SSC Neapel ist italienischer Meister: Underdog als Lebensgefühl
Fußball In Italien hat der SSC Neapel zum ersten Mal seit 33 Jahren die Meisterschaft gewonnen. Für die Bewohner der südlichen Stadt weit mehr als nur ein Sportereignis: Es ist vor allem ein Sieg über den reichen Norden
Fans des SSC Neapel feiern die erste Meisterschaft nach 33 Jahren
Foto: Carlo Hermann/AFP/Getty Images
Wer in Neapel die Stufen des altehrwürdigen „Stadio San Paolo“ erklimmt und den Blick auf die Kurve der Ultras richtet, wird dort schnell ein riesiges Banner ausmachen: „Avanti Ultras – Curva A Napoli – Stile di Vita“. Diese wenigen Worte erklären ein Gefühl, über das man vermutlich ganze Bücher schreiben könnte - freilich, ohne der Sache wirklich gerecht zu werden. Der Fußball und der Verein: kein Hobby, keine Wochenendbeschäftigung, keine Nebensächlichkeit. Stattdessen: Stile di Vita - ein Lebensstil.
Zum ersten Mal seit knapp drei Jahrzehnten steht die Societá Sportiva Calcio Napoli wieder an der Spitze der italienischen Serie A. Bereits fünf Spieltage vor Saisonende sichern sich die Süditalie
52;ditaliener nach einem 1:1 bei Udinese Calcio ihre dritte Meisterschaft, den „scudetto“.Der geneigte italienische Fußballfan lebt seine Leidenschaft schon ganz grundsätzlich mit mehr Pathos und Hingabe aus, als es hierzulande der Fall ist. Das Land ist nicht ohne Grund die Geburtsstätte der Ultrá-Bewegung. Obwohl auch deutschsprachige Gruppen nach der Ausbreitung dieser Subkultur in den 90er Jahren schon längst den Kinderschuhen entwachsen ist, schaut man mancherorts noch heute auf die italienischen Vorbilder, die gut und gerne 20-30 Jahre mehr Erfahrung vorweisen können.Die Symbiose von Stadt und Verein am Golf von Neapel ist allerdings selbst für italienische Verhältnisse eine besondere. Bei einem Besuch in der Stadt fallen unzählige Wandmalereien ins Auge, welche die Liebe der Einwohner zu ihrem Verein ausdrücken. Und, natürlich, die Liebe zu Maradona. Mit „Heiligenverehrung“ ist die Beziehung der Neapolitaner zu dem Argentinier ziemlich treffend beschrieben. Riesige Abbilder auf den Wänden der Stadt, kleine Maradona-Altare in den Geschäften und Restaurants, die Umbenennung des San-Paolo-Stadions in „Stadio Diego Armando Maradona“ nach seinem Tod im Jahre 2020 - an wenigen Orten ist die Identität eines Klubs so sehr mit einer einzelnen Person verknüpft.Knapp dreißig Jahre also, nachdem „El Pibe de Oro“, der Goldjunge, der Stadt in den Jahren 1987 und 1990 ihre ersten beiden Meistertitel überhaupt verschaffte, gewinnt die S.S.C. Neapel wieder einen „scudetto“. Obwohl sich die Fans aufgrund des riesigen Vorsprungs bereits seit Wochen emotional auf diesen Moment vorbereiten konnte, glichen ihre Feierlichkeiten einer Eruption des naheliegenden Vesuvs. Hunderttausende jubelnde Anhänger auf den Straßen, geschmückte Fassaden, Feuerwerk über der ganzen Stadt – aber auch Chaos und 200 Verletzte.Fußball- und Fankultur spiegeln eine Gesellschaft. Wenn ein Verein Abbild einer ganzen Region ist, betrifft das naturgemäß beide Seiten der Medaille. Bereits die Figur Maradona zeigt diese Ambivalenz in ihrem ganzen Ausmaß. Held einer ganzen Generation, tiefe Verbundenheit mit der Stadt und dem Verein, aber auch Kokainsucht und Verflechtungen zur Camorra, der neapolitanischen Mafia.Diese Ambivalenz gilt gleichermaßen für die Stadt und ihre fanatischen Anhänger. Traurige Berühmtheit erlangte das italienische Pokalfinale 2014, als es vor der Begegnung zwischen Neapel und dem AC Florenz im Römer Olympiastadion zu heftigen Ausschreitungen mit einheimischen Fans des AS Rom kam, in deren Zusammenhang der Neapolitaner Ciro Esposito niedergeschossen wurde und einige Wochen später verstarb. Anschließend gingen Bilder desNapoli-Ultras Gennaro di Tommaso um die Welt, der im Stadion mit dem damaligen Kapitän Martin Hamšik aufgebracht über den Anpfiff der Partie „verhandelte“. Die Fotos von di Tommaso, der später wegen Drogenhandels für zehn Jahre ins Gefängnis musste, bediente das Narrativ der einflussreichen, von der Mafia durchsetzten Fankurve Neapels – jedenfalls für diejenigen, die italienische Fanstrukturen mit einfachen Erklärungsansätzen zu verstehen versuchen. Dass der Napoli-Ultrá an diesem Abend mäßigend auf die aufgebrachten Fans einwirkte, die davon ausgingen, dass einer von Ihnen verstorben war, ging in der Berichterstattung über einen grimmig dreinblicken, tätowierten Mann unter. Dass das Spiel anschließend ohne Störungen ausgetragen wurde, ebenso wenig. Um Esposito, der an diesem Abend noch um sein Leben kämpfte und um seinen Mörder aus der Fanszene des AS Rom, der tief in rechtsextreme Strukturen verwickelt war, ging es zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr.Italien ist ein Land, das von einem dualistischen Nord-Süd-Denken geprägt ist. Die Grenze verläuft irgendwo auf der Höhe Roms, im nationalen Vergleich ist die Wirtschaftskraft der Metropolregion Neapel schwach, die Jugendarbeitslosigkeit liegt traditionell weit über dem italienischen Durchschnitt.Diese wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede bieten auch dem Fußball Stoff für ausgeprägte Rivalitäten. So ist es keine Überraschung, dass man in Neapel wenig von Vereinen wie dem AS Rom, Juventus Turin oder den Mailänder Klubs hält, die ihrerseits keine Gelegenheit auslassen, bei Aufeinandertreffen „Vesuvio erutta, tutta Napoli e distrutta“, also den Ausbruch des Vesuvs und die Zerstörung Neapels zu besingen (ein Lied, welches die Neapolitaner adaptierten, als sich der Titel allmählich andeutete). Auch deshalb ist die Meisterschaft von Napoli ein besonderes Ereignis, geht der „Scudetto“ doch ausnahmsweise einmal nicht nach Mailand oder Turin.Dass die S.S.C. Neapel nach dem sportlichen Niedergang in den 2000ern, dem wirtschaftlichen Aus und einer Neugründung in der dritten italienischen Liga im Jahre 2004 erst seit 2007 wieder in der Serie A vertreten ist, passt dabei perfekt in eine romantische Fußballerzählung, die Filmproduzent Aurelio de Laurentiis, seit 2004 Vorsitzender des Vereins, wohl nicht besser in einem Spielfilm hätte verarbeiten können. Auch de Laurentiis ist eine ambivalente Figur, der den Verein zwar sportlich und finanziell wieder an die Spitze geführt hat, aber mit den Napoli-Ultras – unter anderem wegen hoher Eintrittspreise - im offenen Clinch liegt. Zu allem Überfluss lastet man dem in Rom geborenen Unternehmer immer wieder seine Herkunft als Norditaliener an.Ob der Verein an der Spitze bleiben wird, darf bezweifelt werden. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass Leistungsträger wie der nigerianische Top-Torjäger Victor Osimhen Neapel verlassen könnten. Für die Neapolitaner wird das höchstens kurzfristig von Bedeutung sein, denn der Scudetto bleibt. Und die Anhänger sowieso – Stile di Vita eben.
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