Doreen oder Die Mädchenwelt (6)

1.5.0. Das Kind wird geboren, doch auf Freude folgt Trauer. Dagmar lernt Doreens Schwester Janina kennen ... Kapitel 5/9*: Unser kleiner Sascha

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Ab dem fünften oder sechsten Monat erschien Doreen nur noch sporadisch, sie meldete sich jetzt häufig krank, und schließlich kam sie gar nicht mehr. Das Haus war sie nach vielen Anläufen endlich losgeworden, die von verschiedenen Seiten aufgelaufenen Kosten sollten in Raten abgestottert werden, so hatte man es zwischen den Parteien vereinbart, aber davon abgesehen schien sich ihr Leben wieder beruhigt zu haben und in einigermaßen geordneten Bahnen zu verlaufen. Eine Zeit lang erwogen sie und ihr Mann, ob sie sich wegen des zusätzlichen Nachwuchses eine größere Wohnung suchen sollten, wie sie Dagmar noch an einem ihrer vorläufig letzten Arbeitstage berichtete - eine Idee, die diese angesichts des vorausgegangenen Mietdesasters geradezu entsetzte, verschoben den Plan dann aber doch bis auf die Zeit nach der Geburt.

Doreen wusste bereits, dass sich der Wunsch nach einem Sohn erfüllen sollte, liebäugelte noch mit verschiedenen Namensvorschlägen, ließ sich mal Kevin mal Ken, mal Leo oder Lenny auf der Zunge zergehen, und auch was die Kaiserschnittgeburt anging, hatte sie offenbar auf Drängen Michaels hin schließlich nachgegeben. Immer wieder betonte sie, dass sie sich keinerlei Sorgen mache, auch nicht darüber, dass womöglich auch ihr drittes Kind an gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden könne, gab sich stattdessen mit lockeren Aussprüchen munter aufgekratzt, wie’t kommt so kommt‘s eben, und suchte sich weiterhin soviel Aufmerksamkeit zu sichern, wie sie nur kriegen konnte.

Einige Monate gingen ins Land, in denen Dagmar nur von Frau Rader oder von Rita, die beide am Ort lebten, gelegentlich spärliche Neuigkeiten über Doreen hörte. Das Baby war inzwischen auf die Welt gekommen, gut zwei Monate zu früh - es hieß, die Ärzte hätten es wegen drohender Unterversorgung des Fötus für geraten gehalten, die Schwangerschaft zum frühstmöglich vertretbaren Zeitpunkt zu beenden, doch handelte es sich angeblich um ein rundherum gesundes Kind, woran Frau Rader allerdings sofort Zweifel anmeldete. Sie glaubte nicht daran und wollte andere Informationen haben, machte geheimnisvolle Andeutungen, ohne groß ein Echo zu finden, da nicht nur jeder wusste, wie sehr Sigrid Rader es liebte zu unken, sondern auch, dass ihr Verhältnis zur Kollegin zumindest gespalten, auf jeden Fall nicht das Allerherzlichste war.

Auch der endgültig beschlossene und in einer Geburtsanzeige in der örtlichen Zeitung hochoffiziell verlautbarte Name des Jungen stand jetzt fest, und zwar gaben die überglücklichen Eltern dort bekannt, dass bei Elise und Mona endlich das langersehnte Brüderchen eingetroffen wäre und dieses sollte Sascha heißen.

Besuch im Krankenhaus

An dem Montag Anfang September, als die Nachricht von der Geburt Saschas eintraf, ging Dagmar durch die Abteilungen und sammelte Geld, Frau Rader besorgte davon am nächsten Tag Blumen und Strampelanzug, und wieder einen Tag später trafen sie sich in Münster im Krankenhaus, wo sie eine bleich ausgezehrte, aber betont fröhliche Doreen in ihrem Bett vorfanden; das Neugeborene allerdings konnten sie nicht sehen, da es nicht bei Doreen im Zimmer sondern auf der Kinderintensivstation lag. Dafür trafen sie am Wochenbett Doreens Schwester Janina an, die auf Urlaub und zu einem Blitzbesuch gekommen war. Da Frau Rader es eilig hatte und sich nicht aufhalten lassen wollte, auch während des Besuches offenbar als Folge einer ihrer plötzlichen Stimmungsschwankungen in einen Zustand mürrischer Schweigsamkeit verfiel, beendete Dagmar allein den Besuch und begleitete anschließend noch Janina in die Cafeteria im Untergeschoss, wo sich letztere einen Cappuchino, Dagmar selber eine Latte Macchiato bestellte.

