Doreen oder Die Mädchenwelt (8)

1.7.0. Dagmar fährt mit Ferdinand nach München - Amerika muss warten. Doch nicht alles läuft wie geplant … Kapitel 7/9: Der Ausflug

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Das tat er dann auch - sie anrufen, allerdings nicht wegen der Reise nach Amerika, sondern er sagte ihr, dass er für ein paar Tage geschäftlich nach München müsse, schon an diesem Donnerstag, also in drei Tagen, mit dem Auto, am Samstag fahre er wieder zurück, eventuell auch erst am Sonntag, das werde sich vor Ort entscheiden.

„Ich wollte fragen, ob Sie nicht Lust haben mitzukommen, damit wir uns vor Amerika noch etwas näher kennen lernen können.“ Seine Stimme klang jovial, väterlich. „Wir könnten abends lecker essen gehen und alles besprechen ...“

Dagmar, der die Idee, vor dem Antritt der eigentlichen Reise erst ausprobiert und getestet zu werden, gar nicht behagte, verschanzte sich zunächst hinter ihrem Terminkalender:

„Muss ich gucken - weiß nicht, ob ich das einrichten kann, ist ja doch ziemlich kurzfristig.“

Insgeheim dachte sie, dass es das Beste wäre abzusagen, unter einem Vorwand, dass sie nicht frei bekam oder etwas Privates, das er nicht überprüfen konnte. Ohnehin begann die Verlockung der Reise rapide nachzulassen und diese angesichts zunehmender Hindernisse an Strahlkraft zu verlieren: Sicher, es war sein gutes Recht sich zu vergewissern, dass er für sein Geld etwas bekam, aber es war auch ihr gutes Recht sich darauf nicht einzulassen.

Obwohl sie versprochen hatte, ihn in seinem Büro zurückzurufen - ein privater Anruf verbot sich aus nahe liegenden Gründen, meldete sie sich nicht, stattdessen rief er am nächsten Tag wieder an und bedrängte sie: „So eine nette Gelegenheit ... Ich zeige Ihnen ein bisschen was von München, das interessiert doch eine junge Frau ... Wir könnten lecker essen gehen ...“

Dagmar zögerte, doch aus einer plötzlichen Anwandlung heraus, dass es wirklich zu dumm wäre, im letzten Moment kalte Füße zu kriegen, sagte sie nach einem kurzen Schwanken schließlich zu. Nicht zu wissen, was sie erwartete, verursachte ein mulmiges, aber auch prickelndes Gefühl, außerdem dachte sie, dass die zwei, drei Tage schnell vorübergehen würden, zumal sie im schlimmsten Fall von München aus auch allein nach Hause zurückfahren konnte.

Er fuhr wieder den roten Mercedes ….

Auf der Hinfahrt benahm er sich tadellos. Da er unbedingt schon um sechs Uhr hatte aufbrechen wollen, war Dagmar, die morgens nur schwer in Gang kam, auch am Abend vorher nicht zu Ende gepackt hatte, schon um kurz nach halb fünf ächzend aus dem Bett gestiegen, insgeheim die ganze Aktion verfluchend, und presste sich jetzt fröstelnd und unausgeruht in die wärmenden Polster des Wagens. Er fuhr wieder den weinroten Mercedes. Die bleierne Müdigkeit bedrückte sie, ein nervöses Unbehagen fraß an ihr, das sie mit einigen etwas krampfhaft kecken Bemerkungen zu übertünchen versuchte, ansonsten sprachen sie wenig, und sie ließ, während sie apathisch aus dem Fenster blickte, die triste Strecke der A1 an sich vorübergleiten.

