Doreen oder Die Mädchenwelt (7)

1.6.0. Die Magersucht hatte Dagmar selbstbewusst gemacht. Sie war jung und wollte etwas erleben ... Kapitel 6/9: Dagmar liest eine Annonce

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Eines Tages war Dagmar in einer Zeitung eine Anzeige aufgefallen: Welche junge Frau begleitet mich (m.) auf eine Reise in die USA, stand da unter der Rubrik Reise & Freizeit geschrieben, Zuschriften bitte mit Bild an Chiffre Nr. Soundso erbeten.

Dagmar überflog den kurzen Text immer wieder, saugte sich mit begierigen Blicken daran fest, als könne sie damit das magisch Verlockende der Botschaft beschwören, das sich mit der Aussicht auf eine Reise in ein für sie sehr weit entferntes Land verband. Dies ist ein eindeutig unseriöses Angebot, dachte sie, es gehörte sich nicht, so etwas anzunehmen, wahrscheinlich ging es um Sex, ein alternder Lüstling, der mit seiner Brieftasche winkte und für einen bequemen Beischlaf ein paar Scheine rüberschieben wollte, alles dezent verbrämt natürlich - was aber heutzutage im Grunde kein Anlass mehr für besondere Skrupel war, jedenfalls nicht, wenn man zu den cleveren Frauen gehörte, die aus ihrem Leben etwas machen wollten.

Sie empfand sofort den brennenden Wunsch sich auf die Anzeige zu melden. Daran, dass sich ein jüngerer Mann hinter dieser verbergen könne, wollte sie nicht denken, einmal weil ihr diese Vorstellung nicht behagte, da ein jüngerer Mann zweifellos höhere Ansprüche stellen würde als ein schon etwas betagterer Liebhaber, und zum anderen, weil der dürre Tonfall der Annonce ihr tatsächlich eher zu einem älteren Menschen zu passen schien.

Dagmars Eltern gehörten noch nicht zu den reisefreudigen Generationen, hatten nie im Leben ein Auto und keinen Führerschein besessen, und von einigen Klassenfahrten während der Schulzeit abgesehen, war sie bisher nur wenig herumgekommen. Umso mehr beneidete sie alle Leute, die ganz selbstverständlich durch die Welt gondelten und hoffte eines Tages einmal selber die Nonchalance eines Globetrotters zu besitzen, der sich auf Bahnhöfen und Flughäfen weder um sein Gepäck sorgte noch Unruhe über eine angekündigte Verspätung empfand. Sie litt darunter, dass sie sich für eine zu bedenkenträgerische Natur hielt. Doch da sie sich durch die Magersucht von einem neuen Selbstbewusstsein beflügelt fühlte, beschloss sie, dass sie unbedingt die Gelegenheit nutzen und es auf jeden Fall mit einer Zuschrift versuchen müsse. Absagen kann ich immer noch, dachte sie.

Sie schrieb also ein paar Sätze, über denen sie lange grübelte, legte auch das gewünschte Foto bei - kein Passbild sondern eines, das sie in voller Größe zeigte, und wartete vorsichtshalber ein paar Tage für den Fall, dass sie es sich anders überlegen sollte, bis sie den Brief schließlich abschickte. Fast wünschte sie, dass keine Antwort kommen möge, aber noch vor Wochenfrist klingelte das Telefon und tatsächlich, ein Mann mit tiefer und nicht mehr ganz junger Stimme stellte sich am Apparat als derjenige vor, der die Anzeige aufgegeben hat. Was ich plötzlich für ein Glück habe, dachte Dagmar erfreut mit etwas stärker als gewöhnlich klopfendem Herzen, früher wäre mir das nie passiert, früher sind mir nie so angenehme Dinge zugestoßen, wahrscheinlich haben sich Hunderte auf die Anzeige gemeldet, und siehe da, ich gehöre zu den Auserwählten.

Sie verabredete sich mit dem Anrufer für den nächsten Tag in einem Café.

