Wer schützt uns vor den Egoisten?

Debatte Moral als schreckgespenstiger Wiedergänger voraufklärerischer Dogmen? Eine mutwillige Gleichsetzung von Moral und Religion. Wer so argumentiert, predigt Egoismus

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Wer schützt uns vor den Egoisten?

Bild: geralt / Pixabay (CC o)

Eigentlich war die „Gutmenschen“-Debatte doch seit ca. einem Jahr ausreichend von sämtlichen Medien bespielt worden. Mit Frédéric Schwilden erklärt uns nun aber ein weiterer Autor in der Welt, warum Moral doof und sowieso irrational ist. Im Grunde genommen möchte er sich über die Empörungskultur empören. Stattdessen reiht er sich mit seinem Essay aber ein in den Chor derer, die ALL DIESEN VERDAMMTEN GUTMENSCHEN, DIESEN MORALAPOSTELN, also denen, die einige vielleicht als „kritische“ oder „mahnende“ Stimmen bezeichnen würden, aber auch denen, die mit ihren Zentren möglicherweise eher auf Aufmerksamkeit als auf reflektierte Auseinandersetzung zielen, endlich mal ihre MEINUNG sagen wollen. Dabei gelingt es ihm, Islamismus, Sexismus, Rassismus, die Paradise-Papers und Handball in einen Topf zu werfen – das muss man erst einmal schaffen!

Die Moral hat derzeit einen schweren Stand. Sie gilt als die humorlose Tante, die jeden Anflug von hedonistischem Spaß mit einem bitteren Lächeln quittiert. Moral, politische Korrektheit und Empörung werden dabei zu einem Brei verquickt, der der Meinungsfreiheit den Mund stopfen möchte. Stichwort: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“

Im Mai schrieb Jochen Bittner in der ZEIT, Gutmenschen seien Menschen, bei denen „das moralische Urteil am Anfang des Denkprozesses steh[e] statt an dessen Ende“. Bei ihnen gehe es daher nicht um Argumente, sondern darum wer der bessere Mensch sei. Ganz ähnlich sieht das auch Frédéric Schwilden, der sich allerdings statt an Gutmenschen gleich an der Moral selbst stört. Sein Verständnis davon, was aber Moral eigentlich ist, zeigt, dass der schwere Stand der Moral keineswegs daher rührt, dass sie obsolet geworden ist, sondern dass der Kritik an ihr meistens ein Unwille zur Auseinandersetzung mit komplexen Themen zugrunde liegt.

Schwildens Begriff von Moral ist angenehm einfach: Es gibt nur eine Moral. Moral ist Metaphysik. Moral ist Religion, weil sie letzte Gründe ohne die Notwendigkeit von rationalen Argumenten und logischen Herleitungen annimmt. Dinge sind schlecht, weil sie schlecht sind. „Die Moral kennt keine Frage. Sie ist absolut. Sie ist ein Dogma.“ Aufklärung war gut, weil sie die Gründe der Moral hinterfragte und an deren Stelle die Ethik setzte, „Ethik ist Moral mit Frage und offener Antwort.“

Ungeachtet dessen, dass sich ziemlich viele Menschen seit einer langen Zeit Gedanken um verschiedenste Formen von Moral oder Begründungen für diese machen und die Moral keineswegs mit der Aufklärung verschwunden und auch nicht durch die Ethik als metawissenschaftliche Reflexion moralischer Ansichten einfach ersetzt worden ist, kann man schon verstehen woher Schwilden kommt. Wer eine moralische Norm vertritt, nimmt ihre Allgemeingültigkeit und damit ihre Verbindlichkeit für alle an. Auch islamistische Terroristen glauben an die Allgemeingültigkeit ihrer Normen und rechtfertigen so ihr Handeln gegen Ungläubige. Wenn man aber moralische Normen von Terroristen und das Pochen auf eine allgemeingültige Vereinbarung darüber, dass es so etwas wie eine unantastbare menschliche Würde gibt und man deswegen vielleicht Frauen besser nicht vergewaltigen sollte, auf ein und dieselbe Moral zurückführt, dann lässt sich auch sagen, dass diese Moral „im krassen Gegensatz zu einem staatlichen Gesetz“ stehe. Also kann man machen. Aber dann ist man halt – wie Nadia Shehadeh es bei Twitter treffend ausdrückte – „hohlbrotig.

