Doreen oder Die Mädchenwelt (9)

1.8.1 Dagmar kann das Ende des Ausflugs kaum erwarten, doch die Tage in München sind lang … Kapitel 8/9: Der Bäcker ist zurück - 8.1: Wirren und Wehmut in München

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Am nächsten Morgen, dem Samstag, zeigte er sich strahlend gut gelaunt, tätschelte häufig ihre Hand und schlug wieder den launigen Konversationston der vorangegangenen Tage an. Der Umstand, dass sein Geschlechtsteil sich noch immer ohne Probleme reflexhaft versteifte und milchigen Schleim abzusondern imstande war, schien sämtliche Jungbrunnen über ihn verschüttet und das erlösende Ende oder zumindest den Aufschub quälender Ahnung vom heraufziehenden Männlichkeitsverlust bewirkt zu haben.

Dagegen war Dagmars euphorisch überhitzter Zustand nach einem schweren, erschöpften Schlaf vorzeitig verflogen und ein wenig befangen traf sie am Frühstückstisch ein. Sie fühlte sich übermüdet, untauglich, in einen Zustand grausam schmerzlicher Ernüchterung versetzt. Düstere Nachgedanken an das schmalspurige erotische Encounter der vergangenen Nacht bedrängten sie wie eine melancholische Verwirrung und vom hellen Licht des Tages überflutet begann sie mit schmerzenden Sinnen nach der plötzlich überdeutlichen Einsicht zu tasten, dass er sich kaum weniger Mühe hätte machen können und seinem Part an der Sache, ihr zum Orgasmus zu verhelfen, nicht nachgekommen war. Gar nicht hatte nachkommen wollen. Und folgerichtig empfand sie auch, dass darin eine Herabsetzung für sie lag. Gemessen an dem dürftigen Ergebnis nahm der ganze Ausflug barbarisch anstrengende Züge an und begann nicht nur ihre Kräftereserven aufzuzehren sondern auch zum Fiasko auszuarten.

Zwar bemühte sie sich, ihm insofern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen als sie sich schließlich freiwillig auf dieses Abenteuer eingelassen hatte und keinesfalls im Nachhinein die Beleidigte spielen wollte, spürte aber doch einen dumpfen Groll darüber in sich gären, mit wie wenig er sich zufrieden gab, und mit scharfem Instinkt witterte sie auch, dass er womöglich insgeheim nicht viel von ihr und ihren Liebeskünsten hielt und ihr den schwarzen Peter für den geringen Spaßfaktor der vergangenen Nacht zuschob.

Dieser Heuchler, empörte sie sich, was bildete er sich ein, oder glaubte er allen Ernstes, sie solle von seinem Schnaufen oder dem mechanischen Betatschen ihrer Brüste in Verzückung geraten? Sie war doch kein Schalter, den man einfach an- und ausknipsen konnte. Oder aber er legte sich die Dinge ganz einfach so zurecht, dass es ohnehin egal war, ob sie etwas davon hatte oder nicht. Typen wie er lechzten doch geradezu danach, ihr welkes Fleisch an allem zu reiben, was jung und frisch war, verachteten andererseits jedoch die Frauen, die sie sich sexuell nutzbar machten. Er liebt seine Gattin, ist ein guter Mensch und ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft obendrein, das glaubt er von sich, und mit ihr wird nicht viel Federlesen gemacht, weil sie bloß ein billiges Flittchen ist, das nicht zu seiner Sphäre gehört. Deshalb dieses plumpe und phantasielose Gebaren - ach so, Monsieur will sich bedienen lassen!

Sie hätte es wissen müssen und sie hat es gewusst, einer wie er ist Geschäftsmann durch und durch und am Ende schaute hinter der noblen Fassade wieder der Kotzbrocken hervor. Er kann gar nicht anders. Aber sie will keine kleinen Geschenke, keine grapschenden Gesten und kein Scheiß-pompöses Getue sondern wenigstens einen Augenblick selbstvergessener Freude, Lust und Trunkenheit. Deshalb ist sie mitgekommen. Er glaubt, er hat ein Recht sie zu enttäuschen, weil er ein paar Spesen bezahlt, aber so lief das heute nicht mehr. Wenn er sich an ihr aufgeilen, sich abreagieren und sie wie eine Klein-Mädchen-Nutte behandeln wollte, dann nicht für lau. Entweder er zahlte mit ein bisschen Vergnügen zurück oder sie hielt sich auf andere Weise schadlos. Und Amerika war noch sehr weit ...

