Doreen oder Die Mädchenwelt (5)

1.4.0. Die Magersucht verwandelte sie in einen schönen, von vielen Männern begehrten Schwan, erinnert sich Dagmar ... Kapitel 4/8: Die schöne Zeit der Magersucht

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Dagmar hatte mit siebzehn, kurz nach Beginn ihrer Ausbildungszeit, an Magersucht zu leiden begonnen - wobei sie den Ausdruck „leiden“ selber gewöhnlich ablehnte und als nicht ganz passend empfand, und zwar ohne dass eine frühe Alarmglocke hätte erahnen lassen, welch einen gefährlichen Bazillus sie sich einfing und wie sehr dieser ihr Leben erschüttern sollte. Alles fing wie so oft scheinbar harmlos mit einer Schlankheitskur an, zu der ihrerseits im Grunde eine Nichtigkeit, ein kleiner Vorfall im Büro den entscheidenden Anstoß gab. Dagmar arbeitete damals gerade in der Export-Abteilung; es war die dritte Station, die sie jeweils im Turnus von drei Monaten durchlief, noch dazu eine, die nach der Trockenheit von Debitoren- und Finanzbuchhaltung immerhin mit einer Prise internationalen Flairs aufwarten konnte, was ihren inneren Widerstand gegen den kalten Hauch des Erwerbslebens, der sie plötzlich streifte, zumindest vorübergehend besänftigte und ihr halbwegs positive Zukunftsbilder vorgaukelte.

Tatsächlich galt die in mehrere Länder- und Produktbereiche untergliederte Export-Abteilung als die absolute Prestigeabteilung des Unternehmens, kaum eine geschäftlich bedeutende Sprache, die dort nicht jemand sprach, viele ausländische Gäste gaben sich an manchen Tagen die Klinke in die Hand, und nicht wenige aus dem guten Dutzend der angehenden Industriekaufleute und Betriebsfachwirte hofften darauf, eines Tages in diese Abteilung übernommen oder berufen zu werden, wiewohl man alles Mögliche über die hohen Ansprüche munkelte, die dort herrschten und auch nur wenige dieses Ziel erreichten.

Männer und Frauen saßen damals noch voneinander getrennt bzw. es existierten zwei Gruppen mit unterschiedlichen Funktionen: Der ersten, Sekretärinnen, Korrespondentinnen und Schreibkräften, gehörte die rechte, der zweiten, Sachbearbeitern und Bereichsleitern, die linke Hälfte eines sich über ein ganzes Stockwerk erstreckenden Großraumbüros. In die exklusive linke Hälfte hatten es immerhin auch eine junge Französin und eine junge Brasilianerin, beide Anfang zwanzig, wenn auch nur auf Zeit geschafft: Die Französin kam für ein Jahr von der Niederlassung in ihrem Heimatland, um vor Ort die betriebliche Praxis in der Firmenmutter zu studieren, und bei der Brasilianerin handelte es sich um die Tochter eines einflussreichen Vertriebspartners, die auf Vermittlung ihres Vaters im Rahmen einer Europavisite die Gastfreundschaft diverser Unternehmen in Anspruch nahm. Der zuständige Bereichsleiter betreute sie persönlich und dies hatte ihr den kleinen Katzentisch an seiner Seite eingebracht.

Stellwände seitlich des breiten Mittelganges sorgten dafür, dass die gegenüberliegende Hälfte nicht zu nah heranrückte und man möglichst abgeschirmt, weniger vor aufdringlichen Blicken als vor dem lästigen Schreibmaschinengeklappere, unter sich blieb.

Mit einer Kränkung fing es an

Aus dem Pulk der circa fünfundzwanzig bis dreißig weiblichen Angestellten, die die rechte Seite bevölkerten - der Azubi-Schreibtisch befand sich dort allerdings nicht sondern dieser stand am oberen Ende des Mittelganges, also gewissermaßen im geschlechtlichen Niemandsland, hatte sich wiederum durch jahrelange Auslese eine Art Miniclique einiger besonders attraktiver Frauen herausgebildet, die denn auch als die weiblichen Stars der Abteilung galten, von den Männern hofiert, von den übrigen Frauen bewundert und beneidet wurden und die, was Fragen von Mode, Stil und Schönheit betraf, die unangefochtene Meinungsführerschaft innehatten. Eine dieser Beauties, sie hieß Elke, eine grazile, dunkelhaarige Person mit schmalrückiger Nase, knisternd bauschiger Frisur und Beinen wie die einer Bachstelze – die illustre Eleganz, mit der sie diese zu platzieren und einen sparsamen Blick auf ihre spitzen Knie freizugeben vermochte, hätten so mancher Edeldiva von Marlene Dietrich bis Tilda Swinton alle Ehre gemacht, womöglich der Grund, weshalb sie dem Trend zu weiblichen Beinkleidern nicht folgte –, diese Elke hatte nun Dagmar, als letztere während der Mittagspause ahnungslos in ein Buch vertieft an ihrem Butterbrot kaute, im Vorüberschweben mit flötender Stimme zugerufen, „Ach mampfen Sie schon wieder!“, was Dagmar in diesem Augenblick bis in die tiefsten Tiefen der Seele hinein kränkte und fast die Tränen der Demütigung in die Augen trieb.

