachten erst einmal in Billigabsteigen einquartiert. In den kommenden Wochen wird der Komplex aller Voraussicht nach nun doch abgerissen. Von einem Rückkehrrecht für die (Ex-)Bewohner hat man bislang nichts mehr gehört.
Esso-Häuser, Flora-Demo und das Stichwort Lampedusa: 2013 war alles andere als ein imageförderndes Jahr für die von Olaf Scholz geführten Sozialdemokraten in der Hansestadt. Fast wirkt es so, als ob die SPD sich dort mit Anlauf und Absicht selbst demontieren will. Im Oktober zeigten sich Zehntausende Hamburger Bürger entsetzt über die Unnachgiebigkeit, mit der SPD-Innensenator Neumann einer Gruppe von 300 afrikanischen Flüchtlingen begegnete. Die Männer waren über Lampedusa geflüchtet, einige von ihnen hatten in der St. Pauli-Kirche eine vorübergehende Unterkunft gefunden. Statt mit den Männern zu verhandeln, die nicht in die sogenannte Illegalität abgetaucht waren, sondern friedlich-politisch für ein Bleiberecht kämpften, bestand Neumann darauf, jeden von ihnen erst einmal einzeln zu kontrollieren – was im Regelfall zu einer Abschiebung führt. Zudem ordnete er überall in der Stadt Kontrollen schwarzer Männer an, wahllos, auch ohne Anlass. Als bekannt wurde, dass er eine Razzia in der Flüchtlingskirche plante – was übrigens am Widerstand der beteiligten Polizisten scheiterte – gingen gut 15.000 Hamburger auf die Straße, in einem breiten Bündnis des Uneinverstandenseins.
„Ganz Hamburg hasst die SPD!“, wurde auf den Lampedusa-Demos skandiert. Es klang energisch, stinksauer, wütend. Und es hatte einen sarkastischen Aufforderungscharakter: „Hey, SPD, jetzt geh’ mal darauf ein, sonst hassen wir dich!“ Das Hamburgische Kleidungsstück der Saison ist jetzt jedenfalls ein T-Shirt mit markantem Buchstabenlogo, weiße Lettern auf schwarzem Stoff. Die Typographie erinnert an das Band-Logo, das sich die HipHop-Pioniere Run DMC Mitte der 80er Jahre zugelegt hatten. In Hamburg trägt man statt „RUN DMC“ jetzt allerdings die Buchstabendkombination „FCK SPD“ auf der Brust. Das erinnert an einen komplett aus der Mode gekommenen Polit-Jargon.
... die Lampedusa-Flüchtlinge
Ja, die Achtziger scheinen zurückgekehrt. Bullen gegen Chaoten. Fast wie einst. Als am Krawallsamstag im späten Dezember kleine Trupps von Randalierern in den Szenevierteln Bauzäune umwarfen, Müll auf die Straßen zogen, Schaufenster von Friseurketten entglasten und sich in die Arme fielen, war ihnen der Gedanke „Alter, wie geil ist das denn!“ deutlich anzusehen. Leider ist das Spektakel aber ziemlich ungeil. Und es ist vor allem reichlich entkoppelt von den politischen Initiativen, die in Hamburg ganz ernsthaft und mit langem Atem gegen Gentrifizierung oder für ein Bleiberecht von Flüchtlingen kämpfen. Deren Anliegen gingen in dem Spektakel so gut wie unter.
Wäre es tatsächlich nur ein Computerspiel, könnte man sich im Sessel zurücklehnen und entspannt auf das nächste Level warten. Aber das Spiel ist noch nicht vorbei: Nach einer angeblichen zweiten Attacke gegen die Davidwache erklärten die Behörden weite Teile von St. Pauli, Altona und des Schanzenviertels jetzt zum „Gefahrengebiet“, in dem „relevante Personengruppen“ auch ohne konkreten Anlass überprüft werden könne. Seit Polizeitrupps in Kampfanzügen durch die Szeneviertel streifen, um junge Menschen mit schwarzen Klamotten oder Wursthaaren zu kontrollieren, verabreden sich selbige jetzt Abend für Abend zu „Spaziergängen durchs Gefahrengebiet“. Das führt wiederum zu hysterischen Polizeikesseln, Aufenthaltsverboten und Masseningewahrsamnahmen. Die Polizei hat sogleich mehr Personal und mehr Ausstattung gefordert. Und die SPD suhlt sich in einer Notstandshysterie, die vom Ärger über ihr mieses Image ablenkt.
Christoph Twickel, geboren 1967, ist freier Journalist in Hamburg. 2010 erschien Gentrifidingsbums oder Eine Stadt für alle
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