Recht und Moral sind nicht zwingend abhängig voneinander, dennoch basieren viele Gesetze auf moralischen Vorstellungen. Und richtig: Wer moralisch argumentieren möchte, kommt nicht darum herum, von Normen Gebrauch zu machen. Wie man zu diesen Normen gelangt, darüber herrscht immer noch große Uneinigkeit und es gab und gibt über liberalistische Herleitungen von Gerechtigkeit als Fairness oder diskursethische Metaethiken nach wie vor verschiedenste Vorschläge für Lösungen, die unabhängig von metaphysischen Dogmen funktionieren. Ihnen allen gemein ist aber, dass sie nach für alle verbindlichen Grundsätzen suchen, die eine Bewertung von Handlungen erlauben. Wer nur nach den eigenen Grundsätzen handelt, ohne sich Gedanken um andere zu machen, handelt egoistisch.

Schwilden muss seinen Moralbegriff aber so einseitig und primitiv gestalten, um sich gegen ihn positionieren zu können. Hach! In den Achtzigerjahren war Kokain noch etwas Besonderes, als man noch nicht von dem vielen Blut wusste, das an ihm klebt! Einfach „Der Komissar“ lauter gedreht und schon war das Gewissen übertönt!
Das, was ihn an der Moral als Handlungsanweisung stört, ist, dass sie verpflichtend sein soll. Wer sie aber unabhängig von ihrer (möglichen) Verhandelbarkeit als reine Auslegungssache ohne Verpflichtung begreift, der gibt sie gleich ganz auf. Er hütet sich davor, „Gutmensch“ oder „moralinsauer“ zu sagen – klingt ja so furchtbar nach AfD – stattdessen sagt er „Weltverbesserer“ und „narzisstische Diktatoren“ – und halt „Moralisten“. Wem es allerdings gelingt, schon gleich zu Beginn diese Moralisten „schlimmer als Björn Höcke, Harvey Weinstein und Margot Käßmann zusammen“ zu nennen, der muss sich wohl oder übel die Frage gefallen lassen, wo er seinen moralischen Kompass versteckt hat. Diese vereinfachend-verallgemeinernde Tendenz, etwas, das einem nicht gefällt, als einheitliches und fehlerhaftes System darzustellen und es deswegen grundsätzlich abzulehnen, ist zuvor auch schon in anderen Welt-Essays gelungen. Dafür gibt es dann im Zweifelsfall einen Shitstorm von anstrengenden Moralisten, aber halt auch eine Einladung nach Klagenfurt. Lohnt sich also.

Zu behaupten, dass die, die Rassismen, Sexismen oder Kapitalismus kritisieren, keine überzeugenden Argumente hätten und sich stattdessen auf eine metaphysische Moral beriefen, die sie von Begründungen befreie, ist schlichtweg ignorant. Viele von ihnen geben sich große Mühe, unermüdlich wieder und wieder zu erklären, warum ein bestimmtes Verhalten möglicherweise eben nicht in Ordnung ist. Sie schreiben Bücher, Artikel um Artikel, Kolumne um Kolumne darüber, sie halten Vorträge und wenn sie das gut machen, dann gewinnen sie sogar Preise dafür. Wer sie aber erst gar nicht lesen möchte, der will sie auch nicht verstehen, der will auch keine Argumente hören. Wer einen Text mit dem Urteil „Moralapostel!“ beiseite wischt, der ist nicht besser als der, der „FAKE NEWS!“ ruft, weil er sich nicht mit unangenehmen Wahrheiten beschäftigen möchte.

„Moral ist Crystal Meth für die Gesellschaft. Kurzzeitig fühlen wir uns megageil, aber am Ende fallen uns die Zähne aus“, schließt Schwilden seine Abrechnung mit der „Moral“. Also eigentlich mit den „Moralisten“, aber das ist ja das gleiche, oder? Megageiler Schlusssatz aber, also egal und noch ein bisschen zu „Der Kommissar“ auf einer coolen Achtziger-Party abgegangen. Das waren noch Zeiten!

Nun gut, versuchen wir einen ähnlich hohlbrotigen Schluss:

Solche Essays sind Kokain für die Gesellschaft. Auch wenn ganz viel falsch daran ist, fühlen sie sich irgendwie megageil an. Man kann einfach mal auf diese ganzen nervigen Menschen scheißen, die einem dauernd ein schlechtes Gewissen machen, und sich gut fühlen. Aber am Ende wird man zu einem unausstehlichen Egoisten ohne Nasenscheidewand. Hm.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christopher Scholz

Christopher Scholz ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er lebt und promoviert in Berlin.

Christopher Scholz

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