Doreen oder Die Mädchenwelt (11)

1.9.0. Freitagnachmittag im Betrieb: Dagmar ist auf der Suche nach Doreen und findet diese schließlich an einem ungewöhnlichen Ort … - Kapitel 9/9: An einem Freitag ...

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Es war Freitag, der Tag, an dem der Betrieb bereits mittags um dreizehn Uhr schloss, und nicht alle, aber doch die meisten Leute machten auch wirklich Feierabend und sickerten einzeln oder in kleinen Grüppchen aus den verschiedenen Gebäudeteilen des ehemaligen Lampenwerkes heraus. Dagmar musste freitags nachmittags allerdings bleiben bzw. sie löste an diesem Tag wie an allen anderen Tagen der Woche mittags um zwölf Uhr dreißig Eva ab, die dann zu ihren Kindern heimeilte - so war es jedenfalls vereinbart, Herr Müller bestand darauf und zwar mit der Begründung, es müsse immer jemand da sein, falls er etwas Dringendes diktieren wolle, damit dies dann gleich am Montagmorgen bei dem jeweiligen Empfänger auf dem Tisch läge.

Nun lag die Sache aber so, dass es eigentlich niemals vorkam, dass er am Freitagnachmittag etwas diktierte und schon gar nichts Dringendes, ihr auch keine anderen Aufgaben zu erledigen gab, so dass Dagmar während dieser Nachmittage verdrossener noch als sonst ihr Missfallen an der Situation zur Schau trug und sich zunehmend über diese Anwesenheitspflicht zu ärgern begann, zumal auch von den sonstigen Mitarbeitern der Abteilung, die teils zum Wochenausklang noch Liegengebliebenes aufarbeiteten, niemand sie mit Arbeit versorgte. Auch war den beiden Putzfrauen erlaubt worden, an diesem Tag etwas früher als gewöhnlich zu kommen, und spätestens wenn diese ihre Arbeit beendeten, musste auch Dagmar das Gelände verlassen, es sei denn, es war noch jemand im Hause, der wie Herr Müller eigene Schlüssel besaß, da ansonsten Frau Rader bei ihrem Abgang das gesamte Gelände einschließlich des Eingangstores für das Wochenende verschloss.

Für Dagmar, die mit der Bahn zur Arbeit kam, lohnte sich die Anreise deshalb im Grunde häufig nicht, da sie nicht selten bereits nach gut zwei, höchstens drei Stunden nutzloser Anwesenheit das Feld wieder räumen musste und von den Putzfrauen zum Aufbruch gedrängt wurde. Jedoch waren alle Versuche, Herrn Müller davon zu überzeugen, ihre wöchentliche Arbeitszeit einfach auf vier Tage zu verteilen und ihr aus Gründen der Effizienz den Freitag ganz freizugeben, auf völlig taube Ohren gestoßen. Dagmar hatte wie so oft innerlich geschäumt.

An diesem Freitag nun, einige Wochen nach dem Tod von Doreens Kind, war der Prokurist überhaupt nicht anwesend, und Dagmar, die von Frau Rader bereits wusste, dass sie spätestens um halb vier „vom Acker“ sein sollte, wie diese es ausdrückte, schaute unlustig zwischen dem Text auf ihrem Bildschirm, der Uhr an der Wand und einer dunkel vor ihrem Fenster drohenden Gewitterwolke hin und her, während der Nachmittag träge dahinkroch. Ihr Zug nach Münster fuhr stündlich, immer um 47, also 13 Minuten vor jeder vollen Stunde, ihr Aufbruch erfolgte deshalb zumeist um kurz nach halb, da sie für die Strecke vom Werk bis zum Bahnhof mit dem Fahrrad, das sie eigens für diesen Zweck hier deponiert hatte, je nach Tempo und Laune zwischen fünf und zehn Minuten benötigte.

Frau Rader ärgert sich

Während sie noch halbherzig an einer längst abgeschlossenen Übersetzung feilte, betrat um zwanzig nach drei Sigrid Rader mit kampfeslustig geschwollener Stirn, eine geräumige Korbtasche mit ihren Utensilien in den molligen Armen haltend, das Büro. Eine großgeblümte Bluse umwehte die füllige Gestalt.

