Doreen oder Die Mädchenwelt (2)

1.1.0. Büroalltag. Dagmar langweilt sich. Sie hat den beruflichen Aufstieg verpasst. Eine neue Putzfrau sorgt für Gesprächsstoff …. 1. Teil. Kapitel 1/8: Im Büro

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Halb vier.

Dagmar Kolibri starrte auf den blinkenden Curser im Eingabefeld des Bildschirms, halbherzig bemüht, dem zufälligen Betrachter ein Bild eifrigster Tätigkeit und sinnvoller Beschäftigung zu hinterlassen. Sie war erst vor einigen Monaten als Assistentin des Prokuristen eingestellt worden, dringend benötigt, wie es damals hieß, eine Fülle von Aufgaben warte auf sie, die Herr Müller, seit kurzem auch Vertriebsleiter der Firma, ihr in den wärmsten Farben ausgemalt hatte. Doch eine plötzliche Auftragsflaute machte dem Unternehmen zu schaffen und zwang Dagmar immer häufiger dazu, die Arbeitszeit auf möglichst elegante Art unauffällig totzuschlagen.

Viertel vor vier.

Sie malträtierte die Tastatur.

Was treibt dieser Müller bloß, dachte sie.

Fünf vor vier. Noch eine Stunde …

Durch die halboffene Glastür des Büros sah sie Frau Rader, die Putzfrau, mit ihren kurzatmigen Schritten, den Staubsauger hinter sich herziehend, auf dem Flur heranstapfen. Diese war eine füllige Frau von Mitte Dreißig mit einem stupsnasig hübschen Gesicht, und wie so oft kam sie nicht, um Dagmars Büro zu reinigen - dies tat sie erst, wenn diese schon fort war - sondern um ein Gespräch mit ihr anzufangen, fast schon ein tägliches Ritual, da Dagmar sich nur allzu bereit zeigte darauf einzugehen, häufig schon auf das Erscheinen der Raumpflegerin wartete, um in den kurzen Unterhaltungen mit dieser etwas Abwechslung und Ablenkung zu finden.

Was Dagmar an Frau Rader faszinierte, war deren ständiges Lachen - ein notorisches Lachen, könnte man sagen, das sich im Klang wie eine Tonleiter immer gleich blieb und in kleinen Wellen unaufhaltsam aus ihr heraus gluckste, selbst wenn es um ganz und gar ernste Dinge ging. Sigrid Rader litt an allerlei Krankheiten, unter denen ein chronisches sowie gelegentlich auch schmerzhaftes Rippenfellleiden eines der unangenehmsten war; hin und wieder erschien sie in Begleitung ihres 15-jährigen Sohnes Fabian, der wegen schwacher schulischer Leistungen keinen Ausbildungsplatz fand, und was ihre sonstige Gefühlswelt betraf, so sprach sie auch nach Jahren der Trennung noch mit einem feuchten Schimmer in den Augen von ihrem geschiedenen Mann - was sie aber keinesfalls am Lachen hinderte, dessen sie sich durch die gemeinen Intrigen eines hinterhältigen Schwiegervaters beraubt sah.

An diesem Tag konstatierte sie mit einiger Genugtuung, dass endlich eine neue Putzfrau angefangen hatte, eine für den Seitentrakt, der nicht in ihre Zuständigkeit fiel und wo auch Dagmar, die im Hauptgebäude residierte, nur selten hinkam. Die vorherige Kraft war schon vor Wochen ausgeschieden, woraufhin Frau Rader wie so oft vertretungsweise hatte einspringen müssen, was ihr aber alles längst viel zuviel wurde, wie sie nicht müde wurde, immer aufs Neue murrend zu bekunden. Dieser Zustand sollte nun ein Ende haben.

„Sie haben wohl wieder nicht viel zu tun“, stellte sie jetzt mit vorwurfsvollem Blick auf Dagmars blankgefegten Schreibtisch fest.

