Doreen oder Die Mädchenwelt (3)

1.2.0. Dagmars feministische Wunschträume sind lange zerplatzt. Michael Bergson fällt bei ihr in Ungnade und Doreen verteidigt ihren Mann … Kapitel 2/8: Die Neue

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Doreen stammte aus einer Kleinstadt in Brandenburg, wo sie Kindheit und Jugend verbrachte, ohne dass sie aus diesem Reservoir, das ihr in ihrer jetzigen Umgebung auch anderthalb Jahrzehnte nach dem Mauerfall noch eine gewisse Besonderheit verlieh, allzuviel an Gesprächsstoff zu schöpfen vermochte. Dass es in dem Ort seinerzeit russische Truppen gab und man in einem „Konsum“ genannten Laden - Betonung auf der ersten Silbe - eingekauft hätte, gehörte zu einigen wenigen allgemeinen Brocken, die sie Dagmar, auf deren hartnäckige Fragen hin, fast ein wenig ärgerlich klingend hinwarf, jedoch schien ihr wenig oder nichts daran zu liegen, das spezifisch Atmosphärische an der Situation im Osten wirklich in Details zu kleiden. Wenn überhaupt, sprach sie eher lustlos über ihr früheres Leben in der DDR, aber nicht weil sie besonders schlechte Erinnerungen damit verband, sondern weil sie, seit sie im Westen lebte, nach den immer gleichen Dingen gefragt wurde - Dingen, die sie offenbar wenig interessierten, nach der Wende und den Verhältnissen drüben, ob die Situation jetzt besser war als früher und warum eine gewisse Partei sich im Osten so großer Beliebtheit erfreute. Gemessen an der spröden Gleichgültigkeit, die sie dem Thema wie eine Barriere entgegensetzte, schien sie dem Vergangenen nichts Prägendes abgewinnen zu können.

Das einzige Herkunftsmerkmal, an dem sie festhielt, war ein fast künstlich klingender Berliner Zungenschlag, den sie noch verstärkte, wenn ihr Dinge nahe gingen oder sie sich angegriffen fühlte und mit dem sie offenbar dem Mythos von der Berliner Schnoddrigkeit nachzueifern versuchte. Passend dazu hing sie einem schmucklosen Kleidungsstil an, der je nach Jahreszeit und Wetterlage aus Jeans mit T-Shirt oder Jeans mit Sweatshirt, dazu Schlappen oder Turnschuhe, bestand. Auch wenn Dagmar sie gelegentlich auf dem Handy mit der älteren Tochter Elise telefonieren hörte, verlieh sie ihrer Stimme stets sofort diesen betont munter ruppigen Klang‚ wies bei solchen Gelegenheiten das Kind auch immer mit größtem Nachdruck wegen irgendwelcher Kleinigkeiten zurecht, als ob sie sich dies als kompetenter Mutter schuldig zu sein glaubte.

Dagmar, die sich noch immer enthusiastisch für Doreens Vornamen begeisterte und darauf bestand, dass es den Namen im Westen gar nicht oder allenfalls höchst selten gab, fragte, warum die Eltern sie so genannt hätten, ob es ein Vorbild gab, eine Schauspielerin vielleicht oder eine Sportlerin?

„Wees ick nich'“. Doreen zuckte die mageren Schultern und kräuselte die Mundwinkel zu einem Lächeln, das Dagmars Eifer zu gelten schien. „Ick gloobe nich', im Osten ha’m viele so jeheißen, wie Maren oder Karen ...“