„Doreen ist verschwunden,“ erklärte sie mit kaum verhohlener Heftigkeit in der Stimme.

Dagmar verstand nicht, was „verschwunden“ bedeutete, doch ohne sich mit Vorreden oder Erklärungen aufzuhalten, schimpfte Frau Rader unaufhaltsam weiter:

„Immer dieses Theater, was glauben Sie, wie leid ich es bin, haut einfach ab und sagt nicht Bescheid, aber ich mache nicht schon wieder ihre Arbeit, ich räume nicht hinter ihr her, ich bin das jetzt endgültig leid ...“

Dagmar, die das Reibungsverhältnis der beiden Frauen untereinander nicht allzu ernst nahm und die Doreen bereits im Hause hatte herumlaufen sehen, fragte milde, was denn geschehen sei.

„Ihre Putzsachen liegen mitten auf dem Flur herum, aber der Flur ist nur halb gewischt, und jetzt ist sie weg, verschwunden, keine Spur von ihr ...“

Dagmar sagte, das könne doch nicht sein.

„Doch,“ beharrte Frau Rader, „wenn ich es Ihnen doch sage, doch kann es sein. Sie war bei Rudi und dem hat sie was vorgejammert, von wegen dass ihr nich' so richtig gut wäre wegen dem Kind und alles, aber ihr is' ja nie gut … Aber sonst hat sie nichts gesagt - dass es ein Scheißtag wäre, aber das sagt sie ja immer, aber nicht dass sie weggeht oder nach Hause will ... Und jetzt ist sie einfach verschwunden, hat einfach alles steh'n und liegen gelassen, was das für ein Benehmen ist, sind auch keine Sachen mehr von ihr da, aber vielleicht hat sie nichts mitgehabt und das Handy und die Schlüssel in der Hosentasche ...“

Sie zuckte unwirsch, wie zur Bekräftigung dieser Annahme, die rundlichen Achseln.

Dagmar griff nach dem Telefon, doch Frau Rader stoppte sie in der Bewegung.

„Meldet sich nicht, nur Mailbox, brauchen Sie gar nicht versuchen ….“

„Vielleicht is' sie auf 'm Klo eingeschlafen,“ warf Dagmar auflachend ein und legte den Hörer zurück, aber Frau Rader schnaubte nur wütend, sie habe überall nachgesehen, auch auf den Toiletten, und in den Waschräumen, im ganzen Betrieb, einfach überall, aber dort sei keine Doreen und auch keine Spur von ihr.

„Sie ist nicht da, sie ist nirgends, sie ist weg,“erklärte sie kategorisch.

Dagmar registrierte wieder einmal, dass allein allerheftigster Zorn Frau Raders Ausbrüche von Lachen verhindern konnten.

„Is' Rudi denn noch da?“ fragte sie, da sie wusste, dass der Montageleiter ebenfalls einen eigenen Schlüssel besaß. Wieder sah sie auf die Uhr und begann die wenigen Unterlagen, die sich auf ihrem Schreibtisch befanden, beiseite zu räumen.

„Nein,“erwiderte Frau Rader mürrisch, „is' gerade weg, is‘ keiner mehr da außer Sie und ich, und ich muss jetzt auch weg, ich muss Fabi abholen, oder soll ich ihn vielleicht auf der Straße stehen lassen?!“ Ein vorwurfsvoller Blick traf Dagmar, als habe diese ihr ein solches Verhalten nahe zu legen versucht. Der übergewichtige Fabian besuchte freitags nachmittags neuerdings einen Ernährungskurs in einer pädagogischen Kochschule, von der ihn seine Mutter mit dem Wagen abholte.

„Ja gut,“ sagte Dagmar und schickte sich an, den Computer herunterzufahren, das ist doch auch alles in Ordnung. Was ist denn jetzt genau das Problem?“

„Ihr Fahrrad ist noch da,“ sagte Frau Rader, und jetzt wurde auch Dagmar hellhörig.