Dagmar überging die Bemerkung. Sie blickte einen Augenblick durch das Fenster auf den von einer gleißenden Augustsonne beschienenen Vorplatz, dessen gepflasterte Seitenstreifen als Parkplatz dienten, wohingegen die Mitte eine mit einigen Sträuchern und Blumen bepflanzte kleine Grünanlage umfasste. Nichts Extravagantes wuchs dort, doch boten selbst Dahlien, Begonien und Petunien vor dem Hintergrund grau verwaschener Werkshallen einen heiter einladenden Blickfang. Dagmars Büro befand sich im Erdgeschoss, gleich neben dem Eingang, von wo aus sie einen guten Überblick genoss. Das Firmengelände selber lag ein Stück abseits vom Ortskern in einem ruhigen Wohnmischgebiet; jenseits des breiten Eingangstores verlief eine alleeartige, unbefestigte Straße, und dahinter sah man halb von wucherndem Gebüsch verdeckt die Fronten einiger weiterer Gebäude.

Wenn sie sich zuweilen an ihrem Fensterplatz erfreute, so galt dies nicht für die Firma, Lehmkuhl Leuchtanlagen und Lichtkonzepte nach Maß, bei der sie jetzt arbeitete, noch für die Tätigkeit, die sie hier verrichtete.

„Und? Wer ist die Neue?“ fragte sie.

„Sie heißt Frau Bergson“, antwortete Frau Rader mit wichtiger Miene, als wäre dies eine erschöpfende Auskunft, und ließ ihr glucksendes Lachen hören.

Ein Kichern kitzelte Dagmars Kehle und stieg wie ein Echo gurgelnd empor: „Aha. Und was macht sie sonst noch so?“

„Keine Ahnung.“ Glucksendes Lachen. „Aber sie ist hier aus Cappelsberg. Ich kann ja mal Rudi fragen, der kennt doch jeden. Vielleicht weiß er was.“ Auch diese kurze Rede endete wieder mit dem Herausperlen eines kurzen Lachers.

Die Orchidee auf dem Schreibtisch

Während Frau Rader etwas unschlüssig herumstand und schließlich von Fabian zu berichten begann, der zur Zeit einen Förderkurs in einem der Nachbarorte besuchte, strich Dagmar behutsam mit den Fingerspitzen über die zart lilafarbenen Blüten einer eingetopften Orchidee hinweg: Ein Geschenk, Frau Rader hatte es ihr vor einiger Zeit fast ein wenig feierlich mit der Erklärung überreicht, sie wäre aufgrund irgendwelcher Umstände, denen genauer nachzuspüren Dagmar wenig Lust verspürte, in den Besitz etlicher solcher Töpfe gekommen - zu viele für sie selbst, und suche nach würdigen Abnehmern. Sobald Frau Rader auftauchte, bemühte sich Dagmar deshalb ihr verstärkt zu zeigen, wie sehr sie das Geschenk und mehr noch die damit verbundene Geste der Auszeichnung zu schätzen wusste. Jeden Mittag, wenn sie zur Arbeit kam, räumte sie als erstes Evas Alpenveilchen beiseite, um ihrer Orchidee den Ehrenplatz auf dem Schreibtisch zu geben - Eva war ihre Kollegin, mit der sie Büro und Arbeitsplatz teilte, und an jedem nächsten Morgen, den Eva das Büro betrat, stellte diese kurzerhand den alten Zustand wieder her und beförderte die Orchidee auf die Fensterbank zurück. Ein weiteres Exemplar, die Blüten ein samtiges Weiß mit kleinen, schwarzen Sprengseln bedeckt, hatte Dagmar bereits mit nach Hause genommen, und auch diese Pflanze hütete sie dort mit fast zärtlicher Betulichkeit.

Frau Rader breitete inzwischen weitere Neuigkeiten aus. Dagmar liebte es ihr zuzuhören. Selber ein Mensch ohne größeren Anhang hegte sie eine ausgesprochene Vorliebe für die Lebens- und vor allem die Leidensgeschichten - die es ja zumeist waren, der sogenannten einfachen Leute, von denen sie sich, wie sie sich selber ironisch scherzend vorwarf, wie der Nekrophile von der Leiche angezogen fühlte.