Sogleich keimte der rachsüchtig heiße Wunsch in ihr auf, es dieser kaffeekochenden Sekretärin, die selber, wie täglich in der Teeküche zu besichtigen, wie eine Heuschrecke fraß, es dieser Elke und allen anderen einmal gehörig zu zeigen, den eigenen Körper in eine so zerbrechlich dünne Form zu zwingen, wie Elke sie besaß, diese und mit ihr die ganze widerspenstige Welt mit kühner Geste in die Schranken zu verweisen - ohne dass Dagmar sich zunächst das für ein solch ambitioniertes Unterfangen nötige Durchhaltevermögen auch nur im Entferntesten zutraute. Auch dachte sie mit heißer Inbrunst darüber nach, dass sie, wenn sie schon hier ausharren musste, doch wenigstens eines Tages auf der linken Seite des Büros sitzen und dort einen exzellenten Platz einnehmen würde, da wo Chantal und wo Rosa saßen, wo die große weite Welt lockte, denn auch wenn Elke im heimischen Hühnerhof noch so sehr gefeiert wurde, wollte sie selber doch nicht zu dieser Rubrik Frauen gehören, da sie sich zu Höherem berufen und fähig fühlte.

Dabei war Dagmar in den Jahren, in denen sich Wachstum und weibliche Entwicklung vollendeten, keineswegs zu übermäßiger Fülle angeschwollen, hatte im Exzess der Hormone oder als Folge guter Futterverwertung bestenfalls ein paar kleinere, überschüssige Reserven an „Babyspeck“ aufgebaut, wirkte kaum pummelig, allenfalls ein wenig stabil gebaut. Auch neigte sie weder dazu, bei Tisch ein besonders gieriger oder gefrässiger Esser zu sein - jedenfalls nicht mehr als dies der Futterneid in einer kinderreichen Familie verlangte, noch kam es ihr bei ihrer besinnlich veranlagten Natur in den Sinn, ihr erstes selbstverdientes Geld einer so wenig substantiellen Verwendung wie dem Verzehr von allerlei Schlickerzeug und damit der Verbrennung in Form von Kalorien zuzuführen, zumal auch im Elternhaus Süßigkeiten seit jeher rationiert gewesen waren, nicht so sehr wegen gesundheitlicher Bedenken sondern aus notwendiger Sparsamkeit heraus. Im Nachhinein dachte Dagmar auch, dass der tiefere Auslöser für diesen Anfall von Hungerwahn, der sie damals befiel und dann jahrelang beschäftigte, gewiss nichts mit Elkes stolzem Vergnügen an der Wohlgefälligkeit des eigenen Körpers oder der harschen Herablassung zu tun hatte, die sie gegenüber den weniger Schönen zeigte - ausgerechnet jener Elkegelang kurze Zeit später auf mirakulöse Weise der Sprung auf die andere Seite des Ganges - sondern mit ihrem eigenen Eintritt ins Berufsleben zusammenhing. Dies lag weniger an der Tätigkeit selber, von der sie noch kaum etwas wusste, als vielmehr an der Umgebung, an diesem Kosmos, in dem sie sich wie gefangen fühlte.

Lernen war ihr immer leicht gefallen, die Kindheit folglich ein süßes Nichtstun gewesen, lange verbummelte Tage, und wie die Natter an der Brust nährte sie die nicht minder süße Vorstellung, wenn schon arbeiten, dann nicht so wie alle anderen in der Familie, wie Vater, Mutter, Geschwister arbeiteten - ein viel zu anmaßender Gedanke natürlich, um ihn laut auszusprechen, zumal die Mutter sie ohnehin bei jeder Gelegenheit als arbeitsscheuer Faulpelz schalt, weil sie sich an der Hausarbeit zu wenig beteiligte. In den Jahren zuvor war sie zu schwach gewesen, den Eltern das Gymnasium abzutrotzen, noch heute warf sie sich dies vor oder dachte doch voller Bedrückung darüber nach, dass sie es versäumt hatte, für sich selber die richtigen Weichen zu stellen, jenes entscheidende Versäumnis, womit das Verhängnis seinen Anfang nahm, aber damals wog die Aussicht auf eine längere Sauregurkenzeit, auf Ungnädigkeit und Leichenbittermiene im Elternhaus schwerer und entfaltete eine ungleich giftigere Wirkung als die vergleichsweise unscharfe Vorstellung, einmal auf einen ungeliebten Beruf angewiesen zu sein, eine Sache, die zu jener Zeit noch in ferner Zukunft lag. Doch der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang, wenn ein Kind unbedingt ein gutes Kind sein will.