„Sie können auf keinen Fall das Gelände abschließen, solange wir nicht wissen, was mit Doreen ist,“ erklärte sie bestimmt, „da kann ja sonst was sein, vielleicht ist sie ohnmächtig geworden, liegt irgendwo herum; sie hat vor kurzem einen schweren Schicksalsschlag erlitten, da muss man doch Verständnis haben, Rücksicht nehmen, und wenn ihr Fahrrad noch hier ist, wird sie auch irgendwo sein. Sie wird schon wieder auftauchen …“

„Sie ist nicht da, ich sag' Ihnen doch ….“

„Gut, vielleicht hat ihr Mann sie abgeholt. Ich hab' zwar nichts gesehen ….“

Dagmar blickte aus dem Fenster auf die breiten Auffahrtwege und das Gartenstück hinaus, wo verwelkte Lupinen und hohe Papyrusgräser, die das mittlere Rondell mit dem Firmenlogo umkreisten, sich unruhig in dem böig aufkommenden Wind wiegten. Aus der Gewitterwolke fiel bereits leiser Nieselregen herab, sie würde auf der Fahrt zum Bahnhof nasswerden, ausgerechnet heute, wo sie ihr gutes Jackett trug.

„... aber wir müssen uns auf jeden Fall vergewissern.“

Frau Rader, die ungern Widerstand spürte, begann erneut zu protestieren: „Sie ist bestimmt nach Hause gegangen, da wett' ich drauf,“ zeterte sie, „also gehen wir jetzt auch, wahrscheinlich ist sie zu Fuß gegangen oder jemand hat sie mitgenommen … Ich muss jetzt unbedingt los, ich muss Fabi abholen, ich mach‘ dieses Theater nich‘ mehr mit ...“

„Ich rufe bei ihr zu Hause an,“ sagte Dagmar, die wusste, wie stur die Putzfrau sein konnte, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. Sie suchte die Nummer heraus und wählte, aber sofort nach Herstellung der Verbindung schaltete sich der Anrufbeantworter ein.

„Der Mann schläft doch immer tagsüber,“ sagte Frau Rader, „deshalb läuft der Anrufbeantworter.“

Dagmar wählte die Handynummer, auch dort sprang, wie von Frau Rader vorhergesagt, nach kurzem Klingeln die Mailbox an. Daraufhin rief Dagmar erneut in der Wohnung an und hinterließ auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht, dass Doreen oder ihr Mann sich sofort bei ihr in der Firma melden sollten.

Alle Versuche, Frau Rader noch länger zurückzuhalten, waren vergeblich und Dagmar ließ sie ziehen. Die Putzfrau instruierte sie noch dahingehend, dass sämtliche Nebeneingänge bereits verschlossen wären, nur die Tür des Haupteinganges, die man von außen ohnehin nur mit einem Schlüssel oder einer Codekarte öffnen konnte, lasse sie einstweilen offen, damit Dagmar auf jeden Fall hinauskönne; sie selber komme notgedrungen am Abend noch einmal vorbei, um dann auch das Tor abzuschließen. Danach verschwand sie, Dagmar blieb allein zurück und überlegte, was am besten zu tun wäre.

Wo ist Doreen?

Da sie nicht einfach am Telefon sitzen und warten wollte, unternahm sie einen Rundgang durch die Firma und wanderte zunächst die verlassenen Bürofluchten, dann die vor sich hindämmernden Hallen und Fertigungsstätten ab. Sie durchquerte den fensterlosen Ausstellungsraum, in den sie sich manchmal flüchtete, wenn sie versuchte, ihrem Büroalltag ein wenig skurrile Ästhetik abzugewinnen, ein Lampenkabinett vollgestellt mit Deckenleuchten, Standleuchten, Pendelleuchten, Wandleuchten und Lüstern vergangener Geschmacksepochen - deutsche Behaglichkeit mit Troddeln und Fransen, Schnörkeln und Ornamenten versehen, Gediegenes aus Stoff, aus Glas, aus Metall, zu dieser Stunde von einem Notlicht schwach bestrahlt. Der Betrieb bestand aus einem älteren, schon recht maroden Gebäudekern, an den man mehrfach nachträglich Anbauten und Erweiterungen, auch den Seitentrakt angeflickt hatte, woraus sich insgesamt eine sehr verwinkelte Struktur ergab. Die ursprünglichen Fertigungsanlagen wurden schon längst nicht mehr benötigt, da die Firma nach einigen schwierigen Übergangsphasen sich neuerdings verstärkt auf den Vertrieb von Beleuchtungskonzepten und Lichtanlagen für bauliche Großprojekte sowie auf die damit verbundene Ingenieurstechnik zu spezialisieren versuchte. Ein seit Jahren geplanter Abriss alter Gebäudeteile und der Bau eines neuen Verwaltungsgebäudes waren trotz mehrerer Anläufe bisher stets an den Kosten gescheitert oder vielleicht auch aus mangelndem Interesse der Eigentümerfamilie aufgeschoben worden.