Flüchtige Bilder, die an ihrem inneren Auge vorbeigaukelten, kreisten hauptsächlich um die Vorstellung, wie sich die sexuelle Begegnung, die ja anscheinend fest vorgesehen war, wohl gestalten mochte und wie sie mit möglichst wenig Aufwand allen Fallstricken der Situation entkam. Bei dem Gedanken, dass er sich auf sie legen könnte, kam er ihr wie ein Walross vor, das sie völlig erdrücken würde. Nein, das war im Grunde völlig ausgeschlossen, dachte sie, diese Idee konnte ihm unmöglich kommen, andersherum wäre es das Einfachste, was nur den Nachteil hatte, dass sie sich dann nicht einfach hinlegen und die Sache mit ein paar Seufzern würde abtun können sondern Aktivität und Leidenschaft heucheln musste, wilde Bewegungen und Zuckungen ausführen, während er als fettig wabernde Masse unter ihr ausgestreckt dalag, die Zehen in die Höhe gereckt. Und am Ende funktionierte das Ganze vielleicht nicht einmal, wie es sollte, immerhin hatte er genug Leidensdruck verspürt, um einen Arzt aufzusuchen, was sie womöglich dazu zwang, die Rolle der Gütigen und Verständnisvollen einzunehmen, die ihn trotz der Schlappe keinen Verdruss spüren ließ, anstatt sich einfach umzudrehen und zu schlafen oder ihm zu sagen, dass sie froh war, den krampfhaften Anstrengungen entronnen zu sein. Und wenn sie selber nichts dabei empfand, jedenfalls nicht das, was eine Frau empfinden sollte ….

Sie schrak aus ihrem Dämmerzustand auf, draußen flog vor einem wolkenzerfetzten Himmel im dunstigen Licht des Morgens die Landschaft vorbei, er fuhr gerade an mehreren Schildern vorüber, ein Wegweiser Richtung Kamener Kreuz, weiß auf blau in riesigen Buchstaben, starrte sie an und verschwand im gleichen Augenblick aus ihrem Blickfeld. Nach einem verstohlenen Blick auf den Mann am Steuer sank sie in ihren Halbschlaf zurück.

Nein, auf keinen Fall, bloß das nicht, setzte sie ihren Gedankengang fort, das konnte sie nicht sagen, er wäre beleidigt oder würde versuchen sie vom Gegenteil zu überzeugen, weil ein richtiger Kerl doch jede Frau befriedigte. Auch stimmte es nicht, Sex war honigsüßes Verlangen, wenn nur nicht der reale Akt mit dem realen Mann alle Phantasie zerstörte und die Präsenz des fremden Körpers sie wie eine Lähmung befiel. In solchen Momenten erlosch alles Empfinden in ihr.

Ein Vorgeschmack von Scham brandete kurz in ihr auf und riss das träumerische Wohlbehagen ein weiteres Mal entzwei. Sie wies hastig die unangenehme Vorstellung von sich und presste sich tiefer in das tröstende Polster des Sitzes.

Oder es würde alles ganz anders kommen, alles würde wie so oft ganz anders kommen als erwartet, ein selbstvergessener Rausch überkam sie wie ein Naturereignis, er erwies sich als begnadeter Liebhaber, der sie in höchste Erregung versetzte und auf einer Welle der Ekstase davontrug. Aber selbst wenn nicht, wenn er den Akt bloß mittelmäßig ungeschickt vollzog, würde ihr Körper ganz von selber so reagieren wie er sollte, und es würde ein wunderbares Erlebnis sein, anschließend würde sie lachen und glücklich erleichtert sein, als habe sie endlich einen großen Berg bezwungen.

Wenn nur nicht etwas furchtbar Beschämendes und Peinliches geschah, über das man sich noch endlos den Kopf zerbrach und das als quälende Erinnerung zurückblieb.