Sie drängte die Erinnerung an die Nacht zurück, an die Nacktheit, an die Details von Gliedmaßen, Gesten, Berührungen, Bewegungen, die alle bei Tageslicht fremd und verzerrt, absurd und theatralisch wirkten, nicht geadelt durch die empfangenen Wonnen überschäumender Ekstase, und genau das war es schließlich auch gewesen, ein einziges riesiges Theater, in dem sie allein als große Mimin eine halbwegs respektable Leistung erbracht hatte. Ein Widerwille stieg in ihr auf, eine Unduldsamkeit, sie wollte seiner Hand, die sie ständig berührte, seines väterlichen Tones ledig sein - mein Gott, warum lässt er das nicht endlich, räsonierte sie innerlich, noch immer will er seine schäbige Fassade wahren, sich hinter der fetten Zurschaustellung behäbiger Wohlanständigkeit verschanzen, als sei sie zu blöd zu begreifen, aber sie begreift sehr gut, kann auch einer schneidenden Wahrheit ins Auge blicken statt die Grausamkeit des Lebens hemmungslos mit Nichtigkeiten totzuschwatzen, wie er es tat.

Der Morgen danach

Sie hörte ihm nur halb zu, während er gelegentliche Bemerkungen machte und mit sichtlichem Behagen mehrere gut belegte Brötchen aß. Abgesehen von dem leisen Klappern des Geschirrs und einzelnen halblauten Ausrufen herrschte eine fast weihevolle Stille in dem nur mäßig besetzten Frühstückszimmer. Beim Betreten des Raumes hatten die wenigen Personen und Paare, die anwesend waren, sich ihre Plätze zudem immer möglichst weit vom nächst benutzten Tisch entfernt gesucht. Die mit weißen Gardinen verhangenen Fenster gestatteten nur einen schemenhaften Ausblick ins Freie, auf ein paar Kisten im Hof und ein Stück kurzgeschorenen Rasen mit Buchsbaumfassung vor dem gelblichen Backstein des Nachbarhauses.

Vielfraß, dachte Dagmar verächtlich, die in winzigen Häppchen, möglichst langsam, um den Genuss so lange wie möglich auszukosten, ihre dünn mit Marmelade bestrichene Brötchenhälfte zerkaute und zwischendurch versuchsweise an einer Tasse schwarzen Kaffees nippte, ein brühheißes Gesöff und so gallbitter stark, dass ihr schwindelte, was sie zusätzlich verdross, als wolle das Schicksal in Gestalt des Küchenpersonals ihr aus purer Böswilligkeit noch eine zusätzliche Tortur zufügen. Zu Hause kochte sie den Kaffee immer so rechtzeitig, dass keine Störung morgens das sorgfältige Zelebrieren der ersten Mahlzeit des Tages behinderte. Tief konzentriert darauf, sich mit den verschiedenen Tücken des Schicksals auseinanderzusetzen und innerlich gegen deren Verursacher zu wüten - wohl wissend in welch unsinnig skurrilen Bahnen sich ihre Gedanken bewegten, drang ein Satzfetzen bei ihr ein:

Da muss sie noch viel lernen, sagte seine Stimme neben ihr, jedenfalls sickerte der Satz so in ihr Bewusstsein ein, woraufhin etwas in ihrem Kopf explodierte und bevor sie es verhindern konnte, hörte sie, wie sie ihn abrupt und hitzig anfuhr: „Das ist ja wohl meine Sache, ich brauche deine Ratschläge nicht, verschon' mich bitte …“

Sie funkelte ihn an, als wolle sie ihm ins Gesicht springen.