Was sie dabei umtrieb, war jedoch nicht plumpe Neugier allein, sondern zum einen entstammte sie selber den „einfachen Verhältnissen“, von denen sie sich folglich wie von etwas Altvertrautem berichten ließ, und zum anderen formte sich daraus in ihrer Vorstellung eine Art Sittengemälde, das ihr nicht nur ein Bild der betreffenden Person sondern eines der Gesellschaft samt deren Milieus als Ganzes zurückwarf. Mit dieser „Gesellschaft“, oder wie immer man das soziale Gebilde nennen mochte, verband sie ein Gefühl von Hass-Liebe, mehr Hass als Liebe vielleicht, ein stilles Ressentiment jedenfalls, gespeist von einem Hauch noch schwelender Erbitterung darüber, dass Dagmar nicht nur weit hinter ihren beruflichen Erwartungen zurückgeblieben war sondern sich auch den aktuellen Diskursen und Diskussionen der „Frauenfrage“ zunehmend entfremdet fühlte. In Dagmars Jugendzeit hatten streitbare Emanzen noch mit glühendem Pathos gegen die verpönte patriarchalische Gesellschaft agitiert und sich als Kehrseite davon in weiblich kollektiver Aufbruchstimmung aufgehoben gefühlt. Von diesem antagonistischen Blick auf die Welt konnte oder wollte sie sich nicht verabschieden, noch nicht, auch wenn sie das Unzeitgemäße daran als zunehmend schmerzhaft empfand.

In jenen Jahren, als noch stürmisches Wunschdenken nach Verbesserung der Situation benachteiligter Frauen sie beflügelte, hatte sie sich in zahlreichen Gruppen und Initiativen engagiert, auch immer mal wieder für diesen oder jenen Posten in einem der Gremien kandidiert, ohne daraus jedoch dauerhaftes Prestige zu beziehen oder nennenswerte Erfolge davonzutragen.

Eine äußerst magere Person

Zwei Wochen später beobachtete sie, wie eine jugendliche Gestalt mit Lappen und Eimer bewaffnet auf dem Flur vor ihrem Büro zu hantieren und die dort aufgestellten Dekorleuchten zu wienern begann. Das muss die neue Putzfrau sein, die hier Vertretung macht, dachte sie, da Frau Rader sich gerade für einige Tage krankgemeldet hatte, und wunderte sich, warum dieses schmale, abgezehrt wirkende Persönchen, das sie auf höchstens achtzehn, zwanzig Jahre schätzte, eine Putzstelle annahm statt sich eine ordentliche Lehrstelle zu suchen. Das zarte Wesen wedelte emsig mit dem Putztuch herum, was Dagmar über die Zahlenkolonnen einer Spesenabrechnung hinweg Gelegenheit zur Beobachtung gab: Um den Kopf der jungen Frau Bergson herum ringelte sich feuerrot gefärbtes, leicht wuschelig gehaltenes Haar, das sie im Nacken zu einem kurzen Rattenschwänzchen zusammengebunden trug. Blässe und Durchsichtigkeit prägten ein feines, spitznasiges Gesicht und trotz des schlabbernden, weißen T-Shirts, das sie zu der locker sitzenden Jeanshose trug, war das äußerst Fragile ihrer Erscheinung nicht zu übersehen, zumal sie kaum mehr als einen Meter sechzig groß sein mochte. Dagmar hielt sie auf den ersten Blick für magersüchtig.

Armes Ding, dachte sie, sie sieht erschütternd aus, einfach erschütternd, wie ein mit Kleidern behängtes Skelett, an dem man jede Rippe einzeln zählen kann. Ob Rita sie wohl aus Mitleid eingestellt hat, sieht ihr gar nicht ähnlich ....

Dagmar glaubte fest daran, dass sie den Körper einer Magersüchtigen sofort erkannte, er strahlte eine Botschaft aus, die über das rein optische Erscheinungsbild hinausging, etwas Kultisches haftete daran, das an ihre Erinnerung appellierte, als wären es die Chiffren einer geheimen Sphäre, die nicht jeder zu lesen verstand. Einst hatte sie selber eine Phase von Essstörungen erlebt, die inzwischen aber gut zweieinhalb Jahrzehnte zurücklag - eine verrückte Zeit, von der sie lange zehrte, aber eben doch der Schnee von vorgestern, jugendlicher Sturm und Drang, den man später nostalgisch belächelte.