Mit dem Besuch einer Handelsschule gewährte man ihr einen letzten Aufschub, danach war das Büroleben fast automatisch auf sie gekommen, praller Humus für die einen, ein Biotop des Schrecklichen für die anderen. Für sie. Und erst allmählich begann sie zu begreifen, dass bereits etwas Unwiderrufliches in ihrem jungen Leben geschehen war, dass sie an Grenzen gestoßen war, an äußere, die sie nicht zu beseitigen vermochte, und an solche, die in ihr selber lagen. Das Gute setzt sich durch, Gott wird’s schon richten, klang ihr das tröstlich fromme, aber falsche Credo ihres Vaters noch lange als Zukunftsversprechen in den Ohren. Hartnäckig nährte die Heranwachsende in sich das Gefühl einer Besonderheit, sie fand sich klüger und gewitzter als die anderen, prahlte auch gern ein wenig: aus mir wird was, und erwartete, dass sich ihr ein Lebensweg öffnen, ihr wie zwangsläufig werde zustoßen müssen, in dem sie sich mit Fähigkeiten wiederfand, von denen andere entweder gar nicht bemerkten oder einfach nicht glaubten, dass sie sie besaß, was zu einer Quelle ständiger Beunruhigung für sie wurde.

Zweifellos war es um ihr Selbstgefühl nicht zum allerbesten bestellt, da sie nicht auf die Schnelle mit dem gebotenen Schneid all die trivialen Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellten, hinwegzufegen vermochte - aber in diesen Jahren empfand sie einfach eine Sehnsucht nach Welterweiterung, einen intellektuellen Ehrgeiz, und verfiel, als sie beides nicht oder zur unzureichend zu stillen vermochte, einer ausschweifenden Tagträumerei, die zunehmend mit ihrem Alltagsbewusstsein kollidierte. Die große weite Welt müsse sich doch irgendwo finden lassen, dachte sie, und fand sich in einer Umgebung wieder, in der sie als linkisch steif gehemmte Person wenig zu sagen und andere nicht zu beeindrucken vermochte, und was schlimmer, was das eigentliche Unglück daran war, in der überhaupt niemand erwartete, nicht einmal wollte, dass sie etwas Herausragendes tat oder leistete. Hier in diesem Kosmos richtete sich der Maßstab der Anerkennungallein danach, wie gut sie die Ablage sortieren, die Post verteilen oder die Finger auf der Tastatur bewegen konnte, als sei dies die natürliche Ordnung der Welt.

Später dann, als dem unorthodoxen Drang nach Besonderheit und Geltung angesichts ihres unzulänglichen Auftretens etwas zunehmend Lächerliches, geradezu Realitätsfremdes anzuhaften begann, ging sie dazu über, diese Seite ihres Wesens nach innen zu verschließen. Und der plötzliche Einbruch und die jähe Allgegenwart unerwünschter beruflicher Pflichterfüllung bedrückten sie jetzt wie ein dicker Klotz am Bein, wie der Mühlstein um den Hals, die sich als die alles individuelle Streben zermalmende, unabänderliche Macht der Verhältnisse weder bewegen noch beeinflussen ließen, was sie in ein hilfloses Gefühl von Ohnmacht hineintrieb. In diesem Zustand sah sie sich bereits einem langsamen Prozess des Verkümmerns ausgesetzt, sah sich zu einem Leben ganz ohne Glanz und Strahlen verdammt, mit wenig Aussicht auf Verbesserung, sah sich als harte Strafe für jugendlichen Übermut und Überschwang einer Hyänenschar von Kleingeistern zum Fraß vorgeworfen.

Dann kam die Magersucht und mit ihr die Erlösung, es war wie eine Offenbarung für sie, auf einmal schienen Glanz und Strahlen wie vom Himmel herab gefallen zu sein. Ihr Körper verwandelte sich, wurde zum Kelch, zum heiligen Schrein, den sie auf dem Altar der Perfektion darbrachte.

