ORTE DER KINDHEIT Wir liefen hinaus aus der Turnhalle in unseren schlecht sitzenden Sachen. Im Laufschritt auf den rotbraunen, mit Schotter bedeckten Sportplatz ...
Wir liefen hinaus aus der Turnhalle in unseren schlecht sitzenden Sachen. Im Laufschritt auf den rotbraunen, mit Schotter bedeckten Sportplatz unserer Schule. Die aus der anderen Klasse auch alle dabei. Die Mädchen von denen kamen uns schöner vor als die aus unserer Klasse. Die Jungs der anderen Klasse alles solche Bären, mit Pickeln und gepflegtem Strich auf der Oberlippe. Meine Kumpels und ich noch halbe Kinder, abgehoben von den Bären durch unsere Klamotten, verwaschen und schmuddlig, durch unsere Musik, durch die Nichtachtung der Schönen aus der anderen Klasse. Sechste Stunde, mitten in der Woche. Leistungskontrolle F1 Übungshandgranate, 1984, 8. Klasse. Wenn man die leere Hülle der Granate so warf, wie es der Lehrer einem vormachte, riss es einem fas
fast den Arm aus. Vorher war Mathe, da hatten wir uns abgesprochen. Klar, dass es Ärger geben würde. Vielleicht aber würden Jaqueline oder Simone oder wie sie alle hießen ja dann mal gucken.Nach den Ritualen des in-Reihe-Antretens und dem müden »Sport frei!«-Gebrüll gingen wir zu einer in den Schotter gezogenen Linie. Die Granaten daneben in leeren Plastebehältern, die sonst für Milchtüten waren. Die Bären machten sich warm, Ralf boxte André, »Pottsau« und »Wichser« nannten sie sich, grinsend, hingeworfen. Wir standen rum, drei Typen, die glaubten, sie höben gleich die Welt aus den Angeln. »Wollen die Herren auch mal anfangen, hier die Erwärmung zu tätigen, oder brauchense wieder eine Extraeinladung!?« Unser Sportlehrer, Herr L. Jung, mit ganz kleinem Kopf und weit auseinander liegenden Augen. Ein 1,90 großer, asiatisch aussehender Schinder mit kleinen Löckchen, dem die Herzen der älteren Mädchen nur so zuflogen. Der ging auch mal zur Schuldisco, natürlich nur, weil er was vergessen hatte, nicht nur mal so, und »na logo« tanzte er dann auch mal, warum nicht ... er konnte sich aussuchen, mit welcher.Jetzt auf dem Platz, schon ziemlich wütend auf uns, begann er die Leistungskontrolle. Wir wurden alphabetisch aufgerufen, der erste von uns dreien begann mit »K«.Bis zu »K« gab es glatte Einsen, mal eine drei oder auch eine gönnerhafte 4, »hat sich bemüht, muss man anerkennen, nur reicht ehm nicht«. Dann, ohne dass wir uns noch angeguckt hatten, ohne einen Händedruck oder ein Wort oder irgendwelche hilfesuchenden Gesten, war Kattler dran. Er nahm sich eine Handgranate, lief ein paar Schritte zurück, trabte zur Linie, riss den Arm nicht hoch, streckte ihn nur grade nach vorne aus, blieb ruckartig stehen und ließ die Granate fallen. Sie lag einen Meter vor seinem Fuß, eine ganz kleine, rotbraune Staubwolke drüber, viel kleiner als die, welche bei einer »1« über den Platz zogen. Natürlich gab's keine Stille danach wie im Film, Jacqueline guckte nicht her, die Mädchen machten irgendwas anderes, einige von uns lachten, »Kattler, du Spast«, die meisten waren mit sich selbst beschäftigt. Nur Herr L. merkte, dass es nicht aus Versehen war. »Selbstvernichtung!!!«, brüllte er triumphierend. » Alex Kattler hat sich selbst vernichtet!!! Dassdasnefünfistweißtejawohl. Keinen zweiten Versuch.« Die anderen guckten gelangweilt in der Gegend herum oder freuten sich auf Kattlers Wut, L. brüllte noch mal: »Selbstvernichtung!!!« und malte die 5 in sein Heft.Kattler drehte sich zu uns um, er konnte grinsen. Ein Bär, der nach ihm dran war, schubste ihn von der Linie weg, es ging reibungslos weiter bis zu »S« wie Sakowski und dann noch zu »U« wie Ullmann. Herr L. guckte stumm Sakowskis Friedensdemonstration zu, der die Granate mit Wucht auf den Schotter schmiss. Als ich die F1 aus der schwitzigen Handfläche fallen ließ, lachte er kurz und böse. Nachdem Zimmermann seine 1 geworfen hatte, kam L. zu uns. Er sei zufrieden, teilweise hohe Leistungen habe er hier gesehen. Ob denn alle die SELBSTVERNICHTER gesehen hätten. »Nein? Dann macht das doch noch mal, ihr drei .