Dagmar, die sonst aus ihrem Bürotrakt nur selten herauskam, betrat hier ihr wenig bekanntes Terrain, erklomm Treppen, die an der einen Seite vom Haupttrakt hinauf, an der anderen in den Nebentrakt hinunterführten, öffnete schwere Eisentüren zu Werkstätten und Materiallagern, umrundete Ecken und schritt lange Gänge ab, von deren Wänden der Putz rieselte und dick geriffelte, fast blinde Scheiben nur ein stark gedämpftes Licht hereinließen. In den noch genutzten Hallen standen während der Arbeitszeit die großen Tore offen, die für ausreichend Helligkeit sorgten. Überall herrschte eine Atmosphäre von Verschleiß, sah man die Zeichen von Überalterung und Verfall, die Dekadenz einer den Anforderungen der technischen Innovation nicht mehr gewachsenen Industrieruine. Und obwohl Dagmar sich abergläubische Furchtsamkeiten nicht gestattete, empfand sie doch das leicht Gruselige und die eigene Schutzlosigkeit angesichts der vollständigen Verlassenheit eines Ortes, den sonst zahlreiche Menschen bevölkerten. Sie lächelte in sich hinein, als ihr aus ihrer lange zurückliegenden Schulzeit eine Gedichtzeile einfiel: „Dröhnt hier ein Tritt? Schleicht dort ein Schritt? ...“, während draußen durch die Wände gedämpft der ferne Donner des heraufziehenden Gewitters grollte.

Wenn sie etwas fürchtete, dann nicht die rächende Hand des Allmächtigen sondern die ganz reale irdische Tücke von Türen und Schlössern, und fast wartete sie darauf, dass ihr ein plötzliches Hindernis die Rückkehr versperren würde, aber kein Geist und kein Ungemach belästigte sie und nichts dergleichen geschah. Doch wohin sie auch kam und welche Türen sie auch öffnete, von Doreen fand sich keine Spur, alles blieb still und leer, nur sie selber begann sich zunehmend wie ein Eindringling zu fühlen, der anderen heimlich hinterherschlich, eine Ertappte, die zusammenzucken würde, wenn tatsächlich jemand auftauchte.

Schließlich kehrte sie an ihren Arbeitsplatz zurück.

Draußen rauschte der Regen von einem verdüsterten Himmel herab, für zehn Minuten folgten grelle Blitz- und krachende Donnerschläge in schneller Folge, dann begann das Gewitter in ein Wetterleuchten überzugehen. Sie rief noch einmal Doreens Nummer an, hinterließ eine weitere Nachricht auf dem Anrufbeantworter und überlegte, ob sie vielleicht den Geschäftsführer benachrichtigen sollte, um die Verantwortung bei diesem abzuladen, ob sie überhaupt etwas tun müsse, da ihr die ganze Sache lästig zu werden begann. Sie wäre gern nach Hause gefahren - hatte sie den Zug um viertel vor vier bereits verpasst, wollte sie auf jeden Fall den nächsten erreichen, was sollte sie noch hier, Frau Rader würde sie auslachen, wenn sie wiederkam, da es niemandem wirklich half, wenn sie in ihrem Büro herumsaß. Falls Doreen wirklich abhanden gekommen war, was bei genauer Überlegung nicht allzu wahrscheinlich schien, falls aber doch, würde ihr Mann es als Erster bemerken - sie selber konnte da kaum etwas tun, um dem vorzugreifen. Wer weiß, warum sie ohne Fahrrad aufgebrochen und mit wem sie mitgefahren war, suchte Dagmar sich selbst zu überzeugen, es gab so viele Möglichkeiten, sie steigerte sich in eine völlig übertriebene Besorgnis hinein, doch all diesen beschwichtigenden Überlegungen zum Trotz brachte sie es dennoch nicht über sich, einfach zu verschwinden.