Die Wende hatte sie als Jugendliche zwischen ihrem 16. und 17. Lebensjahr erlebt, während sie sich in ihrem letzten Schuljahr befand. Auch zu diesem Ereignis war ihr nur zu entlocken, dass die ganze Familie sogleich in den Westen reiste, um das Begrüßungsgeld abzuholen, doch während ihre Angehörigen den Betrag sofort wieder ausgaben, hatte sie selber das Geld über längere Zeit behalten und gar nicht gewusst, wofür sie es anlegen sollte und sich erst später davon einen Radiorekorder gekauft, was sie auch heute noch für eine gute Anschaffung hielt. Den Eltern war die Wende ansonsten nicht zugute gekommen, sie lebten von staatlicher Unterstützung, aber selbst von diesem sicher wenig erfreulichen Umstand abgesehen, über den vermutlich niemand gerne sprach, schien auch das Elternhaus kaum Berichtens- oder Erwähnenswertes zu bieten, wie sie überhaupt am liebsten über alles hinwegging, was außerhalb ihres jetzigen Lebens lag, stets nur in großen Sprüngen mal den einen oder anderen Punkt ihrer Biographie streifte. Nur ihre ältere Schwester Janina, die noch mit Mann und Sohn in ihrem früheren Heimatort lebte, schien es in beruflicher und wirtschaftlicher Hinsicht günstiger getroffen zu haben und arbeitete als Laborangestellte in einer Molkerei.

Doreen selber war im Jahr nach der Wende zunächst mit Unterstützung der Arbeitsagentur, da sie vor Ort keine Lehrstelle fand, nach Düsseldorf gegangen, wo sie eine Ausbildung als Pflegekraft absolvierte und dabei Michael, ihren späteren Mann, kennenlernte. Mit diesem zog sie einige Jahre später, die Kinder waren schon geboren, nach Cappelsberg weiter, eine ländliche Kleinstadt nördlich des Ruhrgebietes zwischen Münster und Dortmund gelegen, um hier neu anzufangen, da Michael Bergson aus der Region stammte und in der Nähe Verwandtschaft besaß. Dieser arbeitete inzwischen nicht mehr als Krankenpfleger sondern bei einer Wach- und Schließgesellschaft und zwar vorwiegend nachts, was Doreen geradezu als Vorteil sah, da er sich auf diese Weise tagsüber zu Hause aufhielt.

„Micki passt uff die Kinder uff, wenn ick zur Arbeit bin“, sagte sie.

„Beschäftigt er sich denn auch mit den Kindern?“

„Na wat glooben Sie denn, wat er macht?“, fragte Doreen spöttisch.

„Muss Ihr Mann nicht tagsüber schlafen?“

Ja schon, aber Hauptsache, es is‘ jemand da, wenn mal wat is‘, und die Große kommt schon gut alleene zurecht ... Manchmal hab‘ ick ooch ‘n Babysitter ...“

Dagmar fragte nicht weiter. Beide Töchter waren als Frühgeburten zur Welt gekommen und beiden machte als Folge davon eine starke Sehbehinderung zu schaffen, was sie zum Tragen unschön dicker Brillengläser zwang. Die achtjährige Elise litt außerdem an einem chronischen Infekt der Bronchien, wobei Doreen sich bei der Einschulung vor einem Jahr dafür stark gemacht hatte, dass sie zumindest versuchsweise in eine reguläre und nicht gleich in eine Sonderschule kam. Dagegen besuchte die fünfjährige Mona keinen Kindergarten und sollte auch weiterhin unter den Fittichen der Eltern zu Hause bleiben, da ihre mentale Entwicklung sehr langsam verlief und sie ihrem Alter hinterherhinkte.

Komplizierte Verhältnisse

Den ergiebigsten Gesprächsstoff bei den fast täglichen Begegnungen lieferten über längere Zeit Doreens komplizierte Wohnverhältnisse, in denen zurechtzufinden, da sie nur häppchenweise enthüllt wurden, Dagmar anfangs durchaus einige Mühe kostete.

Und zwar lebten die Bergsons in einem Haus, das sie gemietet hatten, allerdings nicht allein, sondern mit Michaels Mutter und seinem Bruder Frank samt dessen Frau und Tochter zusammen, oder jedenfalls war dies ursprünglich die Absicht bei Unterzeichnung eines auf fünf Jahre laufenden Mietvertrages gewesen. Doch Franks Ehe geriet in eine Krise, noch bevor er eingezogen war, so dass nur seine Frau, die Tochter sowie Doreens Schwiegermutter als Wohngenossen übrig blieben. Letztere zog sich jedoch nach kurzer Zeit ohne Rücksicht auf eingegangene Verpflichtungen in ein Altenheim zurück, während fast zeitgleich Franks Frau plötzlich an einem Gehirntumor erkrankte und innerhalb eines Jahres verstarb, woraufhin die Tochter wieder zum Vater zurückkehrte, der sich inzwischen aber selber neu eingerichtet hatte und folglich von der Hausgemeinschaft nichts mehr wissen wollte. Das Ergebnis war, dass es ein großes rechtliches Gewirr gab, in dem sich niemand mehr wirklich auskannte.

