"Die Taschendiebin" von Park Chan-wook

Filmkritik Der Oldboy-Regisseur inszeniert einen historischen Erotik-Thriller mit zahlreichen Twists

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Ein Haus, zwei junge Frauen, zwei Sprachen und viele Lügen.
Mit Die Taschendiebin (kor. „Agassi“) nimmt sich der koreanische Regisseur Park Chan-wook im Anschluss an sein amerikanisch-britisches Debut Stoker (2013) nun zum zweiten Mal eines nach Korea verlegten literarischen Stoffes an. Während Parks Vampirfilm Durst (kor. „Bak-Jwi“, 2009) sich lose an den menschlichen Bestien in Émile Zolas Thérèse Raquin orientierte, hat er in Die Taschendiebin den historischen Roman Fingersmith (2002) der britischen Schriftstellerin Sarah Waters zur Grundlage genommen, um eine von Intrigen durchzogene lesbische Liebesgeschichte im von Japan besetzten Korea zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu erzählen. Auch nach seiner Rache-Trilogie, in deren Zentrum sein bisher größter Erfolg Oldboy (kor. „Oldeuboi“, 2003) steht, bleibt er dabei den sein Werk bestimmenden Themen – Liebe, Verrat und Gewalt – treu.

Die Taschendiebin präsentiert sich zunächst als bildgewaltiger Kostüm-Thriller, in dem die durch die japanischen Besatzer bedingte bzw. noch verstärkte Armut der Bevölkerung dem Wohlstand der mit ihnen kollaborierenden und ihnen nacheifernden koreanischen Oberschicht gegenübergestellt wird.

Im Auftrag eines sich als der japanische Graf Fujiwara ausgebenden koreanisch-stämmigen Betrügers wird die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Sook-hee als Dienstmädchen der japanischen Adeligen Hideko, die in einem Anwesen bei ihrem koreanischen Onkel mit dem japanischen Namen Kōzawa lebt und ihn später heiraten soll, angestellt, um eine Beziehung zwischen Fujiwara und Hideko anzustacheln. Der Plan ist, Hideko zur Hochzeit mit Fujiwara und zur Flucht nach Japan zu überreden, um sie dort in ein Irrenhaus einweisen zu lassen und ihr Vermögen untereinander aufzuteilen.
Leider kommen ihnen dabei nicht nur die unabhängig voneinander gesponnenen Intrigen der jeweiligen Figuren, sondern auch die Gefühle, die sich zwischen den beiden Waisenmädchen entwickeln, in die Quere.

Park verwendet den ursprünglich im viktorianischen Groß-Britannien angesiedelten Stoff des dreiteiligen Romans, um eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen aus polyperspektivischer Sicht kunstvoll zu inszenieren; er erzählt damit aber auch die Geschichte seines Landes, das bis heute vom komplizierten Verhältnis zu den ehemaligen Besatzern geprägt ist.

Dass die Figuren dauernd mühelos zwischen Koreanisch und Japanisch wechseln und so nahezu die Hälfte des Films in einer heute dem Großteil des koreanischen Publikums fremden Sprache stattfindet – eine durchaus mutige Entscheidung des Regisseurs – bleibt den Rezipienten der deutschen Synchronisation leider verborgen. Details, wie zum Beispiel, dass die Analphabetin Sook-hee, die im Haus von Kōzawa sofort den japanischen Namen Tamako annehmen muss, einen auf Japanisch verfassten Brief falsch herum hält, als sie vorgibt, ihn zu lesen, stehen dabei parallel zum Unvermögen der japanischen Aristokraten, die ihnen präsentierten gefälschten Bücher und die in den hohen Künsten und der japanischen Höflichkeitssprache geschulten Koreaner zu identifizieren, obwohl sie diese doch eigentlich als ihnen unterlegene Rasse ansehen.
Auch heute noch sind die Angehörigen der koreanischen Minderheit in Japan – ungeachtet dessen, dass sie inzwischen oftmals in dritter oder vierter Generation in Japan leben und zum Teil gar kein Koreanisch mehr sprechen können – im Alltag oft Diskriminierungen ausgesetzt, wenn sie nicht die japanische Staatsbürgerschaft annehmen und damit ihren koreanischen Namen, der sie eindeutig als Koreaner erkennbar macht, aufgeben. So behandelt zum Beispiel die japanische Literaturverfilmung GO (2001) des Regisseurs Yukisada Isao die Probleme, mit denen ein Teenager koreanischer Abstammung in Japan konfrontiert wird.
Auch Hidekos Onkel Kōzawa mit der von Tinte schwarz gefärbten Zunge verschweigt seinen koreanischen Namen und spricht ausschließlich Japanisch. Korea findet er hässlich, Japan dagegen schön.