Ein seltsames Versteck

Sie saß eine Weile tatenlos herum, während die Zeit zwar zäh wie Blei verstrich, sich aber doch unaufhaltsam auf fünf Uhr zubewegte, und plötzlich kam ihr eine Idee, wo Doreen sein könnte: In der Wohnung ....

Oberhalb der Schnittstelle zwischen Büro- und Fertigungstrakt hatte es früher eine Privatwohnung, d.h. eine kleine ausgebaute Dachwohnung gegeben, deren zwei oder drei Räume jedoch schon lange nicht mehr für den ursprünglichen Zweck sondern als Abstellkammern für aufbewahrungspflichtige Unterlagen sowie für allerlei ausrangiertes Gerümpel genutzt wurden, ganz nebenbei aber auch als Depot für die firmeneigenen Bestände an Werbematerial dienten. Folglich sollte diese Wohnung immer abgeschlossen sein, da von diesem Werbematerial - Berge von Kappen, Kulis, Kalendern lagen dort herum, dazu einige teure Füllfederhalter und hin und wieder sogar ein Werkzeugkoffer, angeblich immer wieder etwas abhanden kam. Der Schlüssel lag bei Katja Freese, der Chefsekretärin, in Verwahrung und musste bei Bedarf von dieser geholt werden, aber Dagmar hatte die Türe bei ihren seltenen Besuchen, wenn sie nach alten Akten suchte, auch schon offen vorgefunden. Zwar war ihr nie aufgefallen, dass dort jemand sauber gemacht hätte und der überall fingerdick herumliegende Staub sprach auch nicht für derlei Aktivitäten, aber Doreen besaß Schlüssel für den Seitentrakt und vielleicht passte einer ihrer Schlüssel auch zu dieser Wohnung. Auf jeden Fall wollte sie nachsehen und sich überzeugen, dass sie keine Möglichkeit außer Acht gelassen hatte.

Um nicht den Außenaufgang nehmen zu müssen, da sie dafür das Gebäude hätte verlassen müssen, durchquerte sie die vordere Halle bis zum mittleren Quergang, von wo aus sich eine schmale Wendeltreppe aus Metall in den oberen Stock hinaufwand, und richtig, als sie nach der Klinke fasste, stellte sie fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Sie öffnete. Da kein Licht brannte, lagen die Räume wegen der schmalen und jahrelang nicht geputzten Fenster in einem schwach diffusen Licht da; lange Regale mit teils deckenhohen Ordnerreihen versperrten ihr zusätzlich die Sicht. Nach der Hitze der vergangenen Wochen herrschte hier eine backofenartige Wärme und der staubig holzige Geruch von ungelüfteten Dachböden schwebte im Raum. Wie immer, wenn sie hierher kam, überfiel Dagmar ein Gefühl von Deplatziertheit angesichts ihrer eleganten Bürokleidung an einem so verwahrlosten Ort.

Sie sah sich um, betrat den nächsten Raum, konnte nichts entdecken und dachte bereits, dass auch dies ein Fehlschlag wäre, als sie bemerkte, dass im hinteren Zimmer die Tür eines wuchtigen Kleiderschrankes, der noch von annodazumal seinen Platz dort behauptete - vermutlich weil man ihn für den Abtransport hätte zerlegen müssen, einen Spalt breit offen stand. Sie öffnete die Tür ganz und da saß Doreen auf dem Boden des leeren Schrankes, die Beine angewinkelt, den Rücken gegen das Seitenteil gestemmt, den Kopf auf die Knie gesenkt. In einem anderen Winkel des Schrankes stand außerdem eine der mit dem Firmenlogo bedruckten Leinentaschen des Unternehmens, und diese Tasche war offenbar bis zum Rand vollgestopft mit den farbigen Poloshirts des Montagepersonals, die, in Zellophan verpackt, hier ebenfalls stapelweise lagerten, und möglicherweise, dies konnte Dagmar nicht sehen, noch mit anderen Dingen. Ob diese Tasche zufällig dort stand oder ob Doreen sie für sich gepackt hatte, war nicht zu erkennen.