Seine Kaubewegung erstarrte, seine braunen Augen blickten perplex, und sie lenkte hastig, mit rauer, verletzter Stimme ein: „Moment, was hast du gesagt … Ich bin noch gar nicht richtig da,“ beteuerte sie, während sie sich ein angestrengtes Lächeln abrang und krampfhaft versuchte, sich wieder in der Situation zurechtzufinden.

Sie wusste definitiv nicht, wovon er gesprochen hatte, wahrscheinlich nicht über die letzte Nacht, so taktlos konnte er nicht sein, oder vielleicht doch, vielleicht eine dezente Anspielung, als sei es ihre Aufgabe, dieses Nilpferd zu befriedigen. Was machte sie bloß hier, der Ausflug war zu Ende, sie wollte weg, etwas spukte in ihr, und eine unbezwingbare Gereiztheit, die nach einem Ventil suchte, stieg in ihr auf. Sie hätte gern etwas Gehässiges gesagt, das ihn am Boden zerstören, zerschmettern, ihn hinmetzeln würde: dass er keinen mehr hochbrachte, Versager, alter Knacker, verpiss dich mit deiner Bonzenschleuder, würdest doch am liebsten ein richtiges Kind besteigen, blöde Sau, wärst auch nicht der Erste, der das macht - bezwang sich aber, erschrocken von der Welle hassgeladener Feindseligkeit und aggressiver Wut, die in ihr hochbrandete. Hastig bemüht die Kontrolle wieder herzustellen, sah sie ihn stattdessen mit einem verschämt um Vergebung flehenden Blick an.

Er ging denn auch über ihren kleinen Ausrutscher ganz nonchalant hinweg, als habe er ihn gar nicht wahrgenommen, wie er überhaupt entschlossen schien, alles zu ignorieren, was auf eine genauere Erforschung ihres angeknacksten Zustandes hinausgelaufen wäre und damit außerhalb ihrer eng umrissenen Aufgabenverteilung lag.

Die Kunst des Hungerns

Dagmar hatte inzwischen bereits ultimativ beschlossen, nach am selben Tag nach Hause zu fahren. Eine weitere Nacht mit ihm in diesem Hotel überstand sie nicht, dachte sie in einem Anfall von störrischer Verzweiflung; am Ende verlangte er noch eine Wiederholung oder gar Steigerung dieser läppischen Fummelei vom Vortag, wobei sie ganz sicher würde kotzen müssen - außerdem zog es hier in diesem Etablissement an allen Ecken und Enden wie Hechtsuppe, dass es kaum noch auszuhalten war, sie fror sich zu Tode, und wenn nicht mit ihm, dann ohne ihn, dann würde sie sich eben allein durchschlagen. Sie hatten ursprünglich vorgehabt - das heißt, er hatte zu Beginn der Reise vorgeschlagen, an diesem Tag noch einen Ausflug in die Umgebung zu machen; er schwärmte von Herrenchiemsee, das er ihr mit geradezu geflügelten Worten als eines der schönsten Fleckchen Erde, die der Herrgott geschaffen habe, beschrieb, und trotz ihrer etwas zerrissenen Gefühlslage wollte sie darauf nicht verzichten. Jetzt aber sagte er, ohne dass sie von sich aus auf die weitere Planung zu sprechen kam, er wolle noch einige private Besorgungen machen und Bekannte, die in der Gegend lebten, besuchen, aber dann könne man im Laufe des Nachmittags die Heimreise antreten.

„Damit wir beiden Hübschen am Sonntag wieder zu Hause sind.“

Dagmar fühlte sich vor den Kopf gestoßen.

„Du hast doch bestimmt einen Freund, der auf dich wartet,“ fügte er hinzu und blickte sie prüfend an.

„Der is' nich' da ...“ nuschelte Dagmar undeutlich in ihre Tasse hinein und nippte mit trotziger Miene an dem endlich trinkfähigen Kaffee.