Drakonisches Fasten bringt neues Lebensgefühl

Innerhalb weniger Monate schaffte sie es mit harter Selbstdisziplin, die ihr plötzlich ganz leicht, so leicht wie ein Kinderspiel fiel, ihr Gewicht auf 100 Pfund, dann auf 90, dann 80 Pfund herunterzuhungern, bis sie knapp unterhalb dieser Marke auf einem Tiefpunkt zwischen 37 und 38 Kilo stehenblieb. Je tiefer das Gewicht sank, desto euphorischer stieg ihre Stimmung und es fühlte sich an, als ginge sie auf Wolken. Sie trug jetzt Miniröcke in Kindergröße 140, streichholzkurze Haare, und wildfremde Menschen sprachen sie an der Bushaltestelle oder in einem Laden an, um ihre zerbrechliche Taille zu bewundern. Eine Zeit lang gab es häusliche Szenen, dann gab ihre Mutter auf und überließ sie sich selbst, und - da Anorexia von der Beachtung zehrt, war dies es womöglich, was sie am Ende rettete, als ihr Zustand so bedenkliche Formen annahm, dass ein Schnupfen hätte todbringend sein können. Aber auch wenn Dagmar, die kaum ärztliche Behandlung, auch keine spezielle Therapie in Anspruch nahm, sondern in einem langsamen Prozess über mehrere Jahre hinweg allmählich leidlich zur Normalität zurückfand, ein Sortiment an Fachbüchern las und sich später ganz als psychologisch Geläuterte gab, die das Wahnhafte der Magersucht genau kannte und mit Kennermiene Interessierten gegenüber davon sprach - wie leicht zum Beispiel schon nach wenigen Tagen das natürliche Hungergefühl zu kompensieren wäre, wusste sie doch genau, dass es sich bei dieser vermeintlichen Einsicht um eine reine Kopfgeburt handelte.

Insgeheim hielt Dagmar daran fest, dass zumindest in einer Hinsicht die Zeit der Magersucht in Wahrheit die beste Zeit ihres Lebens gewesen war, ein Höhenflug, wie sie ihn nie wieder erlebte. Wie alle Magersüchtigen saugte Dagmar einen enormen Stolz, einsames, hochmütiges Nektar vor allem daraus, sich anderen an Willensstärke überlegen zu fühlen; mit tiefer, rachsüchtig befriedigter Genugtuung genoss sie es, den galligen Neid all der vielen, viel zu fetten Menschen zu spüren, die sich nicht zu beherrschen vermochten, so dass die mehr unerfreulichen Begleitumstände des drakonischen Fastens - ein ständiges Frieren und Frösteln quälte sie mehr als jedes Hungergefühl, wie von der Wahrnehmung ausgeblendet dahinter verschwanden. Doch daran allein lag es nicht. Vielmehr gab es jenseits davon einen anderen, sehr speziellen Bereich, mit dem Dagmar das eigentlich Beglückende und die positive Erfahrung der Anorexia verband.

Es ging um Männer. Dagmar registrierte, dass sich ein Wandel ihres Verhältnisses zu Männern vollzog, bzw. umgekehrt, diese veränderten sich ihr gegenüber, oder doch jedenfalls ziemlich viele, überraschend viele, und dieser Umstand war es, weshalb sie die Zeit der Magersucht in ihrer Erinnerung lange zu einem erhebenden Erlebnis verklärte. Als habe sie ein Hindernis beseitigt, ein Signal gegeben, sah Dagmar sich einer Schwemme von Gunstbezeugungen ausgesetzt, mit triefendem Wohlwollen überschüttet, von erotischen Duftmarken eingekreist, die ihr völlig unerwartet und ihr selbst fast unerklärlich in den Schoß fielen und die sie mit einer gewissen Ahnungslosigkeit, mit argloser Begeisterung auflas und einsammelte. Sie, vor deren Fenstern Männer gewöhnlich keine Minnelieder sangen, die nie sonderlich umschwärmt und begehrt gewesen war, für die niemand sich großartig ins Zeug legte, ja, die sich selber schon in bitteren Bezichtigungen als schwermütigen, kopflastigen Trauerkloß schalt, sie wurde auf einmal gewahr, über welch geheimnisvolle Macht und Anziehungskraft sie verfügte, dass in ihrem neuerdings so fragilen Körper etwas Magisches zu liegen schien, das Männer anzog wie die Motten das Licht. Unwiderstehlich.