Doreen blickte mit halb kläglicher, halb verschmitzter Miene auf, als habe Dagmar ein kindliches Versteckspiel beendet. Staub hatte auf der einen Hälfte ihres Gesichtes eine leichte Spur hinterlassen, oder waren es Spuren von Tränen? Auch ihr blass gemustertes T-Shirt zeigte einige kleine, aber gut sichtbare Flecken, die allerdings wie Blutflecken aussahen.

Dagmar hockte sich zu ihr herunter und streichelte vorsichtig ihr Gesicht.

„Mein Gott, was machen Sie denn hier?, fragte sie.

„Da staunen Sie, wat?“, antwortete Doreen mit verzagter Stimme.

„Allerdings.“

Dagmar tastete nach Doreens Hosentasche, um mit dem Handy, das diese meistens bei sich trug, einen Krankenwagen zu rufen, aber Doreen machte eine abwehrende Bewegung und streckte ihr stattdessen die Arme entgegen, woraufhin ihr Dagmar aus dem Schrank heraushalf und sie mangels einer besseren Sitzgelegenheit auf einen der mit leeren Ordnern herumstehenden Kartons niedersetzte.

„Ick wollte bloß mal nachsehen, wat ick hier saubermachen soll. Die Freese hat gesagt, es muss mal richtig durchgelüftet werden,“ sagte Doreen, die sich wieder zu beleben begann, „aber mir war so koddrig … Ick hab' mich geschnitten, da seh'n Sie, an 'ner Scherbe beim Wischen, und ick kann doch keen Blut sehen - kann aber ooch am Wetter liegen, is' ja ziemlich schwül, da wollt‘ ick mich bloß irgendwo hinsetzen, wo 't nich' so dreckig is' und wo ick mich anlehnen kann … “

Sie lachte verlegen und blickte Dagmar fragend an, als wolle sie erkunden, ob diese ihren Worten Glauben schenkte. Dagmar lächelte ermutigend und nickte eifrig zustimmend, obwohl sie tatsächlich die Situation höchst seltsam und Doreens Geschichte ziemlich ungereimt fand.

„Ick kann einfach keen Blut sehen,“ wiederholte diese beschwörend und streckte wie zum Beweis den Finger in die Höhe, an dem sich tatsächlich eine winzige Schnittwunde befand.

„Geht’s denn wieder?“, fragte Dagmar

„Muss ja,“ antwortete Doreen, um nach einem kurzen Schweigen halb verschämt hinzuzufügen: „Und wat machen Sie noch hier? Ha‘m Sie nich‘ längst Feierabend?“

„Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht.“

Darauf antwortete Doreen nicht und von Dagmar stützend untergefasst, machten sie sich gemeinsam auf den Rückweg in Richtung von deren Büro. Dabei ging dieser die ganze Zeit der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass Doreen vielleicht nur Theater spielte, um sich aus den Fängen von Dagmars Wachsamkeit zu befreien, aber da sie die Situation nicht verkomplizieren wollte, blieb sie bei ihrer Rolle als freundliche Beschützerin und stellte keine weiteren Fragen.

Ein handfeste Anschuldigung

Als sie in den Haupttrakt einbogen, hörten sie schon von weitem ein Hämmern, und laute Rufe, hallo hallo, klangen ihnen von der Eingangstür her entgegen. Es war Micki, Doreens Mann, der gegen die Tür trommelte und sich ganz aufgeregt bemerkbar zu machen versuchte; einige Meter entfernt stand mitten in der Auffahrt der Kombi mit den beiden Töchtern auf dem Rücksitz und hinter ihnen in einem Verschlag Lobo, der Schäferhund, an Bord. Nasser Dunst, wie feiner Sprühregen, durchwallte die Luft, das kurze Unwetter hatte einen klaren Himmel hinterlassen, und um Michael Bergsons Stirn und Haaransatz schimmerte ein schwacher, feucht schweißiger Glanz. Er trug die dunkle Hose und das kurzärmelige Hemd, die beide zu seiner Berufskleidung gehörten; ein krauser Vollbart, den Dagmar noch nicht kannte, zierte sein Gesicht und verlieh ihm die anscheinend erwünschte herbere Note. Auch draußen wirkte das Gelände verlassen, als harre die regungslose Natur darauf, für die kurze Spanne des Wochenendes die Herrschaft über Asphalt, Beton und Steine zu übernehmen und diese von den Spuren der Lebenden zu befreien.