Doreen hatte zwar zunächst dem Vermieter die volle Miete für sämtliche Parteien bezahlt, dann aber nur noch den Anteil ihrer eigenen Familie, woraufhin dieser mit Klage drohte und ein Streit sich zuspitzte, wer überhaupt für welche Kosten zuständig war, ob Frank die Rechtsnachfolge seiner verstorbenen Frau antrat, ob der Vermieter die verbliebenen Mieter in Gesamthaftung nehmen dürfe und wer für den Ausfall der Mutter aufkam, deren Rente nicht einmal für das Altenheim reichte, in dem sie jetzt lebte. Sie einigten sich schließlich darauf auszuziehen und einen Nachmieter für das Haus zu suchen, wiewohl der Vermieter dies später bestritt und behauptete, von einer solchen Vereinbarung wisse er nichts - auf jeden Fall verließen Doreen und ihr Mann fluchtartig das Haus und zogen in eine neue Wohnung um, was ihnen aber auch nicht aus der Patsche half sondern ihre Verlegenheiten nur noch vergrößerte.

Waren sie zunächst davon ausgegangen, es werde ein Leichtes sein, einen solchen Nachmieter zu finden, gestaltete sich dies in der Praxis als unerwartet schwierig, da der Vermieter, ein ebenso eigensinniger wie penibler Mann, an jedem Bewerber, den Doreen anbrachte, etwas auszusetzen fand, und auch das ziemlich verwinkelte Haus entsprach nicht dem gängigen Geschmack, so dass anfänglich vielversprechende Interessenten schnell wieder absprangen. Dies hatte zur Folge, dass Doreen und ihr Mann, da sie aus dem alten Mietvertrag nicht herauskamen, ihr früheres Domizil und die neue Wohnung nicht nur gleichzeitig finanzieren sondern ersteres auch weiterhin versorgen und in Ordnung halten mussten, das heißt nach der Heizung sehen, den Garten pflegen usw., alles Aufgaben, die hauptsächlich an Doreen hängen blieben. Der abtrünnige Frank weigerte sich standhaft auch nur den kleinsten Anteil zu den Kosten beizutragen, und von der Mutter war ohnehin nichts zu holen. Als die Bergsons schließlich, finanziell am Ende, die Zahlungen für das Haus einstellten, ging die Sache vor Gericht, jeder gegen jeden, der Vermieter gegen Doreen und Michael, sie beide gegen Frank, obendrein reklamierte der Vermieter noch Schäden am Haus, die ebenfalls behoben oder vergütet werden sollten.

Beide Prozesse verloren sie am Ende. Die kleine Frau schien unter der Last der sie bedrängenden Konflikte fast zusammenzubrechen, jagte ständig hinter Mieterberatung, Anwalt und immer neuen Interessenten her, um endlich dieses Haus loszuwerden, das für sie zu einer unerträglichen Bürde geworden war. Kam sie zur Arbeit, rang sie sich mit geisterblassem Lächeln einen Hauch fröhliche Zuversicht ab, klagte nicht, wirkte allenfalls manchmal wie betäubt und ermattet, als gingen die Dinge in Wahrheit an ihr vorbei, und sofern dies überhaupt möglich war, schien auch ihr schmächtiger Körper noch ein wenig mehr zusammengeschrumpft zu sein. Dagmar bemühte sich ihr möglichst gefällig zu sein, ließ sie Fotokopien machen oder vom Büro aus Faxe an den Anwalt schicken, um ihr wenigstens für diese kleinen Dinge zusätzliche Mühen und Wege zu ersparen.