«Jetzt war es doch ganz still. Die Bären glotzten uns an, warteten. Mein Turnhemd zitterte über dem rasenden 12/16tel Beat meines Herzens. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wir sollten also bezahlen. Er wollte, dass wir den Platz als Feiglinge verließen. Wohin mit meinen Händen, wohin mit den Augen? Kattler und Sakowski waren weit weg. Ja c que line auch.Was jetzt folgte, hat dann mein Leben verändert. Nichts weniger. Wir rührten uns natürlich nicht. Saßen da, voller Hass und doch leer. Eigentlich wäre jetzt der Zeitpunkt gewesen, vom FRIEDEN zu reden oder sowas. All unsere mühsam gelernten Argumente für eine einseitige Abrüstung des Ostblocks vorzubringen. Wenn WIR die bessere Gesellschaftsordnung hätten, könnten WIR ja auch mit gutem Beispiel vorangehen. usw. usw. Aber mit Mordlust im Kopf und zitternden Händen redet es sich schlecht von sowas. Für uns ging es nicht vor und nicht zurück, wir hatten ES getan, aber was jetzt? Aber Herr L. nahm uns die Entscheidung ab. Er brüllte uns immer wieder an, wir sollten DAS wiederholen. »Ihr traut euch wohl nicht, ihr Waschlappen?« Jetzt guckten Ja cqueline und Konsorten doch. »Wer ist Weltmeister im Mittelgewicht, Ullmann? Kattler, wenn ich schon dein Sportzeug sehe, damusstejaSiezusagen, ihr dreckigen, gammligen Typen, wer ist Weltmeister im Mittelgewicht? Wer springt am weitesten Ski? Sakowski!!!« Er wurde immer lauter, verlor sich, tobte. Die kleinen Löckchen zitterten auf seinem Kopf. Sein kleiner, vorgereckter Kopf zuckte, seine Blicke aus den schräg geschnittenen Augen bohrten sich durch unsere gesenkten Köpfe. Die Bären wurden auch unruhig, rutschten rum. Sakowski stöhnte einmal und zog sich wie ein Fragezeichen zusammen. Und dann, das hohe C am Ende der Arie, sein Triumph, die Vernichtung dieser drei Heinis hier: »Zieht euch doch gleich n' langen Rock an! Beim nächsten Mal macht ihr bei den Mädchen mit!!!! Ja! Könntaglauben.« Und da standen wir auf, von selbst, ohne großes Gefühl. Die Bedrohung war so nah, die VERNICHTUNG vor uns ganz dicht. Ab und zu hatten wir erlebt, wie Schüler runtergemacht und gedemütigt wurden. Unsere Chemielehrerin genoss es, Sakowski zur Lösung chemischer Gleichungen an die Tafel zu holen. Er konnte sie nie lösen, aber immer wieder wollte diese Frau sehen, wie er versuchte, der sicheren 5 in Mitarbeit zu entgehen. Aber das, was hier mit uns passierte, war noch nie passiert.Wir gingen wie Träumende vom Platz. Nicht zusammen, keine Phalanx, keine Front. Wir liefen vor dem Blitz davon, vor dem Tier aus Albträumen, vor der Walze aus Hass. Ich weiß nicht mehr, wer der erste von uns war. L.s Gebrüll hinter uns her. Er kam uns nicht nach. Wir sprachen erst im Umkleideraum, meinste, er geht gleich zum Direktor, keine Ahnung, macht er sicher. Über alles andere redeten wir nicht. Ich brannte innerlich ab vor Hass und Scham.Haben sie uns noch was nachgerufen, als wir zu früh die Schule verließen? Ich weiß es nicht mehr. Nur der Weg nach Hause, die Welt war nicht aus den Angeln, nur genauso kaputt wie davor. Es gab keine Rache, nichts war möglich.L. ging nicht zum Direktor deswegen. Er gab uns allen eine 5 in der LK, sagte nichts wegen der geschwänzten Zeit. Als ein Jahr später die F1 wieder dran war, fragte er uns, ob er uns gleich eine 5 geben solle. Das war ein guter Modus. Zwei Jahre später prüfte er mich mündlich in Geographie, seinem Zweitfach. Vorher sagte er mir genau, was rankommen würde. Für seine Verhältnisse war es das Maximum an Toleranz. Wir hatten ihn natürlich nicht überzeugt, aber er hatte uns auch nicht gekriegt.
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