Die Beute (5) Wie Dr. M. unsere Fa. übernahm

Arbeitswelt Ribanna Rubens erinnert sich. Vor dem Verkauf der Fa. sorgten viele unproduktive Tage für gedrückte Stimmung. Doch es gab ja ihren Kollegen Tony ... 5. Bleierne Zeiten

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Tony G. ist ein Mann Anfang Fünfzig, etwas untersetzt, grauer Vollbart, Typ Teddybär - und, um es gleich zu sagen, ich hatte eine kurze Affäre mit ihm. Beruflich habe ich ihn immer sehr kompetent erlebt, einer dieser bescheidenen, gutmütigen Menschen, die sich nicht in den Vordergrund spielen können, an die man sich aber gern erinnert, wenn es einem schlecht geht oder man jemanden sucht, der einem einen Gefallen tut. Eine große Karriere wird er sicher nicht machen, dafür darf man sicher sein, wenn er eine Lösung sucht für ein Problem, auch wenn es einen Tag länger dauert, dann ist es eine dauerhafte Lösung und nicht eine, bei der einem das Problem in vier Wochen wieder vor die Füße fällt.

Obwohl ich sonst in der Firma wenig Anschluss fand, kam ich mit ihm ganz gut ins Gespräch, vielleicht weil wir fast um die gleiche Zeit dort anfingen und schon nach kurzer Zeit begriffen, in welche Sackgasse wir geraten waren. Gemeinsam versuchten wir zu ergründen, warum ein Unternehmen in einer Zeit, wenn andere nichts unversucht lassen um vorhandenes Personal loszuwerden, noch zusätzliche Leute einstellt, für die man im Grunde keine Aufgaben hat. Und erst im Nachhinein begriffen wir, dass wir ein paar Reformchaoten in die Hände gefallen waren, die gar nicht verstanden, welchen Schaden sie mit ihren Fehlentscheidungen anrichteten.

Ach Rübchen, was machen wir bloß hier, scherzte Tony manchmal, wenn er in mein Büro kam.

Wir sitzen also herum und vertrödeln die Zeit. Was tut man - etwa kündigen? Und wie erklär'n wir das dem Arbeitsamt in einer Zeit, in der es Millionen Arbeitslose gibt?

Oder man versucht zuerst was Neues zu finden. - Ja gut, aber wie sieht das aus, wenn man nach so kurzer Zeit den Job gleich wieder hingeschmissen hat. Jeder denkt doch sofort, da ist jemand nicht klargekommen, und wer weiß woran es gelegen hat, womöglich hängt es mit dem Alter zusammen …

Man ist auf jeden Fall in einer beschissenen Situation.

Das Schlimmste aber ist, niemand begreift das Problem. Jedenfalls nicht so richtig. Für unterforderte Männer gibt es vielleicht noch ein Fünkchen Anteilnahme, für unterforderte Frauen nicht einmal das. Stattdessen redet jeder den gleichen Blödsinn daher, bricht womöglich gar in Begeisterungsschreie aus: Aber das ist doch schön, wenn du einen lauen Lenz hast. Freu' dich doch. Ich würde gern tauschen …

Detlef, zum Beispiel, unser Betriebsrat, wenn ich mich gelegentlich bei ihm beklagte, sagte bloß immer: Hol dir doch einfach erstmal 'n Kaffee. Und red' nicht so laut. Muss doch nicht jeder hören, dass du nichts zu tun hast.

Dieser blöde Hund. Ich hätte ihm einen Tritt versetzen können. Versteht mal wieder nur Bahnhof …

Ich will keinen Kaffee trinken, murrte ich dann gereizt, und ich will auch nicht leise sprechen. - Aber was predige ich tauben Ohren.

In der Firma wollten wir nicht, dass unsere Affäre bekannt wird, weil Tony verheiratet ist und schon zwei Enkelkinder hat, während ich seit meiner Scheidung mehr als Abenteurerin lebe, die sich auf keine dauerhafte Beziehung festlegen will. Deshalb sprachen wir dort wenig miteinander und vermieden bald alle Begegnungen, um nicht durch zuviel Vertraulichkeit aufzufallen.

Zu meiner Rechtfertigung muss ich außerdem sagen, dass ich nur noch sehr selten Affären mit verheirateten Männern habe, weil ich das nicht in Ordnung finde, diese beim Fremdgehen zu unterstützen. Theoretisch zumindest. Praktisch gesehen, na ja, so viele Männer treffe ich nicht mehr, mit denen sich was anfangen lässt, da läuft das dann ganz von allein etwas laxer. Trotzdem würde ich Tony nie aus seinem Reihenhäuschen herausholen wollen.