Vorbei die Zeit, in der ihr schon Tage vor jedem Fest vor der trostlosen Rolle des Mauerblümchens grauste; vorbei die Zusammenkünfte, auf denen man sie in eine Ecke schubste, von wo aus sie allein, mit rotem Kopf, verzweifelt nach einem Notnagel, einem anderen Ausgestoßenen wie sie, Ausschau halten musste; vorbei das zwanghafte Lügen, das Erfinden von Bekanntschaften, das Reden über den imaginären Ex, ach ja, mein Verflossener, den es nur leider nicht gab - vorbei all diese Trübsal, sie war jetzt von echten Anbetern umgeben, auch wenn neben vielen Bewunderern der eine oder andere existierte, der despektierliche Bemerkungen über die störend herausragenden Spitzen ihrer Hüftknochen machte. Es waren auch nicht irgendwelche Männer, die sich ihr jetzt voll schmeichelnder Zuvorkommenheit und mit raubtierhafter Geschmeidigkeit zu nähern suchten, nicht die, die ohnehin nirgends Anschluss fanden, sondern, und dies war das eigentlich Sensationelle daran, es waren attraktive Männer dabei, solche, nach denen sich andere Frauen die Hälse verrenkten, jene Vielbegehrten, die für die frühere Dagmar völlig unerreichbar gewesen wären, wie aus einem anderen Orbit, die die unscheinbare Dagmar gar nicht bemerkt haben würden vor ihrer Verwandlung, geschweige denn, dass sie etwas mit ihr hätten anfangen wollen. Doch genau das wollten sie jetzt, nämlich möglichst schnell eine sexuelle Affäre mit ihr beginnen.

Von schönen Frauen und ihren Verehrern

Wenn es einen Frauentyp gab, der Dagmars Einbildungskraft in diesen Jahren und darüber hinaus gelegentlich mit einem teils manisch anmutenden Interesse beschäftigte, über den sie aus einem Bedürfnis heraus, alle Dinge dieser Welt einer rationalen Erklärung zuzuführen, von Zeit zu Zeit hin und her sinnierte und dabei zu ergründen trachtete, wie man das Eigentümliche und die Anziehungskraft dieser Frauen in Worte fassen und erklären könne, dann war es der der sogenannten Vollblutfrau. Oft rätselte sie darüber, wie diese Inkarnation perfekter Weiblichkeit, das vollendete Dreigestirn aus Mutter, Ehefrau und Geliebter zustandekam, warum dieser gewisse sinnliche Appeal manche Frauen wie eine Aureole umwehte und andere nicht. Erklärungen, die Jahre später die Hirn- und Attraktivitätsforschung lieferte, gab es zu dieser Zeit noch nicht und hätten womöglich auch keinen Unterschied gemacht.

Wiewohl der ganzen Kategorie an sich etwas höchst Vages und Unzulängliches anhaftete, ein Stereotyp eben, stellte sie sich doch darunter etwas vor, assoziierte das Bild einer dunkelhaarigen, dunkeläugigen Frau mit einem Hauch von südländischer Herkunft, temperamentvoll, leidenschaftlich, vielleicht ein wenig zur Üppigkeit neigend, und mit besonderen Verführungstalenten ausgestattet. Doch ob vage oder nicht, schien immerhin eine breite Allgemeinheit an dieser Projektion auf die eine oder andere Weise teilzuhaben und den derart Auserwählten kraft ihrer Vorzüge ein Schicksal in Aussicht zu stellen, das auf jeden Fall ein reicheres Füllhorn über sie zu verschütten versprach als dies gewöhnlichen Menschen bestimmt oder zuträglich ist. - Der gewöhnliche Mensch liebt alles Stürmische und Unberechenbare des Schicksals gerade nicht sondern ersehnt fortwährend die Befreiung davon. - Und auch wenn Dagmar selber diesem Ideal in keiner Weise entsprach - sie war nordisch blass, hatte helle Augen und mittelblondes Haar, wenn sie sich ganz im Gegenteil infolge der Magersucht sogar von diesem Ideal eher entfernte, war es gerade dieser Frauentyp, an dem sie die eigene Unzulänglichkeit maß, wann immer sie mit der Unerbittlichkeit und Beharrlichkeit des Teenagers kummervolle Betrachtungen darüber anstellte, wo in diesem Fall für das begehrliche Füchslein die Trauben zu hoch hingen bzw. zu sauer waren.