Um die drückenden finanziellen Lasten wenigstens etwas zu erleichtern, nahm Doreen eine weitere Stelle an und arbeitete jetzt zusätzlich an den Wochenenden stundenweise in einem Altenheim als Betreuerin. Dagmar, die die zunehmende Verstrickung über Monate hinweg verfolgte und sich von der heillosen juristischen Verwirrung berichten ließ, auch am Anfang noch vollmundig Ratschläge erteilte und im Grunde erwartete, die Sache werde sich irgendwie in Wohlgefallen auflösen, vermied schließlich kleinlaut jeglichen Kommentar und empfand es zunehmend als unbegreiflich, wie das Paar sich auf ein solches Arrangement mit den Verwandten Michaels überhaupt hatte einlassen können: Eine Familien-WG, die den Keim des Zwistes bereits in sich trug, man besaß doch da seine Erfahrungen, und wenn Doreen, weil sie aus dem Osten kam, womöglich von ungetrübten Verhältnissen träumte, so hätte doch ihr Mann wissen müssen, dass einen solchen Vertrag über fünf Jahre zu schließen ein erhebliches Risiko beinhaltete, das zu vermeiden entsprechende Klauseln und Regeln nötig gewesen wären.

Keine offene Kritik an Micki

Wenn Dagmar, die sich gern als Nachfahrin einer Generation von Frontfrauen des Feminismus sah, emanzipiert und gesellschaftskritisch, auch dazu neigte, aus einem Gefühl stiller Feindseligkeit heraus alle Paarbeziehungen in ihrer Umgebung mit einem gewissen Argwohn zu beäugen - wobei ihr nicht nur jeder Männlichkeitsdünkel sondern auch so mancher Weiblichkeitswahn heftig ins Auge stach, wenn also Dagmar darauf gehofft hatte, dass Doreen aufgrund einer anderen Erziehung in dieser Hinsicht womöglich fortschrittlicher wäre als westliche Frauen, legte sie diesen Irrtum allerdings alsbald beiseite.

Tatsächlich war es im Falle Doreens so klar wie eine Sache nur sein konnte, dass Doreen nichts weniger als zu feministisch rebellischem Tatendrang neigte oder nach geschlechtsspezifischen Veränderungen dürstete, jedenfalls nicht ihrem Mann gegenüber, auch an der traditionellen Aufgabenverteilung in der Ehe nichts auszusetzen fand sondern ihren Mann schonte und in Schutz nahm, wo sie nur konnte und dass sie es war, die die Hauptlast der Verantwortung für die kleine Familie auf ihren schmalen Schultern trug. Dass er nachts arbeitete, weil dies besser bezahlt wurde, hielt Dagmar im Grunde für eine besonders perfide Masche, sich in eine Sonderrolle zu begeben und damit ein gutes Gewissen zu verschaffen: Man denke nur, der arme Kerl, man möchte ihn bedauern, weil er sich im Dienste der Familie sogar noch nachts abrackert, sich geradezu aufopfert, so dass er tagsüber, wenn er zu Hause ist, natürlich Rücksichtnahme erwarten kann und Doreen ihm noch dankbar sein muss, wenn er ihr wenigstens hin und wieder die Kinder abnimmt.

Und weit entfernt davon, sich dieser Umklammerung zu widersetzen, schien Doreen durchaus bereitwillig zu akzeptieren, dass ihr Mann mit seiner nächtlichen Tätigkeit seine Verpflichtungen bereits für abgegolten hielt, dass folglich das gesamte Familienmanagement, die ganze aufwändige Alltagsbewältigung, weitgehend an ihr hängen blieb, die nun Mann, Kinder und Haushalt versorgte und nebenbei noch zwei zusätzlichen Beschäftigungen nachging. Auch in Doreens Kampf das gemietete Haus loszuwerden, was beträchtliche Aktivitäten erforderte - zumal andere viel Zeit hatten, ihr tausend Wünsche, Mängel oder Versäumnisse vorzuhalten, in all die Dispute, die sie nach allen Seiten hin führte, griff er nur unwesentlich ein, stauchte seine Frau allenfalls gelegentlich und zwar bevorzugt am Telefon zusammen, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, wie Doreen nach einem solchen, in Dagmars Hörweite geführten Gespräch freimütig bekannte. Zumindest von außen betrachtet nahm sie es unbeeindruckt hin:

„Morgen hat er sich wieder beruhigt,“ beteuerte sie mit einem Anflug von Schelmerei und wischte mit einer beschwichtigenden Geste allen Ärger, den sie empfinden mochte, beiseite.