Das erste Rendezvous

Er saß in der Nähe des Einganges und winkte ihr sofort zu, als sie hereinkam. Obwohl sie wusste, dass kein Jüngling sie erwartete, erschrak sie doch, als sie ihn sah. Er musste schon um die sechzig oder nur wenig darunter sein, schätzte sie, ein großer, barocker Mann mit schwerem Leib, dessen leicht gelocktes Haar noch wenig ergraut oder gelichtet war und ihm in einer geringelten Strähne seitlich in die Stirn fiel. Zu einer graublauen Hose mit scharfer Bügelfalte trug er ein blütenweißes Hemd, einen tintenblauen Schlips mit hellroten Punkten und eine dicke, weinrote Strickjacke, was ihn in Dagmars Augen - sie ist kürzlich neunzehn geworden, altväterlich aussehen ließ, trotz der Pünktchenkrawatte, die sie recht hübsch findet. Eine goldene Uhr glänzte am Handgelenk, der Ehering befand sich vorschriftsmäßig an der rechten, ein Siegelring am kleinen Finger der linken Hand, und eine Brille mit feinem Metallrand saß ihm auf der Nasenspitze. Seine braunen Augen machten einen gutmütigen Eindruck. Man begrüßte sich mit einem kurzen Händedruck.

Er lud Dagmar zu einem Eis oder einem Stück Torte ein, aber sie isst kein Eis und um Himmels willen auch keine Torte, sondern bestellte nur ein Mineralwasser, während er bedächtig am Inhalt einer zierlichen Mokkatasse nippte, die bereits auf dem Tisch stand. Neben dem Gedeck lag eine jetzt zusammengefaltete Zeitung, die FAZ. Nach ein wenig Gerücke mit den Stühlen eröffnete er das Gespräch:

„Erzählen Sie mal, was machen Sie denn so, gute Firma bei der Sie arbeiten, sehr bekannt hier im Ort, wichtiger Arbeitgeber …“

„Ich habe gerade Abschlussprüfung gemacht.“

Ah, Sie haben gerade Abschlussprüfung gemacht. Da steht dem Start ins Leben ja nichts mehr im Wege. Sie bleiben doch in der Firma … ?“

„Ja, ich bin übernommen worden. Ich arbeite jetzt in der Exportabteilung. Die ist sehr angesehen. Das ist schon was Besonderes ...“

„Natürlich. Da müssen Sie sicher Fremdsprachen können?“

„Ja, ich hatte Englisch in der Schule und Französisch auf der Handelsschule.“

„Sehr schön. Ja, Sprachen sind immer gut. Und sonst? Sie leben doch bestimmt noch bei Ihren Eltern?“

„Nein, ich habe seit kurzem eine eigene Wohnung. Eine Firmenwohnung. Die Miete ist sehr günstig und es ist ganz nah, nur fünf Minuten zu Fuß in die Firma.“

„Und auch gleich eine eigene Wohnung!? So jung und schon so ganz auf eigenen Füßen. Da werden Ihre Eltern sicher traurig sein ...“

Er umkreiste sie mit Worten, er plauderte - eine Performance, die er glänzend absolvierte, über allerlei Belanglosigkeiten dahin, stellte zwischendurch unauffällig Fragen, die sie schülerinnenhaft brav beantwortete, als solle sie gar nicht merken, dass sie ausgefragt wurde - nur merkte sie es eben doch und das Frage-Antwort-Spiel ging ihr auf die Nerven. Sie wollte ihm sagen, dass sie von Abenteuerlust getrieben war, fürchtete aber, es könne lächerlich klingen oder er könne es falsch verstehen. Es war später Nachmittag, er glaubte, dass sie von der Arbeit käme und hatte Zeit und Ort entsprechend gewählt, damit sie nichts versäumt, und sie ließ es dabei, obwohl sie sich eigens für das Rendezvous den Nachmittag freigenommen hat, da sie allzuviele Anstrengungen an einem Tag lieber vermied. Danach erläuterte er ihr etwas umständlich, dass er selbstverständlich sämtliche Kosten der Reise übernehmen werde. Sie lächelte und sagte matt: Oh, sehr nett, wie schön, wie großzügig, obwohl sie dies nicht anders erwartet hatte und für selbstverständlich hielt. Die ganze Zeit über betrachtete er sie mit einem eindringlich wohlwollenden Blick, sie spürte, dass sie ihm gefiel, was ein erhebendes Gefühl war, sie andererseits aber auch ein wenig genierte, da sie kaum wusste, wohin sie blicken sollte und mit ihrer Verlegenheit kämpfte. Im Stillen fand sie seine massige Erscheinung ein klein wenig widerwärtig.