Damals, in dieser für sie so turbulenten Zeit gab es in ihrer Berufsschulklasse eine solche Frau, das heißt zu diesem Zeitpunkt noch ein junges Mädchen von achtzehn Jahren, das bereits alle Anzeichen einer entsprechenden Entwicklung zeigte. Ihr flächiges Gesicht und die bräunliche Haut waren von einer Ebenmäßigkeit, die keiner Schminke bedurfte, ihre feingestrichelten Augenbrauen wirkten wie aufgemalt und makellose Zähne leuchteten zwischen sich weich öffnenden Lippen aus einem großzügig lächelnden Mund. Obwohl der Körper noch jugendlich schlank war, ließ sich bereits ein späterer Hang zur Stattlichkeit oder gar zu leichter Fülle erkennen, dennoch war sie gut gebaut, und Dagmar bewunderte und studierte gleichermaßen an ihr, was ihr als Modellfall großzügig bemessener Weiblichkeit vorschwebte. Drama, Roman und Oper mochten durchaus Pate gestanden haben, um jenes feine assoziative Gespinst hervorzubringen, als sähe sie eine leibhaftige Carmen oder eine Floria Tosca vor sich oder zur Not auch den etwas schwächeren Aufguss, den die Melodramen der Bildschirme boten - die dunkle Heldin, die auch nach Jahren noch unbeirrt dem Liebsten hinterher schmachtete, die sich für ihre Brut in Stücke riss, die majestätisch zu gebieten und wahrhaft erschütternd zu leiden verstand, sie alle waren es, die plötzlich inmitten des Alltags in Gestalt der Irdischen umher wandelten und den Schulhof mit ihrer Anwesenheit zierten.

Sie hieß Gudrun, Freunde riefen sie Guddi, und jeder sah, dass sie von den männlichen Lehrern zuvorkommend, zuvorkommender jedenfalls als andere, mit einer gewissen Huldigung behandelt wurde, in die selbst ihr ältlicher Klassenlehrer, ein Herr Dr. Thierry, einstimmte, der Guddi in den Pausen nur zu gern in ein Gespräch verwickelte. Dass es in der Klasse noch andere junge Schönheiten gab, die mit viel Liebreiz aufwarten konnten und in dieser Hinsicht Gudrun nicht nachstanden, darunter ein unter den gleichaltrigen Jungen heftigst umschwärmtes Schneeweißchen mit Schleierhaar, schwellendem Kussmund und wippenden Brüsten – a very showy woman, schien er dagegen kaum zur Kenntnis zu nehmen, parierte deren nicht selten halb frivole Versuche, ihn aus der Reserve zu locken oder gar provozieren zu wollen, allenfalls mit sanfter Ironie, wie ein gesetzter Herr eben, der dem Drang eines jungen Dinges sich auszuprobieren mit der nötigen Abgeklärtheit gegenübersteht und sich gegen dessen Charme und Verführungspotential bereits immunisiert hat. Auch an Dagmar verschwendete er kaum Aufmerksamkeit, rügte sie nur mit milden Zurechtweisungen, etwa im Stile von: Ach, wir wollten gerade einen Suchtrupp losschicken, wenn sie ihre regelmäßigen Klobesuche während des Unterrichts, aus Langeweile oder aus Mangel an Konzentration, zu lange ausdehnte.

Triumphe

An einem Samstag im Mai oder Juni fand dann diese Feier statt, zu der sie gemeinsam mit ein paar Leuten aus der Klasse fuhr, eine Clique, in der sie irgendwie mitlief, ohne dass sie selber groß Entscheidungen traf oder die Rolle der Meinungsführerin innehatte. Dagmar wusste später kaum noch, was genau der Anlass gewesen war, ein Polterabend, wenn sie sich richtig erinnerte, jemand aus der Klasse heiratete und hatte offenbar aus diesem Anlass ebenso großzügig wie wahllos eingeladen, in eine umgebaute Mühle, die man zu Partyzwecken mieten konnte, ziemlich weit von der nächsten Ortschaft entfernt und fast nur mit dem Auto zu erreichen. In Dagmars Gedächtnis blieben von der Fete selber nur wenige Details hängen - dass man erst vor Ort erfuhr, dass es nichts umsonst gab sondern für Essen und Trinken bezahlt werden musste, ziemlich happige Preise, woraufhin Einzelne, die auf Freibier gerechnet hatten, in Entrüstungsschreie ausbrachen und mit vorzeitigem Abgang drohten, sich dann aber doch in die dichtgedrängte Menge hineinquetschten, die durch die malerisch dekorierten Räume wogte, hundert oder zweihundert Personen, die fiebrig erhitzt, manche auch schnell angetrunken, dem Taumel sehnsüchtig erwarteter Ekstase nachjagten. Dagmar beobachtete das Gedränge mit jenem Gefühl von innerer Losgelöstheit, das sie in größeren Ansammlungen von Menschen immer befiel.