Dagmar vermied es in aller Regel, offene Kritik an Michael - oder Micki, wie er von Doreen genannt wurde, zu üben, obwohl sie diesen insgeheim in einem wenig positiven Lichte sah. Sie wollte sich nicht vorwerfen lassen, Zwistigkeiten zwischen den Eheleuten zu säen, konnte aber doch hin und wieder Anflüge von süffisanter Missbilligung nicht unterdrücken, wenn Doreen mit Berichten über ihr anstrengendes Alltagschaos aufwartete. Diese pflegte daraufhin zwar einerseits sofort in einen Rechtfertigungston zu verfallen, goss andererseits mit ihren Geschichten jedoch immer auch ein subtiles Öl ins Feuer, als ergötze sie sich daran, Dagmars Vorbehalte eher zu schüren und anzustacheln statt diese zu besänftigen und ihren Mann wirklich zu verteidigen. Solche verdeckten Schlagabtäusche waren nicht selten und liefen stets nach dem gleichen Muster ab.

„Micki hat jetzt einen Hund, einen Schäferhund …“

„Ach ja, du liebe Güte, was will er denn damit …?“

Der Hund sollte gewissermaßen eine dienstliche Anschaffung sein und sein Herrchen demnächst auf dessen nächtliche Touren, bei denen Michael Bergson verschiedene Gebäude abfuhr, begleiten, erläuterte Doreen, aber auch sonst beschäftige sich ihr Mann gern mit dem Tier, ein neues Hobby.

Na typisch, dachte Dagmar erbost, er sorgt vor allem für sich und das, was ihm Spaß macht; dass Frauen aber auch so dumm sind, sich alles gefallen zu lassen - der Hund braucht natürlich Auslauf, hat er wieder einen Grund mehr, sich öfters davonzumachen, und überhaupt, wie kann man nur mit zwei kleinen Kindern in der Wohnung diesen Riesenköter halten.

„Kostet das nicht einiges an Unterhalt?“, fragte sie verhalten ungnädig.

Doreen versicherte sofort, dass es für den Unterhalt des Hundes vom Arbeitgeber immerhin eine kleine Aufwandsentschädigung gab.

„Und Sie müssen sich jetzt zu allem anderen auch noch um den Hund kümmern?“, bohrte Dagmar weiter.

Doreen lächelte. „Nee. Dat macht Micki schon allet alleene.“

Dagmars Anteilnahme schien ihr gutzutun, wenngleich deren Einwände und Bedenken nicht auf fruchtbaren Boden fielen.

Sie berichtete, wie sehr vor allem die Kinder bereits den Bobo genannten Hund liebten und dass ihr Mann für dessen Beförderung das Familienauto, einen Kombi, den nur er fuhr -Doreen besaß keinen Führerschein, hatte entsprechend umrüsten lassen. Dagmar schwieg deprimiert. Gegen Dummheit, blinde Liebe und die Lust mancher Frauen an der Unterwerfung war einfach kein Kraut gewachsen.

Einmal zeigte ihr Doreen ein Familienfoto - eines von einem richtigen Fotostudio gemacht, ein etwas größeres Format für den gerahmten Ehrenplatz auf der Anrichte oder an der Wand, von dem aus sie, ihr Mann und die Kinder mit einem vage pflichtschuldigen Lächeln auf den Gesichtern dem Off hinter dem Betrachter entgegenblickten. Doreen bezeichnete Micki als „mein Dickerchen“, und tatsächlich, in der Mitte des Bildes thronte auf einem Stuhl ein kräftiger Mann mit einem kleinen Bauchansatz, um die einsachtzig groß, um den herum sich das weitaus schmächtigere Frauenpersonal stehend gruppierte. Äußerlich gesehen bildeten er und seine zierliche Frau auf jeden Fall einen starken Kontrast, und nur anhand der damenhaften Kleidung würde auf dem Foto ein Unwissender Doreens Status als Ehefrau erkannt haben, da sie ausnahmsweise einmal keine Jeans sondern einen dunklen Hosenanzug und Lackschuhe trug.