Wenn das Ganze als Flop endete, durfte er es auf keinen Fall merken und kein Makel durfte auf sie selber fallen. Es würde an ihm liegen, weil er nicht der richtige Mann oder sie nicht in der richtigen Stimmung war, an diesem oder jenem, bloß nicht daran, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie war erst neunzehn, für sie würde das Ganze dann einfach eine Erfahrung sein, beunruhigend zwar, aber nicht die erste und nicht die letzte in ihrem Leben, nicht das Ende der Welt, es würde ein nächstes Mal mit einem anderen Mann geben und danach noch ein nächstes und noch ein nächstes Mal, so lange bis sie fand, was alle Welt als das größte Glück anpries, jenes erotische Geheimnis, dem alle Welt so hingebungsvoll hinterher jagte ...

Ein rustikales Domizil

Bei der Ankunft stellte sich heraus, dass er nicht etwa im Sheraton oder Hilton sondern in einem Nest zwanzig oder dreißig Kilometer von München entfernt ihre Unterkunft in einem Gasthof Zum Goldenen Hirschen oder so ähnlich gebucht hatte, ein rustikales Domizil in einem heiter-geschäftig wirkenden Ort mit schmuckem Altstadtviertel, Fachwerkhäusern und farbenprächtig gestalteten Grünanlagen, in dem von der Nähe zur Landeshauptstadt nicht mal ein ferner Hauch in der Luft lag. Wahrscheinlich war man hier sogar von öffentlichen Verkehrsmitteln abgeschnitten, dachte Dagmar missmutig, deren Energien sich nach dem anstrengenden Start allmählich wieder belebten. Sie verabscheute es geradezu, sich an Orten aufzuhalten, wo es keinen unabhängigen Fluchtweg für alle Fälle gab, ein fast zwanghaftes Bedürfnis nach dieser beruhigenden Gewissheit beherrschte sie, wohin immer sie kam, selbst wenn wenig dafür sprach, dass sie davon Gebrauch machen musste. Dass er außerdem zwei Zimmer bestellt hatte, ein Doppelzimmer für sich, ein Einzelzimmer für sie - offenbar um das Dekor zu wahren, man denke nur an den Anruf der Ehefrau, nahm sie dagegen dankbar zur Kenntnis, so dass ihre Stimmung sich schlagartig aufhellte und sie den Aufenthalt gleich mit gnädigeren Augen zu sehen begann.

Er nahm einen hastigen Imbiss ein - es war früher Nachmittag geworden, hielt sich aber nicht lange auf sondern fuhr gleich weiter nach München hinein zu einem ersten Termin. Dagmar blieb im Hotel, um etwas Schlaf nachzuholen und brach anschließend zu einem Spaziergang durch den Ort auf, in dem es aber doch einen S-Bahnhof mit zwei Gleisen gab, wie sie mit einer gewissen Erleichterung feststellte. Am Abend aßen sie im Hotel, Dagmar gab sich einen Ruck und ihrem Kalorienbewusstsein ausnahmsweise und mit einiger Überwindung frei, wählte mit glücklichem Eifer Rehgeschnetzeltes mit Preiselbeeren und Klößen, auch wenn das meiste davon auf dem Teller blieb, was Ferdinand Küppers aber nicht aufzufallen oder zu stören schien, und trank zur Feier des Tages sogar ein Glas von dem Rotwein, den er aussuchte, was sie endgültig schläfrig machte.

Es passierte dann auch nichts weiter, außer dass Ferdinand fand, dass sie beide sich jetzt duzen sollten und sie ein kleines Küsschen, ein Busserl mit ihm tauschte. Sie schauten noch ein wenig Fernsehen, ein Gerät war in der Gaststube aufgestellt, kurze Zeit später bemerkte er nachsichtig, dass sie wohl sehr müde wäre, er sehe es ihr an, er selber sei es auch, am nächsten Tag könne man noch so viel unternehmen, weshalb man jetzt am besten schlafen ginge.