Von den Mitschülern waren nur einige wenige da, die einzigen Personen, die sie dort kannte und mit denen sie ein paar Worte sprach: Lasse, der Schönling der Klasse, Gilla, die ihn anbetete, Gudrun natürlich, und sogar der ältliche Herr Dr. Thierry tauchte zu ihrer aller Überraschung irgendwann auf, bahnte sich durch Lärm und Lichtfetzen hindurch mühsam den Weg und suchte für kurze, vergebliche Momente Anschluss an die ihn teils gleichgültig übersehende, teils gutmütig flankierende Schülertruppe zu gewinnen. Sie hielt an diesem Abend immer wieder nach Gudrun Ausschau, nicht weil sie mit dieser näher befreundet war -Gudrun hatte auf einige vorsichtige Kontaktversuche Dagmars wenn nicht unfreundlich so doch mit Gleichgültigkeit reagiert, sondern weil sie ein melancholisches Vergnügen daraus bezog zu beobachten, wie diese sich wiegend, lockend, mit halb erhobenen Armen den schwerfälligen Lehrer schließlich zu sich auf die Tanzfläche zog – „Come on Baby, light my fire“, wo sie ihn auffordernd lächelnd umkreiste und in ein Tanzabenteuer hineinzog, das diesem sichtlich unvertraut war, auf das er aber durch Guddi animiert und angefeuert sich bereitwilligst einließ und an dem er auch gleich Gefallen zu finden schien.

Kein anderes der Mädchen hätte sich wohl so ohne sichtbare Scheu oder Verlegenheit mit ihm aufs Parkett getraut und ihm diese spielerischen Avancen gemacht, sie selber auf jeden Fall nicht, ging es Dagmar mit einer Regung neidvollen Bedauerns durch den Kopf, und ganz gewiss würde er Guddi dies nie vergessen.

„Schmeißt sich ganz schön ran …“

Sie stand zwischen anderen Gästen eingeklemmt an einem der hohen Stehtische seitlich der Tanzfläche und beugte den Kopf vor, damit Gilla sie besser verstand.

„Wo ist denn Lasse …. Siehst du Lasse irgendwo?,“ fragte diese zurück, den Blick suchend auf das in glitzerndes Licht getauchte Gewimmel von Leibern gerichtet.

„Der kommt schon wieder,“ antwortete Dagmar gleichmütig sarkastisch und löffelte eine Erdbeere aus ihrer Altbierbowle, nicht ohne dabei an die für diesen Exzess vorab eingesparten Kalorien zu denken.

Hatte Dagmar sich den Nachmittag über stundenlang mit ihrer Garderobe für den Abend beschäftigt - graue Hotpants und eine weiße Rüschenbluse waren dabei herausgekommen, da helle Farben das Discolicht am besten reflektierten, deutete nichts darauf hin, dass Guddi sich auch nur die kleinste Mühe gegeben hatte, eine besondere Wirkung zu erzielen. Der gerade geschnittene, dunkle Rock und das senfgelb verwaschene T-Shirt sahen aus, als habe sie das Nächstbeste ergriffen, das ihr zur Hand kam; zwar waren die Fußnägel rot lackiert, doch die Sandaletten an den sehnig braunen Füßen waren die, die sie immer trug; nicht einmal das dunkle Haar wirkte besonders in Form gebracht sondern hing halblang und leicht zerzaust um den Kopf herum, dennoch bot sie mit ihrer lässigen Art, den Körper zu bewegen, der kräftigen Brust unter dem T-Shirt und den schmalen, auf das breitere Becken zulaufenden Beinen ein opulentes Schauspiel weiblicher Schönheit. Sprach oder rief sie etwas, erklang eine volltönende, manchmal etwas laute Stimme, die wie aus den Tiefen des Körpers aus ihr herauszuvibrieren schien. Sie strahlte ein Ausmaß an Lebensfreude aus, gemessen an dem Dagmar das eigene Schweregefühl trotz ihrer fortgeschrittenen Zerbrechlichkeit noch immer wie ein Tonnengewicht auf sich lasten spürte. Stundenlang röhrte die Musikanlage, dröhnten die Lautsprecher alte und neue Hits wie „Venus“, „Eloise“ und „Lola“ durch den Raum. Die Tanzenden stampften und zitterten, verzückt von sich selbst und der großen, erotischen Verheißung des Lebens inbrünstig wie Gläubige hingegeben.

Später am Abend kam Gudruns Freund vorbei, um sie abzuholen, der es aber nicht eilig hatte und sich eine Zeitlang unter die Gäste mischte. Auch er machte neben Guddi keine schlechte Figur, ein stämmig gebauter, breitschultriger Mann, der mit seinemblonden Vollbart wie ein Wikinger aussah, gut gekleidet und der Jeanskultur bereits entwachsen, also einige Jahre älter als Guddi, ein Typ, der bei Frauen gut ankam und um dessen Gunst sie gern buhlten.

„Warum bin ich bloß so dick?!“, murmelte die weinerliche Stimme von Gilla, die neben Dagmar in ihr Glas starrte.

„So ein Quatsch … Jetzt red' dir bloß nichts ein ….“ Von einem gönnerhaften Gefühl durchdrungen, fasste Dagmar die schwankende Gestalt der stark Angetrunkenen unter.

„Ich geh' mal gucken, wo Lasse ist …“ Gilla löste sich vom Tisch und bewegte sich auf unsicheren Beinen in die wogende Menge hinein.

„Immer dieser Pärchenterror … echt die Härte,“ wandte sich Dagmar spöttelnd an Susanne, the showy woman, die jetzt neben ihr auftauchte.

Doch diese warf ihr aus tiefschwarz umrandeten Augen nur einen abgründigen Blick zu und einen Augenblick später tauchte auch sie in dem Gewühle unter.

Irgendwann, so ein, zwei Stunden nach Mitternacht, ergab es sich, dass Guddi und Raoul - das war sein Name, sie auf der Heimfahrt im Auto mitnahmen, er am Steuer, Gudrun neben ihm und Dagmar auf dem Rücksitz. Raoul und Guddi besprachen zunächst, wie man am günstigsten fahren und wen man zuerst absetzen solle, wobei die Reihenfolge eine ausgemachte Sache zu sein schien und Dagmar ganz selbstverständlich davon ausging, dass sie als Erste aussteigen würde. Gudrun, die vorher noch so unbeschwert und ausgelassen gewesen war, schlug plötzlich einen gereizten Ton an und Dagmar registrierte verwundert, dass sie mit ihrer tiefen Stimme ihren Freund geradezu herrisch anschnauzte und ihm wie von einem gewittrig aufbrechenden Unmut gelenkt zornig über den Mund fuhr: Ja, ich sag dir doch … Da fährt es sich doch viel besser … Wieso das denn …? Ach du immer …. Sie hörte jedoch nur beiläufig hin, saß geborgen in ihrem Winkel des Wagens, erfüllt von einer nur halb eingestandenen Erleichterung darüber, dass die Party, der ganze lange anstrengende Abend vorüber und sie für diesen Tag gottlob allen weiteren Strapazen entronnen war. Raoul fuhr bereits, und während er und Guddi noch beratschlagten, legte er seinen Arm um die Lehne des Beifahrersitzes, aber nicht um seine dort sitzende Gefährtin zu umfassen, sondern um von dieser Position aus Dagmars Knie zu streicheln, was diese nach einer Sekunde Fassungslosigkeit halb fasziniert, halb verwirrt geschehen ließ. Sie kannte Raoul nicht, hatte ihn zwar einige Male in Guddis Schlepptau gesehen, aber von belanglosen Kurzbemerkungen abgesehen, nie ein Wort mit ihm gesprochen.

Obwohl es anders vereinbart war und Gudrun es anders wünschte, fuhr er zuerst vor deren Elternhaus vor, was erneut einen kurzen, ungeduldig gereizten Disput auslöste. Raoul nahm es gelassen, betonte gleichmütig: Entschuldige, dann hab' ich mich eben vertan … Ist doch auch egal … Ich denk' du bist müde, aber Dagmar begann es mit einer Mischung aus Hohn und klammheimlicher Freude zu dämmern, dass Gudrun ihrem Freund nicht traute und offenbar witterte, dass etwas in der Luft lag, weshalb sie am liebsten gar nicht ausgestiegen wäre. Sie tat es dann aber doch, knallte die Tür zu, ohne sich von Dagmar zu verabschieden, die sich wie eine Verschwörerin fühlte, als sie daraufhin mit Raoul allein davonfuhr. Sie saß noch auf dem Rücksitz, aber schon nach der nächsten Ecke hielt Raoul an und sie stieg auf den Vordersitz um. Noch Tage später rang Dagmar mit einer Aufgekratzheit, dass sie hätte schreien und zerspringen können und verspürte ein wildes Bedürfnis in ein jubelndes Triumphgeheul auszubrechen.

Nächste Woche geht’s weiter …

Alle Namen / Ereignisse geändert

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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