Frau Rader, nachdem sie zurück war, erzählte bereitwillig, was sie über die neue Kollegin inzwischen in Erfahrung gebracht hatte, wobei allerdings ein missbilligender Ton in ihrer Stimme mitschwang, und zwar wusste sie als erstes zu berichten, dass diese mit Vornamen Doreen hieß.

„Doreen?,“ fragte Dagmar halb verwundert zurück, als müsse sie sich vergewissern richtig gehört zu haben. „Was für ein klangvoller Name.“ Sie ließ die zwei Silben auf der Zunge zergehen. „Do-reen. Nie gehört. Ich kenne keinen Menschen, der so heißt ....“

„Sie ist aus dem Osten“, fuhr Frau Rader verschnupft über soviel Begeisterung in bissigem Ton fort. „Sie ist dreißig oder einundreißig, ist verheiratet und hat zwei Kinder, beide krank, behindert.“ Letzteres betonte sie, woraufhin ein neuer Ausbruch ihres Lachens folgte.

Wie kann ein solcher Körper Kinder gebären, dachte Dagmar ungläubig. „Sie ist wirklich schon Dreißig?“, fragte sie. „Da wär' ich nie drauf gekommen.“

„Hm.“ Frau Rader nickte. „Sieht man ihr nicht an …“ Sie bedachte Dagmar mit einem schmollenden Blick und fegte ein imaginäres Stäubchen von ihrem fleischigen Arm. „Sie muss dazuverdienen ...“

„Hat wahrscheinlich kein leichtes Leben“, bemerkte Dagmar.

In der Folge ergab es sich, dass sowohl die explosive Sigrid Rader als auch die eher verhaltene Doreen Bergson, auch sonst ein wenig kompatibles Paar, Dagmar fast regelmäßig in ihrem Büro besuchten, um ihre Arbeit mit einer kurzen Unterhaltung - einem Plausch, wie Dagmar es nannte, aufzulockern, wobei jedoch ein gewisses Maß an Reserviertheit auf beiden Seiten, auch das förmliche Sie, stets gewahrt blieb. Am Anfang kamen sie zumeist getrennt, und nicht selten fielen dann abfällige, manchmal fast gehässige Bemerkungen über die jeweils Abwesende, da sie keinerlei Solidarität untereinander empfanden sondern eine merkliche Animosität zwischen ihnen bestand. Mit der Zeit allerdings fügte es sich, dass sie auch gemeinsam kamen oder vielmehr sie erschienen um die gleiche Zeit, und oft herrschte dann ein Gelächter in dem Raum, dass Herr Müller, wenn er zufällig vorüberkam, verwundert durch die Glastür blickte, was Dagmar aber als Akt der Provokation geradezu genoss.

„Er ist auf dem Weg zu Lehmkuhl,“ flüsterte Frau Rader eines Tages mit ehrfurchtsvoller Miene, als Müller, dessen Büro dem Dagmars genau gegenüber lag, wieder einmal, einen Ordner in die Armbeuge geklemmt, mit prüfendem Blick auf das Trio die halb geöffnete Tür in Richtung erster Stock passierte, wo sich die Räume der Geschäftsleitung befanden.

„Sie sitzen schon die ganze Woche zusammen und beraten über irgendein Konzept, hat mir Rita erzählt.“

„Der hat doch sowieso von Tuten und Blasen keine Ahnung,“ entfuhr es Dagmar barsch, während sie mit finster abfälliger Miene dem entschwindenden Rücken ihres Vorgesetzten hinterher blickte.

Die beiden Putzfrauen schwiegen, halb betreten ob dieses unziemlichen Ausbruchs von Grobheit von Seiten einer Bürodame und unschlüssig, ob sie in Dagmars Lästerei einstimmen sollten. Sie wollten es sich mit keinem Menschen verderben - schon gar nicht mit jemandem, der sich mit dem Geschäftsführer traf, selbst wenn er sie nicht hören konnte, man wusste ja nie, welches Unheil aus einem solchen Leichtsinn womöglich entstand. Im Übrigen besaßen sie ein feines Gespür dafür, dass ihnen von Herrn Müller, der sich in ihrem Beisein zwar stets leutselig gab aber ansonsten ihre Anwesenheit nicht wirklich zur Kenntnis nahm, keine Gefahr drohte: Er war kein scharfer Hund, der an ihrer Arbeit herummäkelte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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