„Morgen früh bin ich gleich unterwegs, du brauchst nicht extra aufzustehen,“ sagte er, „aber am Nachmittag können wir in München bummeln gehen und abends lecker essen gehen und danach,“ er tätschelte ihre Hand, „machen wir uns einen schönen Abend.“

Die gemeinsame Nacht

Der schöne Abend war insgesamt glimpflich verlaufen. Da Ferdinand erst gegen halb drei von seinen Geschäftsterminen zurückkehrte und sich zunächst etwas ausruhen wollte, ging es bereits auf vier Uhr zu, als sie endlich aufbrachen, wieder mit dem Wagen, worauf Ferdinand ausdrücklich bestand. Nachdem sich zu guter Letzt auch noch ein Parkplatz hatte ergattern lassen, begannen sie endlich im Strom der Menschen durch die Straßen von Schwabing zu flanieren, das er ihr als die bekannteste Ecke von München unbedingt als Erstes hatte zeigen wollen, die Theresienstraße rauf, die Schellingstraße runter, dazwischen das historische Gebäude der Maximilians-Universität, auf das er sie hinwies, ohne dass er viel über Bauliches und Architektonisches zu sagen wusste, bis sie von der noblen Maximilianstraße aus kommend die Isar erreichten. Für Augenblicke wuchs er über sich hinaus und nahm gar ihre Hand, als wären sie ein Liebespaar, während er leise Gerhard Wendlands „Tanze mit mir in den Morgen ...“ dunkel brummend vor sich hinsummte.

Auch schien es ihm ein Bedürfnis zu sein, sich bei dieser Gelegenheit großzügig zeigen zu wollen, und während sie an Schaufenstern vorbei weiter zur Fußgängerzone der Neuhauser und Kaufinger Straße schlenderten, forderte er sie ein wenig verlegen auf, sie solle sich etwas Nettes zum Anziehen aussuchen, dabei unbestimmt auf den Eingang eines nahe gelegenen Kaufhauses weisend. Dagmar, die wenig Lust auf Wühltische verspürte, zog ihn weiter, bis sie im Schaufenster einer Boutique einen Pullover entdeckte, der ihr zusagte, schwarzer Feinripp, mit einer kleinen Zierstickerei und breitem Schiffchenausschnitt, ein ganz apartes Stück, das auch ihm sofort gefiel, mit 198 D-Mark für seine Verhältnisse auch ganz erschwinglich schien, vielleicht sogar bescheidener gewählt war als nötig gemessen an den Umständen; jedenfalls zahlte er anstandslos, und sie freute sich und versprach den Pullover abends anzuziehen und ihm vorzuführen. Nach einem kurzen Abstecher in eine Konditorei, wo Dagmar allerdings nur einen schwarzen Kaffee trank um sich aufzuwärmen, derweil Ferdinand ihr die kalten Hände rieb, sowie einem anschließenden Blitzbesuch in Nymphenburg - für mehr blieb keine Zeit, folgte endlich das „leckere Essen“, das für ihn wahrscheinlich die Hauptsache war, wie Dagmar dachte, da er es des Öfteren erwähnt hatte.

Das Restaurant, in das er sie führte, lag in einer Seitenstraße in der Nähe des damals noch innerstädtischen Messegeländes, über eine Treppe abwärts gelangte man in eine etwas verwinkelte Gaststube, die mit vielen kleinen, rosa-weiß gedeckten Tischchen ziemlich vollgestellt und für Dagmars Geschmack nicht nur aufdringlich hell erleuchtet sondern auch viel zu niedrig temperiert war, so dass sie ein Anfall hartnäckigen Fröstelns überkam, der ihr sofort die Laune verdarb. Dem folgte eine weitere kleine Verstimmung, da Dagmar ihrem Kalorienbewusstsein kein zweites Mal freigeben wollte, folglich zum Essen nicht aufgelegt war und sich auch nach längerer Durchsicht einer mehrseitigen Speisekarte voll wohlklingender Menübezeichnungen zwischen einem Kressesüppchen, einer Gemüsepastete und einem Maultaschensalat, die aber alle nur als Vorspeise oder Beilage gedacht waren, zunächst nicht entscheiden kann, was es nötig macht, dass der Kellner zweimal wiederkommen muss, und auch Ferdinand blickte schon ziemlich ungeduldig, der es sichtlich kaum erwarten konnte, sich möglichst bald dem Genuss des Essens hinzugeben. Da dieser sich mit einem flüchtigen Blick in die Speisekarte begnügte, eigentlich nur die Weinkarte studierte, vermutete Dagmar, dass er das Lokal kannte und immer das Gleiche bestellte, sooft er hier einkehrte.