Dagmar öffnete die Tür von innen, und er nahm sofort die schwankende Gestalt seiner Frau in Empfang, die sich schwach an ihn lehnte, während er noch atemlos fragte, was denn los sei, er wäre nach Hause gekommen, habe den Anrufbeantworter abgehört und angerufen, aber keine Antwort bekommen, woraufhin er natürlich Hals über Kopf losgefahren ist. Dagmar konnte die beunruhigten Gesichter von Elise und Mona hinter den Autoscheiben sehen.

„Was ist denn mit dir, Schatz?“, fragte er Doreen.

„Bin nur ‘n bissken schwach uff de Beene,“ antwortete diese.

„Ihre Frau hatte anscheinend einen kleinen Schwächeanfall,“ erklärte Dagmar, „am besten versuchen Sie gleich einen Arzt zu erreichen, vielleicht Kreislauf oder sowas ...“

Michael Bergson warf ihr einen ungehaltenen Blick zu, was Dagmar halb verwundert zur Kenntnis nahm und geleitete seine Frau mit vorsichtigen Schritten zum Auto. Dagmar blieb in der Eingangstür stehen, damit diese nicht zufiel und wartete darauf, dass er abfahren würde - aber er fuhr nicht ab sondern kam, nachdem er Doreen auf den Beifahrersitz verfrachtet hatte, noch einmal zurück: „Kann ich Sie kurz sprechen?“, fragte er.

„Ja sicher,“ erwiderte Dagmar betont aufgeräumt, obwohl etwas Feindseliges von ihm ausging. Ein Ausdruck von Gram oder Missmut umwölkte seine Züge.

Er nickte seiner Frau, die verwundert oder besorgt zu ihm herübersah, kurz zu und kehrte mit Dagmar in deren Büro zurück. Diese setzte sich, kam aber nicht mehr dazu ihrem Gast einen Platz anzubieten, da er sie, ohne sich mit einleitenden Höflichkeiten aufzuhalten, zwar etwas verlegen, aber doch in einem ziemlich geharnischten Ton anfuhr:

„Ich wollte nur sagen, Frau Kolibri, ich möchte nicht, dass Sie sich in unser Leben einmischen und meine Frau ständig ausfragen und aufzuhetzen versuchen. Sie meinen es vielleicht gut, aber wir möchten das nicht …“ Sein Gesicht rötete sich leicht, während er nach weiteren Worten suchte.

„Wie bitte …? Moment mal ...“

Dagmar, die einen Moment brauchte, ehe sie den Sinn seiner Worte, dieser handfesten Anschuldigung, völlig begriff, verschlug es im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache, ein Gefühl des Ertapptseins durchflutete sie, aber angesichts seines rüden Tones fasste sie sich schnell und widersprach empört: „Also Moment mal ... jetzt mal langsam … ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie reden ...“

Sie rückte sich hinter ihrem Schreibtisch zurecht, bemüht von dieser sicheren Position aus ein Höchstmaß an Indignation in die Stimme zu legen.

„Nur weil ich mich ab und zu mit Ihrer Frau unterhalte, hetze ich sie noch lange nicht auf, das ist ja wohl etwas übertrieben, seien Sie froh, dass sich jemand kümmert, außerdem zwingt doch keiner Ihre Frau …“

„Doch, das machen Sie,“ unterbrach er sie unverhohlen gereizt, als habe er gehofft, sie werde kein Wort hervorbringen und er ohne Mühe den Sieg davontragen. „Ich hab' keinen Schimmer wieso, aber Sie stellen ständig Fragen, wollen alles ganz genau wissen, was bei uns zu Hause passiert, und das möchte ich nicht … Wenn Sie nicht selber merken, wie unangenehm das ist …“

Dagmar wollte nicht hören, was sie hätte merken sollen und erhob die Stimme: „Also jetzt ist es aber gut, ja?“ fauchte sie. „Ausgerechnet Sie, der sich hinter seiner Nachtarbeit verschanzt, Sie wälzen alle Lasten auf Ihre Frau ab, die fast zusammenbricht, und dann kreuzen Sie hier auf und spielen sich bei mir als Beschützer auf!? Ihre Frau braucht keinen Schutz vor mir ... “

Er schien sich mit einiger Anstrengung zu beherrschen, doch sein Oberkörper neigte sich vor und mit Argwohn vermischter Ärger schlug ihr wie heiße Glut entgegen. Sie saß kerzengerade, um nicht zurückzuweichen.