Nichts an der kompakten Mittdreißigerin erinnerte an die zarte Konstitution ihrer jüngeren Schwester; sie musste mindestens einen Kopf größer sein als diese und mochte eher einige Pfunde zuviel als zuwenig in eine knapp sitzende, zimtbraune Hose gezwängt haben. Dazu trug sie ein helles Top und darüber ein farblich passendes Oberteil - alles wirkte unaufdringlich, aber ansprechend ausgewählt, und einzig die allzu stark aufgehellten blonden Haare, die nicht recht zu ihrem etwas groben Teint passen wollten, sowie ein Übermaß an Modeschmuck - etliche Ringe an den Fingern, schwarze Kugelgehänge an den Ohren und mehrere Schnüre um den Hals, widerstrebten Dagmars eigenem diffizilen Geschmack. Allenfalls ihre Sprechweise erinnerte entfernt an die von Doreen, wiewohl das Berlinerische bei ihr weniger durchkam - auch sie gab sich verbal offen und unverblümt, und auf Dagmars vorsichtige Frage hin, was sie von der Familienplanung ihrer Schwester halte, erklärte sie unumwunden, sie und die Eltern seien völlig platt gewesen, nein sowas aber auch, damit hatte niemand auch nur im Entferntesten mehr gerechnet, noch ein Kind und dann das Risiko, dass auch dieses womöglich nicht gesund wäre.

„Schon die ganzen Probleme mit den Mädchen ...“, setzte sie forschend an, als wolle sie erkunden, wie gut Dagmar Bescheid wusste.

„Ja, ich weiß.“

„Irgendwann muss es doch gut sein oder nicht?“ Janina lachte.

„Ja stimmt.“ Dagmar nickte zustimmend, obwohl sie nicht wusste, worauf diese anspielte. „Und Ihr Schwager, dieser Micki, hilft er ihr denn wenigstens, ich meine, im Haushalt und mit den Kindern?“, fragte sie. „Ich habe den Eindruck, dass sie ziemlich alleine dasteht.“

„Ich glaub' schon, dass er ihr hilft,“ antwortete Janina arglos, wie verwundert ob der Frage.

„Und Sie meinen, die Ehe ist glücklich?“

„Na ja … Was ist glücklich? Und soviel Kontakt haben wir nicht ... Ich glaube aber schon … Ich glaube, sie kommen ganz gut zurecht ...“ Ein Lächeln, das nach Zustimmung verlangte, verschwand, als keine Zustimmung kam. „Immerhin geht er regelmäßig arbeiten.“

„Kann es sein, dass Doreen magersüchtig ist?“ Dagmar wollte die günstige Gelegenheit, eine Verwandte von Doreen auszuhorchen, nicht verpassen und steuerte jetzt direkt ihr Ziel an.

Der Kellner kam, um die Getränke zu servieren. Das Lokal war leidlich gut besucht, und das leise Summen einer Vielzahl gedämpfter menschlicher Stimmen erfüllte den Raum.

„Meinen Sie?“ fragte Janina eher ungläubig zurück, als der Kellner sich zurückzog. „Ja, wir wundern uns auch immer wieder, wie sie das macht, vor allem seit sie verheiratet ist und Kinder hat ...“

Sie begann an dem Sahnehäubchen des Cappuchino zu löffeln. „Bei der Arbeit hat sie aber keine Probleme, oder …? Sie kennen sie doch von da ...“ Sie blickte ihr Gegenüber fragend an.

Diese hielt sich damit nicht auf. „Nein, keine Probleme … Das muss doch dann schon angefangen haben, als Doreen noch bei Ihnen zu Hause gelebt hat?“

„Ja, sie war schon immer so … schon als Jugendliche ... ja vielleicht,“ antwortete Janina unbestimmt. „Ehrlich gesagt, ich glaube, unsere Eltern wussten gar nicht, dass es sowas gibt … Magersucht,“ fuhr sie nach kurzem Zögern resolut fort und ließ das Wort von der Zunge herunterrollen, „ja vielleicht im Westen, okay, da gab's vielleicht Leute … Leute die sich freiwillig fast zu Tode hungern ... du liebe Güte, aber wir bei uns ... wir hatten wirklich andere Sorgen.“

Sie schien eine leichte Verlegenheit zu verscheuchen, bevor sie mit reuiger Miene über die üppigen Brusthügel hinweg an sich herunterblickte, wo sich oberhalb des engen Hosenverschlusses ein leichtes Speckröllchen unter dem Oberteil abzeichnete. „Ich könnte auch ein paar Kilo weniger vertragen“, seufzte sie mit gespielter Zerknirschung, aber Dagmar zweifelte nicht daran, dass Janina hauptsächlich vom Thema ablenken wollte.