Reisepläne

Er hatte sich gleich zu Anfang als Ferdinand Küppers vorgestellt, und fast im gleichen Atemzug erwähnte er auch, dass er Inhaber einer Mercedes-Vertretung war, und wenn diese prominente Marke eine satte Aura von Distinguiertheit verströmte, so hatte sie zweifellos auf ihn abgefärbt. Um die Automarke ging es auch bei seinem Reiseziel. Er müsse dort geschäftlich hin, nach Detroit, einige dortige Autohäuser oder Ausstellungen besuchen, wie er Dagmar erklärte, die höflich zuhörte, sich aber für Autohandel und dergleichen nicht sonderlich interessierte. Sie wusste nicht, ob es noch andere Bewerberinnen in der engeren Auswahl gab und mochte nicht danach fragen, allerdings erwähnte er, dass ihm ihre Zuschrift besonders gut gefallen hätte.

„Ja, Ihr Bild war mir gleich sympathisch,“ sagte er, während er sie wieder mit sichtlicher Bewunderung musterte, „und wie schlank Sie sind, einfach bezaubernd,“ fügte er in einem etwas angestrengten Versuch, ihr ein Kompliment zu machen, hinzu.

Sie trug ein königsblaues Jerseykleid, das sie von ihrer drei Jahre jüngeren Schwester geerbt hatte, da es dieser zu klein geworden war, ein Minikleid, dessen Rock an den Oberschenkeln endete, so dass die Beine in den lila Strümpfen gut zur Geltung kamen. Der Kurzhaarschnitt, für den sie sich neuerdings begeisterte, war von blondierten Strähnchen durchzogen, allerdings waren die Haare im Nacken und an den Seiten sehr lang gehalten, wie es dem aktuellen Modetrend entsprach. Sie benutzte viel Make-Up, viel dunkle Umrandung für die Augen, sehr viel helle, fast maskenhafte Tönung für das schmal gewordene Gesicht. Sie findet sich schön.

Er schien das Bedürfnis zu haben, seinen Wunsch nach einer Reisebegleitung zu erklären, und zu Dagmars heimlichem Unbehagen begann er, wenn auch ein wenig umschreibend, zu berichten, dass der Anstoß dazu von seinem Hausarzt ausgegangen war.

„Wenn man so lange verheiratet ist, klappt manches nicht mehr so wie früher, als man jung war,“ sagte er mit elegischer Miene, „die Spannung ist einfach nicht mehr da ...“

Deshalb habe der Arzt ihm geraten, neue Wege zu beschreiten, fuhr er fort, ohne jedoch den genauen Zweck der Reise zu benennen.

Er will wegen nachlassender Libido die Partnerin wechseln, dachte Dagmar. Das ist also der Pferdefuß, ach du Kacke, wie unangenehm, na hoffentlich keine ernsteren Probleme, die er bei ihr abladen wollte und die am Ende zu Peinlichkeiten ausarteten. Oder brauchte er einfach einen Vorwand für einen Seitensprung? Ein eher beklommenes Gefühl beschlich sie bei dem Gedanken, dass sie als eine Art medizinischer Liebeskünstlerin gegen schwindende sexuelle Vitalität eingesetzt werden sollte. Er war kein Routinier im Fremdgehen, soviel war klar, was ihr im Grunde aber lieber gewesen wäre - jemand, der kurz und schmerzlos zur Sache kam, wusste wie es lief, sie zum Orgasmus brachte und danach zur Tagesordnung zurückkehrte. Seine Ehrlichkeit war einfach zu plump, geradezu brutal, der tolpatschige Versuch sich schon im Vorfeld zu entlasten, um später besser das Gesicht wahren zu können, wenn etwas schiefging.