Nachdem sie sich endlich mit einiger Anstrengung ganz neu und zwar, obwohl Ferdinand zweifelnd den Kopf wiegte, für einen Cäsar's Salat entschieden hatte - hauptsächlich weil ihr der Name so gut gefiel, wartete der Kellner auf die weitere Bestellung, die aber nicht kam, und auch Ferdinand fragte erstaunt, ob sie denn gar nichts Richtiges, etwas Herzhaftes essen wolle, es gebe doch so leckere Sachen, aber sie will nicht, trinkt auch keinen Wein sondern nur ein Mineralwasser und denkt im Stillen unzufrieden darüber nach, ob nicht die Füllung von dem Maultaschensalat besser gewesen wäre als die Croutons, mit denen ihr Cäsar's Salat garniert ist, und auch der diesem beigemischte Parmesan ist nicht wirklich ihr Geschmack. Obwohl sie inzwischen ihre Jeansjacke wieder angezogen hatte und sich demonstrativ hineinkauerte - sieht denn hier keiner, was ich leide - schauerte sie vor Kälte, während Ferdinand, der sich nicht stören ließ, beim Essen der Schweiß in feinen Perlen auf der Stirn stand. Als dieser nach Schneckenpfännchen und einem mächtigen Beef Wellington noch eine Käseplatte für sich bestellte, erlaubte sich auch Dagmar einen kleinen Nachschlag und nahm ein paar Stücke von dem Käse, bzw., da ihr Besteck bereits abgeräumt war, steckte Ferdinand ihr lächelnd amüsiert, oder wenigstens tat er so, kleine Häppchen davon in den Mund.

Selbst das leidige Stellungsproblem hatte sich nach einigen Anlaufschwierigkeiten leidlich umschiffen lassen. Nachdem ein paar halbherzige Versuche Ferdinands sie leidenschaftlich zu küssen, wenig fruchteten, unterließ er alles Stürmische und begann stattdessen etwas lahm um ihre Brustwarzen herumzustreicheln, eine Berührung, die sie ohne Vergnügen über sich ergehen ließ, zumal er obendrein mit der Miene eines Fachmannes bemerkte, dass ihre Nippel nicht richtig hart würden, was Dagmar sofort in eine heftig aufwallende Verärgerung stürzte. Sie bezwang sich aber und sagte nichts dazu, um die Stimmung nicht zu zerstören. Ansonsten verzichtete er darauf größere Ansprüche zu stellen, nahm irgendwann einfach ihre Hand und führte sie an den haarig heißen Ort der Erfüllung.