In Die Taschendiebin wird zudem mit Bezügen auf die zahlreichen kulturellen Einflüsse gespielt, die in Japan und Korea zu dieser Zeit wirken. Das Herrenhaus, das Kōzawa bewohnt, besteht zum einen aus einem westlichen, prunkvoll eingerichteten Flügel und zum anderen aus einem japanischen, minimalistisch und traditionell gestalteten Bereich und repräsentiert so die durch die Öffnung Japans zum Ende des 19. Jahrhunderts beförderte kulturelle Hybridität. In seiner riesigen Bibliothek veranstaltet der Onkel Lesungen erotischer Literatur, von chinesischen Klassikern bis zu europäischen, von de Sade inspirierten Werken. Das Interesse an sexuellen Abarten, an Sadismus und Dekadenz spiegelt die in den 1930er Jahren in Japan entstehende, auch durch das erwachte Interesse an der Sexualwissenschaft und der Psychologie mitbedingte „Ero-Guro-Nansensu“-Kunst wider, die sich für das Erotische (ero) und Groteske (guro) begeistert und eine nihilistisch-hedonistische Literatur hervorbringt. Sie verhilft auch den traditionellen erotischen Holzschnitten (shunga) zu einer neuen Popularität. Kōzawas Obsession mit der strengen Erziehung der Frauen in seinem Haus, mit Tentakeln und fragmentierten Geschlechtsteilen steht dabei sowohl für seinen Versuch, sich den Vorlieben und dem Geschmack der japanischen Kolonisatoren anzupassen, als auch für die in diesem Film ausschließlich durch Männer repräsentierte, potenzielle Gewalttätigkeit von Sexualität.

Manchmal wirkt die Bildsprache in dem Film fast zu üppig, rückt zum Teil nah an Klischees. Dass Park ein Regisseur ist, der großen Wert auf die Gestaltung von Räumen, Mustern, Tapeten und Kleidung legt, ließ sich bereits in Oldboy beobachten. Bei der Gestaltung der Szenen in „Die Taschendiebin“ droht jedoch manchmal der Plot hinter die genussvolle Darstellung der Details zurück zu treten.

Ähnlich ist es mit der dargestellten Sexualität, die dort, wo die Erotik etwas subtiler eingesetzt wird, am eindrücklichsten erscheint – so zum Beispiel als Sook-hee der badenden Hideko mit einem Fingerhut einen angeblich zu scharfen Zahn abschleift, oder die Kamera statt die nackten, ineinander verschlungenen Körper zu zeigen, aus der Perspektive des Geschlechts das nahende, gerötete Gesicht Sook-hees filmt.

WER in diesem Film WAS sieht, wird durch seine Dreiteilung allerdings meisterhaft zusammengefügt. Die Konzentration auf die verschiedenen Blickwinkel der ProtagonistInnen klärt dabei nicht nur über ihre jeweiligen Absichten auf, sondern beleuchtet die Hintergründe der Figuren, erzählt die Geschichte von Neuem und weiter. Insbesondere die Blicke der beiden jungen Frauen fängt die Kamera von Chung Chung-hoon gekonnt ein. Sie beobachten sich gegenseitig, blicken durch Fenster, Gebüsche, an Leinwänden vorbei und fahren mit ihren Augen an den unbedeckten Stellen ihrer Körper entlang. Der Voyeurismus der Männer, die mit Schweißperlen auf der Stirn den unanständigen Geschichten lauschen und sich dabei die eigene Züchtigung ausmalen, wird von der Kamera nachvollzogen und somit auf die diesen Bildern Zuschauenden übertragen.

Kim Min-hee, derzeit in deutschen Kinos auch in Hong Sang-soos neuem Film Right Now, Wrong Then zu sehen, spielt ihre Rolle als die japanische, undurchschaubare Hideko ebenso überzeugend wie Kim Tae-ri als die zwar als Taschendiebin begabte, aber sonst völlig ungebildete und zunächst recht naive Sook-hee. Auch wenn sich die Kritik über die Notwendigkeit der expliziten Darstellung der lesbischen Liebeszenen uneinig ist, erscheint die gezeigte Sexualität im Film niemals als billiger Effekt, sondern als logische Folge einer ästhetischen Strategie.

Park beherrscht – auch dies ließ sich schon in Oldboy beobachten – das Spiel mit Twists, mit unverhofften Drehungen und sich dadurch ergebenden neuen Sichtweisen auf die Figuren wie derzeit wenige andere Regisseure. Dass Die Taschendiebin erst mit dem Ende des ersten Teils wirklich spannend wird und sich der Film über fast zweieinhalb Stunden erstreckt, sollte auf keinen Fall davon abhalten, sich diese märchenhafte Liebesgeschichte anzuschauen, in der die Zuneigung der jungen Frauen füreinander sehr schnell offensichtlich, sie aber immer wieder von neuen Wendungen ins Wanken gebracht wird.

Zwar wird die Geschichte von Korea als japanisches Protektorat im Film selbst nicht weiter thematisiert, doch über die verschiedenen Intrigen, die explizit dargestellte Liebe zwischen zwei Frauen und die hier stets männlich bedingte Lust an der Gewalt hinaus erzählt Park mit Die Taschendiebin vor allem mithilfe kultureller Referenzen auch eine politische Geschichte über das schwierige Verhältnis zwischen Korea und Japan, zweier Länder, die sich bis heute gegenseitig kulturell enorm beeinflussen, deren Geschichte jedoch von Krieg und Unterdrückung geprägt ist.

Die Einzigen, die sich von den Rivalitäten und der Einflussnahme freimachen können, sind die zwei jungen Frauen aus unterschiedlichen Kulturen, die, wenn sie niemand beobachtet, ganz selbstverständlich miteinander Koreanisch sprechen und sich von den brutalen und unzulänglichen Männern, die auf die alles zerstörende Gewalt des Pazifikkrieges zusteuern, emanzipieren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christopher Scholz

Christopher Scholz ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er lebt und promoviert in Berlin.

Christopher Scholz

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