Als Tony seine vorherige Stelle verlor, geriet er irgendwie in Panik, weil jeder um ihn herum davon redete, wie schwer es für ihn sein würde, etwas Neues zu finden, weil jeder ihm in so einer Mitleidshaltung begegnete, als wäre er mindestens an Krebs erkrankt und innerhalb kürzester Zeit dem Tode geweiht. Ständig glaubte er überall Anspielungen auf sein Alter herauszuhören und alle möglichen Leute taten so, als müsse er sich gleich zur Ruhe setzen, als sei es schon so gut wie sicher, geradezu unabwendbar, dass er demnächst dieses neue Hartz-IV beantragen werde, das damals gerade eingeführt wurde. Niemand gab auch nur einen Pfifferling darauf, es könne ihm gelingen einen neuen Job zu finden, und schon gar nicht in seinem Beruf als Betriebsinformatiker und EDV-Fachkraft, ausgerechnet eine Branche, die förmlich nach ewigem Jungbrunnen schreit. Ursprünglich hatte Tony mal eine kaufmännische Ausbildung absolviert, sich dann aber nach einer früheren Arbeitslosigkeit umschulen lassen. Zuletzt war er fast ein Jahrzehnt bei einem großen Anlagenbauer beschäftigt, wo er als einer von mehreren System-Administratoren schon ein recht anspruchsvolles Arbeitsfeld abdeckte. Bis seine Stelle nach einem Outsourcing dem Rotstift zum Opfer fiel. Pech ...

Umso größer die Erleichterung als er schon auf die fünfte oder sechste Bewerbung hin eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch erhielt. Eva, meine Kollegin, rief ihn an, um den Termin zu vereinbaren.

Dieses Vorstellungsgespräch, das er mit dem Prokuristen Sebastian M. führte, hinterließ bei Tony ein eher ungutes Gefühl. Gelände und Räumlichkeiten des Unternehmens, soweit er sie zu sehen bekam, wirkten zwar äußerlich intakt, doch bemerkte er auch die Spuren von Verschleiß und Überalterung, als habe es dort seit Jahrzehnten kaum Erneuerung gegeben. Vor allem jedoch störte ihn, dass es in diesem relativ kleinen Betrieb noch einen weiteren System-Administrator gab, ein Umstand, den Sebastian M. nur beiläufig erwähnte.

Gibt es hier so viel zu tun im EDV-Bereich, fragte Tony vorsichtig, um nicht den Eindruck zu erwecken, er sei im Grunde nicht interessiert.

Ja doch, beteuerte Sebastian M. und lächelte geschmeichelt, wir haben da einige Pläne. Nach einem Wechsel im Management erleben wir einen derartigen Boom, unglaublich was da alles reinkommt an Anfragen seit ein paar Monaten, was da alles läuft an Projekten. Die Kunden reagieren sehr positiv auf die neue Leitung, wir müssen unsere Kapazitäten ausbauen ...

Mit „neuer Leitung“ meinte er das Ausscheiden von Gunnar P. und seine eigene Berufung als dessen Nachfolger.

Das klingt vielversprechend. Eine gute Auftragslage ist natürlich immer sehr erfreulich, antwortete Tony etwas lahm. Und welche Aufgaben genau soll ich übernehmen? In Ihrer Anzeige steht, dass Sie neue Software-Anwendungen planen. Womit arbeiten Sie denn zur Zeit …?

Wir sind noch in einer Umstrukturierung begriffen und haben eine Unternehmensberatung im Haus, deren Vorschläge wir gerade abarbeiten, erläuterte Sebastian M. In die Einzelheiten der EDV bin ich nicht eingeweiht, das macht Herr K., unser Geschäftsführer, aber Ihre erste Aufgabe wird voraussichtlich die Einführung des marketing.managers sein, mit dem Sie ja bestens vertraut sind, wie Sie schreiben. Herr K. und ich haben uns das Programm vorführen lassen und sind ganz begeistert. Bei Porsche soll das sehr erfolgreich laufen.

Tony schluckte und wusste nicht recht, was er sagen sollte. Hm ja, Customer Relationship Management ist jetzt sehr gefragt, erwiderte er dann, sehr nützlich für den Informationsaustausch, wenn verschiedene Leute an größeren Projekten arbeiten. Ja, kenn' ich gut.

Sebastian M. blätterte in Tonys Unterlagen und schien ziemlich beeindruckt zu sein.

Sie haben ja schon einiges gemacht, bemerkte er anerkennend. In einer kleineren Firma braucht man unbedingt vielseitige Leute, die bei Bedarf auch in anderen Bereichen aushelfen können. Ihre Erfahrungen werden uns sicher nützlich sein. Wir kämpfen natürlich auch mit dem derzeitigen Investitionsstau, wissen Sie, das alte Management hat uns eine Menge Probleme hinterlassen ... Eine Andeutung von Verlegenheit lag auf seinem Gesicht.

Tony merkte gleich, dass Sebastian M. keine Ahnung hatte.

Das Gespräch über Geld erwies sich zum Glück als weniger schwierig. Er hatte den Eindruck, es sei dem Prokuristen peinlich zu feilschen, jedenfalls akzeptierte dieser relativ schnell seinen Vorschlag und Tony stellte die alles entscheidende Frage, die jedes Vorstellungsgespräch beschließt:

Wie lange Herr M. denn brauche für die Entscheidung, es gebe sicher noch mehr Kandidaten.