Auch zu einer kurzen Begegnung kam es, als er Doreen eines Tages von der Firma abholte und bei dieser Gelegenheit mehr zufällig, wegen ihres Platzes neben dem Eingang, auf Dagmar stieß: Er gibt ihr die Hand, sie nennt ihren Namen, und er verweist darauf, dass seine Frau von ihr gesprochen habe - ein sie erwartungsvoll betrachtender, etwas schwerfälliger Mann mit verlegenem Gebaren und dem kleingekrausten Haar einer Minipli-Frisur. Nein sowas aber auch, dachte Dagmar naserümpfend, um ihren Vorbehalten wenigstens einen Ersatzgrund zu geben, wer trägt denn heute noch diese Proletenlöckchen, das gab es mal als Afro-Look vor annodazumal, aber so alt ist er doch gar nicht …

Obwohl er sie freundlich begrüßte und sie auch sonst auf den ersten Blick an ihm nichts auszusetzen fand, ist er Dagmar nicht geheuer, oder vielleicht ist es gerade seine gutmütig wirkende Art, die ihr Unbehagen einflößt, denn da sie nun einmal vermutet, genauer gesagt, da sie Doreen „verdächtigt“ an Magersucht zu leiden, fällt auch ein Verdacht auf ihn, auf den Mann, mit dem sie zusammenlebt.

Ist Doreen magersüchtig?

Doreen gab ihr eigenes Gewicht mit ungefähr 40 Kilogramm an oder etwas darunter, was gemessen an ihrem Aussehen einigermaßen zutreffen mochte. Als Dagmar sie rundheraus fragte, ob sie magersüchtig wäre oder an anderen Essstörungen litt, widersprach sie allerdings sofort: „Ick hab‘ schon immer so ausjeseh’n,“ erklärte sie, „schon in der Kindheit, mit Essen hat det nischt zu tun.“

Wie um jede Vermutung zu entkräften, wies sie außerdem, wann immer die Rede auf die Ursachen für ihr extrem niedriges Gewicht kam - sie führte dies auf eine angeborene Anomalie zurück, ohne diese genau benennen zu können, mit einer Art von siegessicherem Stolz auf die Tatsache hin, dass sie ihre beiden Kinder in diesem Zustand und zwar beide in einer normalen Geburt zur Welt gebracht hatte, eine Leistung, für die sie seinerzeit anscheinend ein Höchstmaß an Lob und Bewunderung von Seiten der beteiligten Ärzte und Schwestern erntete. Dieses Alibi schien unanfechtbar zu sein und diente ihr als Schutzschild, als Nachweis, dass nichts Krankes im Spiel sein könne.

„Essen Sie denn auch wirklich nahrhafte Sachen oder futtern mal was Süßes?“, fragte Dagmar wenig überzeugt.

Doreen lachte. „Wenn Sie sehen würden, wie ick manchmal reinhaue, würden Sie mich det nich' fragen,“ sagte sie und fächelte mit dem Lappen über das Faxgerät hinweg.

Dagmar betrachtete sie, ungewiss darüber, ob solchen Erklärungen Glauben zu schenken war. Als „Ehemalige“ kannte sie das ganze Repertoire an Ausreden, Lügen, Tricks und Täuschungen, über das eine Magersüchtige gewöhnlich verfügte und hatte dieses selber einmal so überzeugend wie jede andere beherrscht. Nicht zufällig sprach man von MagerSUCHT, Essen und nicht etwa Fasten bedeutete folglich Entzug und löste paradoxerweise Entzugserscheinungen aus; andererseits konnte sie sich kein wirkliches Bild von Doreens Ernährung und ihren Essgewohnheiten machen, da diese während ihrer stundenweisen Anwesenheit ohne zusätzliche Pausenzeiten auskam.