„Und Sie sind ja auch sehr schlank.“

Ein prüfender Blick streifte die hagere Gestalt in dem blauen Jackett, das eine Nummer kleiner hätte sein können und aus dessen breiten Ärmelöffnungen Dagmars Hände wie an dünnen Stengeln befestigt herausragten.

„Es ist eine Krankheit, und wer sie hat, sollte etwas dagegen tun. Es ist nicht nur körperlich sondern auch psychisch ein enormer Stress.“ Dagmar wusste, dass ihre Stimme dozierend klang und empfand eine momentane Peinlichkeit, auch das Wort „Krankheit“ kam ihr nur widerwillig über die Lippen.

„Ja, hab' ich von gehört, ich weiß, schrecklich. … Ich glaube, dass unsere Eltern immer Angst hatten, dass man Doreen irgendwann in eine Klinik bringen würde, aber dass wir alle dachten, dass es mehr so eine normale Krankheit ist, wie Auszehrung oder sowas ...“

„Aber es muss Ihnen doch aufgefallen sein, wenn sie nichts isst!“

„Natürlich hat sie gegessen,“ beteuerte Janina entrüstet, „in so ‘nem bestimmten Alter mäkeln doch alle Kinder am Essen rum, oder? ... Also unser Tobias, das is‘ mein Sohn, der is' jetzt dreizehn, wissen Sie, was ich da manchmal anstellen muss ... Pommes und Spaghetti und das am liebsten dreimal täglich, jetzt ist es gottseidank besser ...“ Sie lachte erheitert, brach ab und wandte ihre ganze Energie dem in Folie verpackten Keks zu, der auf dem Rand ihrer Untertasse lag, ließ dann, nachdem der Keks ausgepackt und verspeist war, ihren Blick durch das Lokal gleiten, als wolle sie Dagmars unverwandt grüblerischer Aufmerksamkeit entgehen. „Außerdem konnte sie wirklich essen, was sie wollte und wurde trotzdem nicht dicker ....“

„Sagt Doreen?“

„Ja, es war so ...“ Ein kühler Hauch von Gereiztheit breitete sich aus. Dagmar störte sich nicht daran. Sie wollte die aussichtsreiche Fährte auf keinen Fall verlassen.

„Es war so“, fuhr Janina fort. „Doreen ist ja auch jünger als ich, ich bin ja schon arbeiten gegangen als sie noch zur Schule ging. Auch das ganze Verhältnis zum Essen war einfach ... einfach anders als hier ... bei euch. … Und wenn was gewesen wäre, hätten die doch in der Schule gleich nachgeforscht … Was denken Sie denn?“ Sie suchte aus der längst geleerten Tasse einen letzten Löffel Flüssigkeit zusammenzukratzen. „Aber Sie glauben, das stimmt alles nicht?“ Der letzte Satz klang angriffslustig.

„Doch, doch, natürlich“, beeilte sich Dagmar sofort reflexhaft zu versichern. Sie verstand, dass ihr diktatorischer Eifer nicht gut ankam und begann hastig nach anderen Dingen zu fragen, nach Janinas Arbeitsstelle, dem Sohn, dem neuen Lebensgefährten, den Eltern, was diese früher gearbeitet hätten ...

Janina antwortete zerstreut, sie schien mit ihren Gedanken woanders zu sein, kramte in ihrer Handtasche und kehrte gleich darauf zu dem früheren Gesprächsgegenstand zurück.

„Wissen Sie, das war keine leichte Sache für uns,“ nahm sie den Faden wieder auf, den Blick halb nachdenklich an Dagmar vorbei in den Raum gerichtet, „unsere Eltern haben sich das wahnsinnig zu Herzen genommen und immer auf Doreen eingeredet, sie müsse mehr essen, jedenfalls dicker werden, sonst käme sie in die Psychiatrie und was sonst noch alles ...“

Na also, geht doch, dachte Dagmar.

„... Und auch, was das für‘n Eindruck machte, aus der Schule kamen manchmal ganz merkwürdige Anfragen, als ob wir Asoziale wären .... Manche Leute haben Witze gemacht, ob sie uns was zu essen bringen sollten für Doreen ... Also wir fanden das überhaupt nicht komisch, glauben Sie das bloß nicht.“

„Das glaub' ich gar nicht.“

Sie lächelten sich einen Augenblick des Einvernehmens lang an. Dagmar erinnerte sich plötzlich, wie damals, auf dem Höhepunkt ihres Hungerrausches, wie damals zwei Kollegen, zwei von diesen ätzend verknöcherten Oldies aus der E-r-s-a-t-z-t-e-i-l-Abteilung, in der sie gerade arbeitete, in ihrem Beisein ungeniert darüber lästerten, sie werde das nächste Weihnachtsfest nicht mehr erleben. Das war im Sommer gewesen. Eine makabre Sache. Sehr makaber, wirklich. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätten mit ihrer Prognose recht behalten.