Sebastian M. lächelte, als habe er ein Königreich zu verschenken.

Er werde ihn innerhalb der nächsten drei Tage anrufen, versprach er mit entschlossener Stimme. Man wolle den Posten schnell besetzen.

Tony verließ das Firmengelände mit dem Gefühl, dass es nichts werden würde und dass es auch das Beste wäre, nie wieder hierher zu kommen. Es kam anders …

Im Nachhinein wünschte Tony - aber hinterher ist man immer klüger, er hätte es nicht so verdammt eilig gehabt, gleich wieder eine neue Stelle zu finden, hätte auf seine Frau gehört und in Ruhe das Arbeitslosengeld mitgenommen statt in einer Firma anzufangen, in der es soviel Leerlauf und schlecht verteilte Beschäftigung, vor allem jedoch zuviel widerstreitende Kräfte unter der Oberfläche gab. Oft ging er mit Unlust zur Arbeit, weil er nicht wirklich gebraucht wurde; die Zeit schleppte sich zäh dahin, mit Nichtigkeiten notdürftig ausgefüllt oder besser totgeschlagen; abends fühlte er sich deprimiert und niedergeschlagen, weil nichts Produktives geschah und seine einzige Abwechslung aus gelegentlichen Plauderstündchen mit den beiden Putzfrauen bestand, die ihm ihre komplizierten Lebensgeschichten erzählten - das einzig Komplizierte, das ihm in diesem Unternehmen je begegnete.

Im Nachhinein verfluchte Tony seinen Eifer sich als guter Bürger zu zeigen, die törichte Erleichterung darüber den Klauen des Arbeitsamtes entronnen zu sein, den Erklärungen und Rechtfertigungen, der immerwährenden Drohung, die über einem hing, dass es ohnehin nur zwei Alternativen gab: Die eine - sich damit abfinden, aus der Mitte des Lebens beiseite gedrängt worden zu sein, aus vorbei, das Ende der Straße so gut wie erreicht. Die andere - sich anpassen, nicht wählerisch sein, keine Ansprüche und nichts in Frage stellen, einfach weiter funktionieren, morgens aufstehen, zur Arbeit gehen, ein Tag voller mechanischer Abläufe und Betätigungen, so ist das Leben, und bloß nicht anfangen ins Grübeln zu kommen. Und um einen herum schwirren die vielen Stimmen und Meinungen, die Ansichten von Moderatoren und Meinungsführern, von Experten und Politkern, die die Vielfalt der Chancen preisen, all die phantastischen Möglichkeiten, die Freiheit der Wahl, die unsere demokratische, pluralistische und individualisierte Gesellschaft bietet. Aber dann, wenn's drauf ankommt, wo sind sie wirklich, die Vielfalt und die Möglichkeiten, wo sind die Türen, die sich öffnen und nicht wie eine Fata Morgana in unerreichbare Ferne verschwinden, sobald man ihnen näherkommen will oder an denen man vergeblich rüttelt. Mit viel Glück öffnet sich am Ende eine einzige Tür, und voller Reue über die Anmaßung sich ein besseres Schicksal erträumt zu haben, beeilt man sich einzutreten. Ein bisschen Desillusionierung und Resignation ist immer dabei, aber wenigstens hat man seine Pflicht als nützliches Mitglied der Gemeinschaft erfüllt und kann so weiterleben, wie man es gewohnt war. Und alle lehnen sich zurück, weil eine Gefahr abgewendet ist.

Als nach drei Tagen der versprochene Anruf nicht kam, hätte Tony die Sache am liebsten auf sich beruhen lassen. Doch es gelang ihm nicht, ein hartnäckig bohrendes Pflichtgefühl zu unterdrücken, bis er erlag und selber nach dem Hörer griff.

Als er Sebastian M. in der Leitung hatte, zögerte dieser einen Moment - und siehe da, er sagte, Tony könne zum nächsten Ersten anfangen, man werde ihm den Arbeitsvertrag zuschicken.

Tony glaubte immer, wenn er nicht angerufen hätte, wäre ihm vieles erspart geblieben.

Danach dauerte es nur ein paar Wochen, bis er das ganze Ausmaß des Desasters sah, in das er geraten war. Der von Sebastian M. vollmundig prognostizierte Auftragszuwachs erwies sich als kurzes Strohfeuer, dem eine Phase zunehmender Ermattung folgte, in der vor allem dieser selber in Lethargie verfiel. Die Geschäfte lagen am Boden, auch wenn rundherum alles emsig beschäftigt erschien. Zwar war sein Kollege ein netter Kerl, der aber längst ein eigenes System von Arbeitsbeschaffung entwickelt hatte, mal hier mal da bei Dokumentation und Zeiterfassung aushalf und von Tony erwartete, dass er es genauso hielt.

Fortsetzung folgt

Hinweis: Namen wurden geändert, Ähnlichkeiten sind Zufall.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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