Leute, die nichts mit sich selber abmachen, nichts für sich behalten können, sind mir ein Gräuel, dachte Dagmar mit einem Anflug von zorniger Boshaftigkeit. Jeder will seinen Müll bei anderen auskippen. Er windet sich innerlich mit seiner Angst vor Impotenz. Dabei will sie doch gar nichts von ihm. Die Reise ist das Abenteuer, um das es ihr geht, nicht er oder sein fettiger Körper. Aber er träumte natürlich von wilden Orgien und ungezügelter Fleischeslust, mein Gott, wie naiv ist er denn?

Sie bemühte sich möglichst viel von dem herzigen Charme töricht mädchenhafter Unterwerfung zu zeigen, mit dem sie in letzter Zeit so gut ankam und der auch ihm sichtlich zu gefallen schien. So war es perfekt für ihn, dachte sie, die Illusion der Frau als lolitahafte Puppe, er zieht sie auf und sie spreizt die Beine, und alles ganz ohne Risiko, ohne Blamage, ohne Versagen, ohne verdächtige Unlust, weil sie doch so klein und zart und ahnungslos und er auf jeden Fall der große, überlegene Onkel ist.

Natürlich dachte sie nicht im Traum daran, sich später in Amerika zu irgendwelchen Gegenleistungen verpflichtet zu fühlen, sie würde den Gesetzen bestimmter Situationen folgen und aus rein praktischen Gründen tun, was gerade vorteilhaft war. Andererseits hatte auch sie ein Selbstbild zu verteidigen, das, auch wenn es noch im Entstehen begriffen und so fragil wie ihre Erscheinung war, nicht zerstört werden durfte. Auch sie will sich keine Blöße geben, sie ist jetzt eine junge, schöne, leidenschaftliche Frau voll erotischer Verheißung und ein ästhetisches Kunstwerk obendrein. Auch durfte sie ihn nicht allzu offensichtlich vor den Kopf stoßen, schließlich wollte sie in Amerika keine Autos sondern möglichst viel von Land und Leuten sehen, vielleicht sogar mit seiner Hilfe ein wenig herumreisen, und es würde schwierig sein, sich dies von ihm zu erschmeicheln, wenn sie ihm keine Gegenleistung, keinen Köder bot, zumal sie ihn ohnehin für einen Mann hielt, der stur an seinen einmal gefassten Plänen festhalten würde. Also beantwortete sie mit viel vielsagendem Lächeln seine Fragen, ohne selber welche zu stellen, hielt sich an die Strategie, halb keusch und halb ein wenig verrucht zu wirken, und nach einer knappen dreiviertel Stunde beendete er das Stelldichein, da er, wie er sagte, noch zu einem geschäftlichen Termin müsse.

Auf der Straße bot er ihr an, sie in seinem Mercedes, der dort geparkt stand - ein Modell, so weinrot wie seine Strickjacke, ein Stück mitzunehmen und sie stieg ein. Während der Fahrt erwähnte Dagmar, halb in grüblerische Gedanken über einen Aspekt der Reise versunken, der ihr keine Ruhe ließ, noch einmal die Reisekosten, die er übernehmen wolle, und sagte, manche Menschen würden darin etwas Zweideutiges sehen. Er reagierte merklich erschreckt, als habe sie einen Stilbruch begangen und verhaspelte sich fast, als er eiligst betonte:

„Geld spielt doch zwischen uns keine Rolle, überhaupt keine, nicht wahr? Sie sind doch schon eine erwachsene Frau … Wir sind zwei erwachsene Menschen, die wissen, worum es geht, so ist es doch, nicht wahr … “

Bevor sie ausstieg, traf man noch ein paar Verabredungen wegen der erforderlichen Papiere für die Amerikareise, und er versprach, sie in den nächsten Tagen anzurufen.

Nächste Woche geht's weiter.

Alle Namen / Ereignisse geändert.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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