Immerhin registrierte Dagmar einige Auffälligkeiten, die möglicherweise als Hinweis dienen konnten: So kam es gelegentlich vor, dass Katja Freese, die Chefsekretärin, zu deren Obliegenheiten die Verwaltung der Konferenzräume des Unternehmens gehörte, eine Schale mit übrig gebliebenen oder aussortierten Besucherplätzchen in das von Dagmar und Eva geteilte Gemeinschaftsbüro stellte - eine ganz selbstverständliche Gewohnheit, da in den anderen Büros überwiegend Männer arbeiteten. Diese Handvoll Edelplätzchen übte nun gleichwohl, wie Dagmar bei solchen Gelegenheiten immer wieder belustigt feststellte, eine geradezu magische Wirkung auf zahlreiche Mitarbeiter in den umliegenden Abteilungen aus, die plötzlich um ihr Büro herumstrichen, als hätten sie schon tagelang nichts mehr zu essen bekommen, nur Doreen, der Dagmar die Plätzchen wiederholt ausdrücklich anbot, nahm aller Ermunterung zum Trotz nie auch nur ein einziges davon.

„Möcht' ick nich', wenn ick arbeite, is' mir nich' danach,“ wies sie stereotyp jede Aufforderung zurück, begleitet von einem abwehrenden Seitenblick, als handle es sich entweder um ein minderwertiges Produkt oder um eine unseriöse Offerte.

Nun mochte es natürlich sein, dass sie ganz einfach nicht naschhaft veranlagt war oder sich aus Keksen nichts machte oder vielleicht hatte sie gerade an diesem Tag reichlich zu Mittag gegessen, es mochten ganz zufällige Reflexe wie Disziplin, Genierlichkeit, Ziererei am Werke sein, die sie zu dieser antrainierten Zurückhaltung veranlassten. -Im Übrigen nahm auch Dagmar stets nur ein einziges Anstandsplätzchen aus der Schale und selbst dieses steckte sie nicht spontan sondern erst nach längerer Vorgenusszeit in den Mund. -Auch dass Doreen, als im Dezember die jährliche Weihnachtsfeier stattfand, ihre Teilnahme von vornherein absagte, musste nichts damit zu tun haben, dass die Geschäftsleitung das gesellige Beisammensein traditionell mit einem stattlichen Menü zu krönen pflegte, eine bei der Belegschaft in Maßen beliebte Veranstaltung, wenngleich für die Zeche nicht Herr Lehmkuhl aus seiner Privatschatulle sondern, wie jeder wusste, trotz angespannter Auftragslage die überstrapazierte Firmenkasse aufkam. Sigrid Rader jedenfalls kannte am Buffet keine falsche Bescheidenheit, die auch niemand von ihr erwartete, bedurfte auch keines großartigen Zuspruchs sondern fühlte sich zum Zugriff auf sämtliche Köstlichkeiten vollkommen berechtigt.

Doch allen denkbaren Gegenargumenten wie zum Trotze hatte sich bei Dagmar die zwar unbestimmte, aber dennoch hartnäckige Überzeugung, dass Doreen an Magersucht leiden müsse, bereits festgesetzt; die Idee elektrisierte sie, und mit einer Mischung aus Starrsinn und Beharrlichkeit suchte sie zu beweisen und sich zu vergewissern, dass ihr sechster Sinn sie nicht trog. Und der Ehrgeiz, mit dem sie ihr Interesse auf dieses Rätsel konzentrierte, erhielt durch die wiederkehrenden Phasen von Leerlauf, die ihre Arbeit prägten, dem Zorn darüber, sich überflüssig und fehl am Platze zu fühlen, noch einen zusätzlichen Antrieb und fast eine Art von Rechtfertigung, da es ja ohnehin nichts Besseres für sie zu tun gab. Fast ein dreiviertel Jahr arbeitete sie inzwischen bei dieser Firma, doch von ihrer Hoffnung, noch einmal einen guten Posten ergattert zu haben, war kaum etwas geblieben. Dagmar suchte die Putzfrau deshalb nicht selten unauffällig auszuforschen, bis ihr Doreen eines Tages mit überlegener Miene und wissendem Lächeln erklärte, sie könne schon deswegen nicht an Magersucht leiden, weil es in der DDR überhaupt keine Magersucht gegeben habe, ein zwar nicht ganz logisches Argument, aber doch eines, das Dagmar noch gar nicht in den Sinn gekommen war.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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