In Dagmars Kopf setzte zwar ein heftiges Spuken ein, doch da er mit deutlich weniger Mühe, als sie nach seinen Ankündigungen befürchtet hatte, zum Samenerguss kam, auch rechtzeitig vorher taktvoll ihre Hand beiseite schob und den schleimigen Strahl auf ihren Körper lenkte - woraufhin sie empört aufkreischte, kehrten die wirbelnden Fetzen ohne größeres Unheil anzurichten in ihren Ruhestand zurück. Nach dem Erreichen dieses Hauptzieles schon etwas müde, bedeckte er nach einem kurzen Gang ins Badezimmer den schweren Körper mit dem Oberbett, hüllte sich in die blauen Wolken einer Zigarre und nahm den früheren Plauderton wieder auf, diesmal, um ihren noch unverhüllten Körper mit Lob zu überschütten: Wie schlank und schmal und zierlich sie doch sei, schwärmte er, mein Gott, er selber ist auch mal ein ganz dünner Hecht und langer Lulatsch gewesen, ist schon ewig her, und nein, es stört ihn überhaupt nicht, dass ihre Brust so klein ist, ganz im Gegenteil, weibliche Eitelkeit, Frauen haben an ihrem Busen immer etwas auszusetzen, er ist geradezu perfekt, sieh nur, die Brust passt genau in seine Hand, da sieh doch, genau richtig für ihn und sein männliches Begehren. Für Augenblicke strichen seine Finger an den tiefen Kuhlen seitlich der Schulterblätter entlang, betasteten das stark hervortretende Muster ihrer Rippen, das kindlich schmale Becken und die spinnenhaften, ausgestreckten Beine.

Dagmar selber verbrachte eine ziemlich lange, hoch exaltierte Stunde damit, dass sie lachte und lachte und immer wieder lachte und sich als reizend verspielte Kokotte gebärdete, einzig bestrebt, den Mann zu erfreuen und alle tiefer liegenden, düster-wütend an die Oberfläche drängenden Impulse niederzuhalten - nicht nach ihm zu schlagen und ihn nicht aus dem Bett zu kicken, ihn nicht merken zu lassen, wie albern sie seine halb abwesende, halb neckende Art fand und wie sehr es sie vor seinem Sperma ekelte. Danach schlief er bald ein, und Dagmar, die die Anwesenheit des unförmigen Körpers neben sich nicht länger ertrug, kleidete sich notdürftig im Dunkeln an und kehrte in ihr eigenes Zimmer zurück.

Kalorien zählen

Die Zeit vor dem Einschlafen vertrieb sie sich damit nachzurechnen, wieviel Kalorien sie an diesem Tag zu sich genommen hatte. Sie rollte sich umhüllt von einer sanften Dunkelheit in ihrem Bettzeug ein und zog sich in das innere Gebäude ihrer Gedanken zurück. Wegen der Sünden des Vortages - der Rehbraten, die Sauce und natürlich die vor Zucker nur so strotzenden Preiselbeeren, gab es einiges, was wiedergutgemacht werden musste, was also hatte sie gegessen?

Das halbe Brötchen mit Marmelade morgens, gut, das war in Ordnung, machte ca. 250 Kalorien; auch ihr Mittagessen, vier Scheiben Knäckebrot und ein Magerjoghurt – sie trug beides in ihrem Gepäck mit sich herum, wobei der Joghurt sich als säuerlich lauwarme Pampe bereits bedenklich der Zersetzung zu nähern begann – entsprachen der normalen Ration, also nochmal 350 Kalorien ... Ferdinand glaubte natürlich, sie habe mittags in einem Café einen ordentlichen Snack gegessen, haha, der Gute … Dagegen fiel das Abendessen, wie schon am Tag zuvor, wieder völlig aus dem Rahmen: Der Römersalat selber enthielt wahrscheinlich höchstens 50 Kalorien, vielleicht sogar nur 30, aber das Dressing, die Garnelen und dieser schreckliche Parmesan, von dem sie zum Glück das meiste beiseite gekratzt hatte ... Ferdinands verstohlene Blicke - zum Schreien, na wenn schon ... 200 Kalorien reichten dafür sehr wahrscheinlich nicht aus, also ungefähr 250 oder sogar 300. Blieben die Croutons, zu blöd aber auch, wer kam auf die Idee einen Salat mit trockenen, verklebten Krümeln zu servieren, woraus mochten diese genau bestehen, eine Teigmasse, auf jeden Fall Kohlehydrate, vielleicht 100 oder besser 150 Kalorien, nutzlose, überflüssige Dickmacher, die sich so leicht hätten einsparen lassen, aber der ganze Salat war im Grunde eine Pleite gewesen, wäre sie doch bloß bei den Maultaschen geblieben ...