„Meine Frau hat mir selber erzählt, was sie alles von ihr wissen wollen ... dass Sie sie ständig aushorchen, über unsere Ehe, und was sonst noch alles. Wenn Sie neugierig sind, bitte sehr, aber nicht bei uns …“ Etwas Süffisantes lag in seiner Stimme.

Eine kurze, heiße Flamme der Verachtung siedete in Dagmar empor, da sie sich von Doreen verklagt und verpetzt sah. Was mochte dieses Gänschen dahergeplappert haben, dachte sie. Sie musste Oberwasser gewinnen.

„Lieber Herr Bergson,“erklärte sie hochmütig, „ich habe es nicht nötig, Ihre Frau auszufragen, und nur für den Fall, dass es Ihnen entgangen sein sollte, Ihre Frau hungert geradezu danach, jemanden zu haben, bei dem sie mal ihre Sorgen abladen kann, auch wenn das an Ihrem Arsch völlig vorbeigeht, was ich mir leicht denken kann, und wenn Sie‘s genau wissen wollen, ich finde Ihr ganzes Verhalten einfach unmöglich, unverantwortlich, auch dieses dritte Kind war einfach zuviel für Ihre Frau ... “

„Sie ticken ja nicht richtig,“ schrie er gehässig, „soll'n wir Sie vielleicht um Erlaubnis fragen …?“

„Auf diesem Niveau rede ich doch gar nicht,“ entgegnete Dagmar kalt.

„Weil Sie wissen, dass ich recht habe,“ triumphierte er sofort.

„Jetzt bleiben Sie mal auf’m Teppich,“ raunzte Dagmar aufgebracht zurück, „und reden Sie nicht so einen Scheißdreck daher. Sie sind doch einer dieser Typen, die sich daran hochziehen, dass sie ihre Frauen möglichst klein machen, damit sie selber größer wirken, gehen Sie mal etwas in sich ... Doreen ist vollkommen überlastet, weil Sie alles zu Ihrer persönlichen Bequemlichkeit eingerichtet haben ...“

„Das ist genau das, was ich meine, genau das …“ fiel er regelrecht aufjauchzend ein, „was geht denn Sie das an, was bitte?, sagen Sie mir das, was geht Sie das an ….?“

„Sie jämmerlicher Typ, von nichts ist Ihre Frau nicht in diesem Zustand ...“

Er stand vor ihrem Schreibtisch, ungelenk und schwer wie ein tapsiger Bär, und einen Augenblick lang glaubte sie, er werde handgreiflich werden, sie womöglich ohrfeigen - sie hoffte natürlich, sie würde den Mut aufbringen zurückzuschlagen mit allem, was ihr in die Hände kam, aber er stieß nur verächtlich die Luft aus, warf ihr einen drohenden Blick zu und sagte: „Sie können mir den Buckel runterrutschen, mir und meiner Frau.“

Dann stürmte er davon. Erst als er schon die Außentür aufriss, besaß Dagmar die Geistesgegenwart, ihm eine letzte Verhöhnung hinterherzurufen: „Sie sollten das nicht so verbissen sehen.“

Die Tür fiel ins Schloss, er war fort, und während draußen das Motorengeräusch des startenden Wagens erklang, begann Dagmar mit fahrigen Händen ihre Sachen für den Heimweg zusammenzusuchen.

Liebe Leserinnen und Leser,

der erste Teil der Geschichte ist damit abgeschlossen. Bis zur Fertigstellung des zweiten Teils wird es noch etwas dauern. Schau'n Sie einfach mal wieder vorbei.

Alle Namen / Ereignisse geändert.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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