„Anatol, mein früherer Mann, der hat auch immer gesagt, jemanden wie Doreen würde er nich‘ mal mit der Kneifzange anfassen ... Wir waren froh, als Michael aufgetaucht ist, vorher hat sich da nicht viel abgespielt, glaub ich ...“

Aber Micki hatte natürlich keine Bedenken, dachte Dagmar. Widerlich. Sie unterbrach Janina. „Und dann haben sie einfach immer behauptet, es wäre alles in Ordnung, völlig verständlich natürlich,“ setzte sie hastig hinzu, als sie Janinas aufflammenden Blick sah.

„Sie sagen das so,“ erwiderte diese mit spitzem Unterton, „es war doch auch alles in Ordnung, sie war nicht krank, nicht bettlägerig, immer vergnügt ... Warum hätten wir denken sollen, dass ihr was fehlt ...“

Dagmar zweifelte nicht an Doreens Fähigkeit, sich durch ein womöglich nur dünn gespanntes Beobachtungsnetz hindurch zu mogeln, oder sie hatte später heimlich ausgekotzt, was sie vorher zur Beruhigung der Familie zu sich nahm, da gab es viele Möglichkeiten zur Manipulation. Außerdem ging es ihr nicht darum, den Angehörigen Vorwürfe zu machen.

Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie die nächste Frage stellte. Wenn Janina es Doreen weitererzählte, würde dies einen vielleicht dauerhaft störenden Eindruck hinterlassen, andererseits, wenn nicht jetzt, wann dann.

„Gibt‘s eigentlich irgendein Anzeichen dafür, formulierte sie deshalb vorsichtig gedrechselt, oder ist ihnen irgendwas aufgefallen, was darauf hindeutet, dass Ihr Schwager gewalttätig sein könnte?“, fragte sie dann aufs Geratewohl.

Janinas Blick ließ aufrichtiges Entsetzen erkennen: „Wie kommen Sie denn darauf? Das is‘n total lieber, netter Kerl ...“

Plötzlich und unerwartet …

Dann war das Kind tot. Nach einem ungewöhnlich langen Nachwinter mit wenig Sonne fegte endlich milde Luft die letzten Reste von Winterruhe und Erdenschwere beiseite, selbst unverbesserliche Kaltblütler tankten erleichtert das hellere Licht, und der neue Kreislauf des Jahres begann eiligst seine schönsten und farbigsten Zeichen zu setzten. Draußen auf dem Gartenstück vor Dagmars Bürofenster prunkte rosapink ein Rhododendron-Strauch und aus der lila Orchidee auf ihrem Schreibtisch schoss nach dem Ende der Vegetationspause lang und schlank ein neuer Stengel voll mit Blütenknospen hervor, deren Öffnen sie bereits ungeduldig erwartete. Zwar konnte sie sich nicht über schlechte Behandlung beklagen, doch hatte sich auch in ihrem zweiten Jahr die Situation in der Firma nur wenig verbessert, und immer öfter sann sie, von innerer Unruhe erfüllt, darüber nach, ob sie sich nicht wieder auf Stellensuche begeben sollte. Wieder diese Tortur. Sie wusste, dass Müller und andere ihr verübelten, dass sie häufig über Untätigkeit klagte.

Dass Doreen an diesem Tag im Mai nicht zur Arbeit kam, fiel zunächst niemandem wirklich auf, von der sofort heftig aufbrausenden Frau Rader einmal abgesehen. Dagmar hatte mit Doreen seit Wochen kaum ein Wort gesprochen, da diese entweder aus ihrem Seitentrakt nicht herauskam, völlig abgehetzt wirkte oder ohnehin wegen Urlaub oder Krankheit fehlte. Erst am nächsten Tag sprach sich die Nachricht, dann allerdings in Windeseile herum: Sascha war tot.