Sie schälte sich mit einiger Überwindung aus ihrem Bettzeug heraus und stand kurz auf, um in einer immer griffbereiten Kalorientabelle nachzuschauen, wo sie aber keine Croutons fand …

Dann nachmittags, kurz vor dem Aufbruch, einen Apfel, 50 Kalorien, und ach du lieber Himmel, die Häppchen von Ferdinands Käseplatte, die hätte sie jetzt fast vergessen, diese Fettbomben, igittigitt, von Einsparen konnte keine Rede sein, hatte sie drei oder vier oder sogar fünf von den Häppchen gegessen und von dem Weißbrot wie oft abgebissen, ihr Limit von 1000 Kalorien plus maximal 200 als Reserve für außergewöhnliche Fälle wie heute war auf jeden Fall weit überschritten, würde sie morgen wieder etwas weniger essen …

Trotzdem lullte es sie zutiefst angenehm ein sich vorzustellen, wie sie bei nächster Gelegenheit, vielleicht schon übermorgen oder nächste Woche, wenn endlich keine Kaloriengefahr mehr drohte, wie sie dann auf jeden Fall ein großes Stück Mokkatorte essen würde, wie das von Ferdinand heute in der Konditorei ... dieses fette Schweinchen ... gottseidank konnte sie sich ziemlich gut beherrschen, nicht wie die meisten Leute es taten, sich erst vollstopften und hinterher jammerten, das kurze Vergnügen, wie lange dauerte es, ein Stück Torte zu essen, lohnte sich doch nicht ... Oder statt Mokka lieber Marzipan, natürlich kein Schwarzwälder Kirsch, das war mehr was für spießige Kaffeetanten, aber Marzipan und Nougat, Weihnachten, Rouladen, das Festessen ihrer Mutter für besondere Gelegenheiten … Oder sie aß auch so ein Beef Wellington, das eigentlich nur aus einem riesigen Fleischklumpen bestand, von Ferdinand gierig verschlungen … Solche Gerichte kannte man in ihrem Elternhaus natürlich nicht und Ferdinand war doch im Grunde ihr Versuchskaninchen im Bett … Nights in white Satin …. Disco, Party, Rhythmus, Stampfen, wirbelnde Haarmähnen … Eloise und Lola … grell bunte Lichtblitze, sie tanzte und tanzte die ganze Nacht …. Tanze mit mir in den Morgen ... Ihre Mutter kochte regelmäßig, einmal die Woche Klopse, einmal Bratwurst und sonntags ein duftender Schmorbraten, auch wenn sie sonst nicht viel tat, eine schwache Person, erpresste immer alle mit ihren Tränen und weinte, wenn sie alte Filme mit Hans Albers oder Heinz Rühmann sah, las außerdem dauernd Kitschromane und Groschenhefte … Seit ihrem Auszug sah sie sie kaum noch, den Vater, die Mutter, sie brauchte die Familie nicht mehr ... Sie las jetzt richtige Bücher, Kafkas „Schloss“, das sie mit sich herumschleppte, sah schon völlig vergammelt aus, obwohl sie erst 30 Seiten … Trostlos, durfte aber keiner wissen, dass sie im Grunde lieber etwas Leichteres las. Sie wollte verstehen, was gebildete Menschen daran gut fanden. .... Morgen aß sie ein Rosinenbrot mit fingerdick Erdnussbutter, morgen würde sie endlich abnehmen und endlich leichter sein, morgen brauchte sie keine Angelique und keine Sissi und keine Scarlett O'Hara mehr, morgen war sie selber schön und elegant und leichtfüßig und würde im richtigen Leben die Allerbeste und Allererste sein …

Fortsetzung nächste Woche.

Alle Namen / Ereignisse geändert.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden