Die schlichte Einteilung in Sieger und Verlierer fällt nicht immer leicht. Vor allem nicht, wenn das Ergebnis am Ende so knapp ist: Mit nur wenigen tausend Stimmen Vorsprung stimmten am Sonntag die Hamburger für einen Rückkauf ihres Energienetzes. 50,9 Prozent der Wähler votierten für den Vorschlag der Bürgerinitiative „Unser Hamburg – unser Netz“, die Stadt solle Gas-, Strom- und Fernwärmenetz zu 100 Prozent übernehmen.
Doch klammert man mal die Diskussion über das Hamburger Energienetz aus, zeigt die Entscheidung in Hamburg eine grundsätzlich bemerkenswerte Entwicklung: Die direkte Beteiligung von Bürger erreicht eine neue Ebene.
Denn passt die Abstimmung in eine Reihe mit den Plebisziten der jüngeren Vergangenheit? Nein, die Hamburger Abstimmung sticht aus ihnen hervor: Sie ist tief ideologisch. Beim ersten verbindlichen Volksentscheid in Hamburg im Jahr 2010 verhinderten die Bürger die Einführung einer sechsjährigen Grundschule – die Schulreform des schwarz-grünen Senats war gescheitert. Ein Thema, dass den Alltag vieler Wähler direkt betraf und deswegen auch emotional aufwühlte. Bei der Abstimmung um das Großbauprojekt Stuttgart 21 ging es um eine sichtbare Veränderung der Stadt – neben den Millionenkosten und den Infrastrukturproblemen des neuen Bahnhofs.
Wie viel Staat soll, wie viel muss sein?
Der Volksentscheid vom Wochenende hingegen klärte im Grundsatz eine Frage: Wie viel Staat soll, wie viel muss sein? Diese Debatte polarisierte in den vergangen Monaten die Hamburger. Für den regierenden Oberbürgermeister Olaf Scholz (SPD) ist der Sieg der Initiative ein Rückschlag. Wochenlang kämpften seine alleinregierenden Sozialdemokraten zusammen mit CDU, FDP und Wirtschaftsverbänden gegen den Plan. Zu teuer sei der komplette Rückkauf der Netze, zu ungewiss ihre Wirtschaftlichkeit und Effizienz. Ein Kaufpreis von zwei Milliarden Euro steht im Raum. Nur mittels Krediten kann die Hansestadt dies finanzieren – und dabei plagt sie ständig die Angst, die Zinskosten würden die Gewinne, die das Netz abwirft, übersteigen.
Ihnen gegenüber stand ein Bündnis von Umweltverbänden und der Verbraucherzentrale, unterstützt von den Grünen und der Linken. Sie argumentierten, die Energieversorgung dürfe nicht in den Händen der Konzerne Vattenfall und Eon bleiben, sondern gehöre in öffentliche Hand. Für die Energiewende, für demokratische Kontrolle.
Das knappe Ergebnis zeigt: Die Hamburger Bevölkerung ist tief gespalten und uneinig, welchen Weg man einschlagen soll. Und widerlegt somit die Befürchtungen, die Deutschen würden sich vor lauter Gemütlichkeit und Zufriedenheit aus dem Politischen zurückziehen, den Status quo pflegen und der Merkelismus hätte gesiegt.
Neue Chance für die Demokratie
Der Hamburger Volksentscheid stellt zudem das Bild des Wutbürgers infrage – glücklicherweise, hatte diese Polemik gegen politische Partizipation mehr geschadet als genützt. Hier waren keine Wutbürger am Werk. Es waren Bürger, die ihre Stadt verändern wollen.
Auch rissen sie trotz aller politischer Präferenzen, die man den Befürwortern und Gegnern zuschreiben mag, die Parteigrenzen ein. Sonst wäre es am Ende nicht so knapp geworden: Hätten die Wähler in Lagergrenzen gedacht, hätten die Gegner gut 74 Prozent der Stimmen erhalten – soviel erzielten SPD, CDU und FDP bei den Zweitstimmen zur Bundestagswahl in Hamburg. Doch ein Wähler stimmt nicht in jedem Punkt mit den Entscheidung einer Partei überein. Und sollte deswegen öfter miteinbezogen werden.
Volksentscheiden sorgen damit für neue Chancen der Demokratie. Sie weisen alternative Wege auf, mitzubestimmen und sich nicht nur alle paar Jahre bei Bundestags-, Landtags- oder Kommunalwahlen mit seiner Stimme festzulegen. Volksentscheide beleben so auch das politischen Interesse. Nicht die Reden von Politikern heben Wähler in der Alltagslethargie aus ihren Sesseln, sondern die Möglichkeit, direkt etwas zu verändern. Und damit verbunden die Aufforderung, sich zu positionieren.
Auch Berlin stimmt über Stromversorgung ab
In wenigen Wochen steht in Berlin eine ähnliche Abstimmung über die Stromversorgung an. In der Hauptstadt lodert seit einigen Jahren die Diskussion über die Rolle des Staates. 2011 kämpfte die Initiative „Berliner Wassertisch“ für eine Rekommunalisierung der Berliner Wasserbetriebe – und gewann mit einer deutlichen Mehrheit von 98 Prozent beim Volksentscheid. Gut ein Viertel der Wahlberechtigten gingen an die Urne und erfüllten das notwendige Quorum.
Am 3. November folgt die zweite Etappe der Berliner Bemühungen, die Daseinsvorsorge in öffentliche Hand zurückzuführen. Die Hauptstädter sind aufgerufen, über einen Rückkauf des Stromnetzes und den Aufbau von Stadtwerken abzustimmen. Ganz gleich, wie die Abstimmung ausgehen wird – die Berliner sind schon Sieger. Denn sie haben zum zweiten Mal in kürzester Zeit gezeigt, dass sie ihre Stadt mitgestalten wollen, und nicht einfach die Beschlüsse aus dem Roten Rathaus über sich ergehen lassen. Ihr Handeln, ebenso wie das der Hamburger, ist mehr als pure Symbolik.
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