Über die Ursache wusste niemand etwas Genaues zu sagen, möglicherweise war das Kind von Anfang an zu schwach gewesen, oder es handelte sich um einen dieser Fälle von plötzlichem Kindstod oder oder … - man mutmaßte das eine oder andere mehr ins Blaue hinein und insbesondere diejenigen, die selber Kinder hatten, bekundeten demonstrativ ein angemessenes Mitleid mit den von diesem Schicksalsschlag so hart Getroffenen. Nur Frau Rader, die wie in eine fiebrig gefühlvolle Hochstimmung versetzt durch die Abteilungen eilte, witterte sogleich wieder Bedenkliches und breitete aufgekratzt ihre eigenen Erkenntnisse vor Dagmar aus: Dass nämlich die Kriminalpolizei ermittle und der Leichnam des Kleinen nach Münster in die Gerichtsmedizin gebracht worden sei, dass Doreen und ihr Mann befragt würden, alles genauso wie im Fernsehen; ja sogar vom Jugendamt wäre jemand da gewesen, wegen der Töchter, ob diese denn auch ordentlich versorgt würden.

„Und gucken Sie mal, hier in der Zeitung steht auch was,“ fuhr sie glühend vor Eifer fort und hielt Dagmar mit leuchtenden Augen die aufgeschlagene Lokalzeitung hin, in der ein Artikel oder eigentlich nur eine kurze Notiz auf den Fall eines ungeklärten Kindstodes hinwies. Die Ereignisse schienen ihre regsten Phantasien in Gang gesetzt zu haben, und sie schien sofort die fürchterlichsten Dinge zu mutmaßen. Dagmar, deren moderatem Temperament solch unangebrachter Überschwang widerstand, die auch dank einer langen und komplizierten Übersetzung, die sie für Herrn Müller anfertigte, in selten gehobener Stimmung war, versuchte zu dämpfen: Das alles sei doch nur die übliche Routine in solchen Fällen, sagte sie, und man dürfe daraus keine voreiligen Schlüsse ziehen.

Doch als sich auch in den folgenden Tagen, wenn auch ohne Nennung von Namen, einige weitere Meldungen in der Zeitung fanden, die Frau Rader ihr und anderen ein ums andere Mal unter die Nase hielt, als sich darin gar die Formulierung fand, die Staatsanwaltschaft gehe dem Verdacht eines Tötungsdeliktes nach, machte sich doch eine epidemisch grassierende Lust am Spekulieren breit, und so mancher rätselte mit zunehmend entfesselter Einbildungskraft, was wohl mit Sascha geschehen sein könne und kramte in seinem Gedächtnis nach Beispielen von mordenden Müttern, die einst die Gemüter der teilnehmenden Öffentlichkeit erregt hatten.

Die mehr weiseren Menschen hielten natürlich dagegen, belächelten ungläubig oder nachsichtig solche Auswüchse von hanebüchener Sensationsgier, bis die Meldungen schließlich verschwanden und das Interesse allmählich versandete. Man hörte, das Begräbnis finde statt: Dagmar ging nicht hin, weil sie es zu aufdringlich fand, Frau Rader hatte keine Lust, und nur Rita berichtete später, es seien, trotz der Presseberichte, kaum zusätzliche Leute dagewesen, eigentlich nur engste Angehörige.

Kurze Zeit später erschien auch Doreen wieder zur Arbeit, die Stimmung war umgeschlagen, etwas Pathetisches umgab die kleine Gestalt, die wie das Inbild einer geschundenen Kreatur in schwarzer Trauertracht ihrer Tätigkeit nachging; an den ersten Tagen trug sie einen knielangen Faltenrock, unter dem ihre Beine in den dunklen Stümpfen wie dünne Stöckchen hervorsahen, danach kehrte sie zu den gewohnten Hosen zurück. Sie gab sich burschikos, so gut es ging, weinte nicht in der Firma, trieb sich wieder häufig bei Dagmar herum und sagte Dinge wie: Das Leben müsse weitergehen, auch wenn ihr kleiner Sascha jetzt auf dem Friedhof liege, man habe auch nicht an der Beerdigung oder am Grab gespart, das sei man dem Kleinen schuldig, zum Glück blieben ihnen ja die beiden Töchter, die Familie trage das Leid gemeinsam …

Da sie keine direkten Fragen nach dem Tod des Kindes stellen mochte, fragte Dagmar nach den Ermittlungen, ob es schlimm gewesen sei. Doreen berichtete, sie und Michael wären zweimal zur Staatsanwaltschaft vorgeladen und dort getrennt mehrere Stunden lang vernommen worden.

„Und jetzt ist alles geklärt?“, erkundigte sich Dagmar, bemüht ihre Stimme nicht allzu neugierig klingen zu lassen, aber Doreen zuckte nur mit den Schultern:

„Die müssen det so machen,“ sagte sie, „det hört ooch wieder uff.“

*Kapitelzählung ab Kapitel 5 geändert, d.h. 5/9 statt 5/8.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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