Da es sich folglich nicht lohnte, die Hotelzimmer zu behalten, checkten sie aus, verluden das Gepäck im Auto und fuhren nach München hinein. Dort setzte er sie wieder in Schwabing ab, sie vereinbarten als Treffpunkt ein Straßencafé und er sagte ihr, er werde sie gegen 16 Uhr oder besser gegen 16 Uhr 30 dort abholen, damit er etwas Spielraum habe und sich nicht hetzen müsse. Eine junge Frau weiß doch sicher einen Tag in München zu nutzen, wo es so viel zu besichtigen gibt, ermunterte er sie in seiner behäbigen Art, auch soll sie nicht gleich ungeduldig werden, wenn er etwas später kommt, da er den Verkehr nicht genau berechnen kann, schließlich kommt es ja auch nicht auf die Minute an, man werde spätestens gegen Mitternacht zu Hause sein.

„Wenn es dir recht ist.“

„Ja, is' okay ... in Ordnung ... natürlich,“ versicherte Dagmar.

„Nun lass mal den Kopf nicht hängen“, sagte er und griff ihr spielerisch ans Kinn.

Dagmar, die gerade aussteigen wollte, setzte hastig eine fröhliche Miene auf: „Nein wieso denn ...“

Sie wäre gern früher, am liebsten gleich auf der Stelle aufgebrochen, da ihr die zwischen jetzt und Mitternacht liegende Zeitspanne endlos lang erschien, wollte aber nicht widersprechen und ließ es dabei.

Er fuhr ab, sie besuchte den Viktualienmarkt, kaufte ein paar Aprikosen, die sie später auf einer Bank im Englischen Garten verzehrte und arbeitete sich dann mit dem Stadtplan in der Hand zur Pinakothek vor. Dort angekommen zögerte sie hineinzugehen und durchlebte einen jener Anfälle qualvoller Unentschlossenheit, die sich in letzter Zeit bei ihr häuften und ihr mehr und mehr jedes Vergnügen vergällten: Soll ich oder soll ich nicht ... Ja, ich gehe hinein ... Nein ich gehe nicht … Ach, ich gehe doch … Ja, jetzt steht mein Entschluss endgültig fest ... Nein, ich kehre doch lieber um - eine marternde Unfähigkeit zu einer Entscheidung zu kommen, die sie hasste und fürchtete, da sie keiner Logik gehorchte.

Am Ende verzichtete sie genervt auf den Besuch, musste ja keiner wissen, dachte sie, sie war einfach zu müde, um in ein Museum zu gehen oder sonst etwas zu unternehmen, München interessierte sie nicht mehr, sie wollte endlich nach Hause, allein sein in ihrer Wohnung, sich in ihre Alpaka-Decke wickeln und aufwärmen - die Heizung ging ja leider noch nicht, und sich danach in aller Ruhe mit der nächsten Mahlzeit beschäftigen. Endlich. Nach drei endlosen Tagen endlich wieder allein und ungestört ihr Essen zubereiten. Und sofort auf die Waage. Sie musste zu Hause unbedingt gleich auf die Waage, um festzustellen, wieviel Pfunde sie abarbeiten musste. Und auch ihre Gymnastik noch heute Abend …. Sich noch einen Tag länger freizugeben, wäre zwar schön, aber solche Schwachheiten erlaubte sie sich nicht … Sie doch nicht. … Auch nicht ein einziges Mal … Sie würde nicht vor lauter Bequemlichkeit innerhalb kürzester Zeit wieder dick und fett sein wie der Rest der Welt, wie all diese halbherzigen Menschen, die ständig über ihre Figur klagten, dauernd Diäten machten und trotzdem zu nichts kamen. Wie stünde sie dann da … Gedemütigt … Sie konnte mehr als die anderen ... Andere warteten nur darauf, dass sie schwach wurde ...

Chips, Schokolade und Würste

Sie schlug die langsam verrinnenden Stunden des Tages mühsam tot, obwohl das Wetter sich zunehmend aufhellte, ging schließlich in einen Supermarkt und wanderte die Regale mit den Süßigkeiten ab, begutachtete all die Dinge, die sie essen würde, sobald sie dies ohne Risiko würde tun können - all die Schokoladen und Kekse und Chipse, danach die Salamiwürste und Schinkenpakete, diese fette, köstlich pikante Cabanossi, in die sie dann wieder ungeniert hineinbeißen würde, dazu ein großes Glas Limo und anschließend einen Schokoriegel und ein Magnum-Eis, was für ein Fest würde das sein, eine himmlische Schlemmerei wie in den Geschichten von Hanni und Nanni im Internat. Immer wieder überlegte sie, ob sie sich nicht einfach auf den Weg zum Bahnhof machen und in den nächsten Zug Richtung Norden setzen sollte; sie versuchte sich vorzustellen, wie sie seelenruhig nach Hause fuhr, derweil ihr Verschwinden ihn in helle Aufregung versetzte; sie träumte sich in die Rolle der Femme Fatale hinein, um die er sich umso mehr bemühen würde, je länger sie ihn am kleinen Finger zappeln ließ, wie ein Kind, das von zu Hause fortlief, um die Eltern zu bestrafen - aber dann wagte sie es doch nicht und verwarf den Gedanken ein ums andere Mal. Er würde sich, wenn nicht Sorgen machen, so doch verpflichtet fühlen, sich um ihren Verbleib zu kümmern, die Polizei rufen, damit er keine Schwierigkeiten bekäme, falls ihr etwas zustieß - außerdem lag ihr Gepäck in seinem Auto, und vor allem war es einfach zu schade um das schöne Geld, das die Bahnfahrt kostete, rausgeschmissenes Geld, wo es nur um ein paar Stunden ging, obendrein würde ihr ein so unvernünftiges, kindisches Verhalten alle Chancen für Amerika vermasseln.

Gegen halb vier hielt sie es nicht mehr aus und von schlechtem Gewissen getrieben, hastete sie in fieberhafter Eile in die Luisenstraße zurück, um, wenn schon nicht die Pinakothek, dann doch wenigstens die Städtische Galerie zu besuchen und verbrachte dort eine wärmende Viertelstunde. Endlich bewegte sich die träge Zeit auf halb fünf zu, und wenn Dagmar befürchtet hatte, er werde sicher zu spät kommen und sie vielleicht gar absichtlich oder aus Gedankenlosigkeit warten lassen, so erwies sich diese Sorge als unbegründet - er erwartete sie bereits und winkte ihr mit einer Zeitung von einem Tischchen aus zu, als sie völlig abgehetzt herangestürzt kam, da sie auf die allerletzte Minute noch mit dem Weg durcheinander gekommen und dann fast in Panik gerannt war vor lauter Angst, ihn am Treffpunkt zu verpassen. Aufgeräumt, mit offenem Hemdkragen, einen weichen Pullover um die Schultern und die Steppjacke über die Stuhllehne gelegt, berichtete er launig, er sei schon vor einer Stunde eingetroffen - ja, alles ist viel schneller gegangen als er gedacht hat, macht aber nichts, da er, um sich die Zeit zu vertreiben, in der Zwischenzeit einen Kaffee getrunken und die Zeitung gelesen hat.

Der Typ am Nebentisch

Dagmar blickte auf die zwei Teller, die neben der Kaffeetasse auf dem blanken Metalltischchen standen, herab. Er hat schon wieder gegessen, dachte sie geradezu triumphierend, mein Gott, dieser Mensch stopft sich wirklich den ganzen Tag voll, is‘ ja abartig, kann er nicht mal ein paar Stunden ohne auskommen? Einer der Teller war mit Sahneresten verschmiert, das konnte nur Torte gewesen sein, auf dem anderen lagen Krümel, wahrscheinlich Baguette, und bestimmt hatte er unterwegs auch noch irgendwo ein Mittagessen eingenommen, dieser Vielfraß ...

Ihre gedrückte Stimmung hellte sich schlagartig auf. Da sah man wieder, wie die Leute logen, wenn sie behaupteten, es läge nicht am Essen sondern an ihrem Stoffwechsel, sei Veranlagung - ha ha - wenn sie zu dick waren - ha ha ha - zum Totlachen. Sie würde auf jeden Fall nicht auf all dieses Gerede hören, dass sie krank war und mehr essen müsse und am Ende gar sterben könne, war ihr scheißegal, stimmte sowieso alles nicht, andere gönnten ihr einfach nicht, dass sie sie übertrumpfte und wollten sie von etwas abbringen, nur weil sie selber zu schwach dazu waren. Sie betrachtete die beiden leeren Teller mit der zufriedenen Miene einer Katze, die mit der Beute spielt, und Ferdinand runzelte die Stirn. Wahrscheinlich ist es das, was ihm die Petersilie verhagelt, warum er zwischendurch manchmal so unterkühlt ist, durchfuhr es sie mit leisem Hohn, wahrscheinlich hat es mit dieser Stümperei gestern Nacht gar nichts zu tun, sondern er ärgert sich, weil ich ihm den Appetit verderbe. Er fühlt sich ertappt beim Essen …

Sie hätte laut auflachen mögen. Sie fühlte sich federleicht. Wie gut, dass sie nur ein paar Aprikosen im Magen und bei ihrem Marsch durch die Stadt bestimmt schon wieder ein Pfund Gewicht verloren hatte, während er den ganzen Tag über wahrscheinlich noch keinen Schritt zu Fuß gegangen war. Der Schlappschwanz.

Sie ließ sich auf den freien Stuhl neben Ferdinand fallen. Das Café lag an einem kleinen Platz, in dessen Mitte ein Springbrunnen vor sich hinplätscherte, eine zaghafte Sonne schuf spätsommerliches Flair und eine Rosskastanie voll mit stacheligen Früchten breitete majestätisch ihre Krone aus.

„Und was hast du Schönes getrieben den ganzen Tag?,“ fragte Ferdinand.

Sie bemerkte mit Genugtuung, dass der eine von zwei jungen Männern, die mit lang ausgestreckten Beinen an einem der Nachbartische lümmelten, ein schlacksiger Typ in Gammeljeans und schwarzem T-Shirt, sie unauffällig musterte und offenbar zu beobachten begann, ja es sah so aus, als suche dieser ziemlich hübsche Jüngling gar ihren Blick zu erhaschen, um ihr ein verschwörerisches Lächeln zuzuwerfen, das wahrscheinlich der Person Ferdinands galt. Sieh her, nimm mich, wenn du dich paaren willst, das ist der Lauf der Welt, schien dieser Blick zu sagen, was willst du mit dem alten Knaben, der ist doch nichts für dich. Oder er vermutete, dass sie mit Ferdinand verwandt war, Tochter oder Enkelin, überlegte Dagmar.

Sie lächelte verhalten zurück.

„Ich war zuerst auf dem Viktualienmarkt und dann im Englischen Garten, einfach toll …“

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie die beiden die Köpfe zusammensteckten, als ob sie tuschelten und dann leise lachten.

Dagmar spürte einen Druck auf der Brust, einen Anflug wehmütigen Kummers, eine Ahnung von Verzicht und Vergeblichkeit: Wie sie so dasaßen die beiden, sorglos, unbeschwert, unkompliziert dem Augenblick hingegeben, wie aufgehoben in einer Welt, in einer Haut, in der sie sich wohl fühlten, so musste das Leben schön sein … Vielleicht waren die beiden Studenten, nach Malochern oder Büroangestellten sahen sie jedenfalls nicht aus, nur sie würde am Montag wieder in ihr Büro gehen. Bloß dieses T-Shirt, dachte Dagmar, dieses T-Shirt ist viel zu dünn für das Wetter und der Rücken nicht richtig bedeckt. Schon der Anblick ließ sie vor Kälte erschauern. Musste viel Wärme in sich haben, der Typ ….

Noch immer staunte sie, wie leicht es ihr plötzlich fiel Aufmerksamkeit zu erregen, und noch immer berührte sie dies seltsam genug. Früher hätte der mich keines Blickes gewürdigt, früher hätte der 'ne Schnute gezogen oder wäre sogar grob geworden, wenn ich ihn angebaggert hätte, komm verpfeif dich, zisch ab, Kleine, bist nicht meine Kragenweite, spann sie den Gedanken weiter.

„Da bin ich an der Isar spazieren gegangen … Das Wetter ist ja auch viel wärmer als zu Hause … So ein süßer Biergarten ... Ich hab mir 'ne „Brotzeit“ bestellt, ja wirklich, 'ne riesige Brezel mit Käse, du kennst das wahrscheinlich … Nee, keine Weißwurst ... Weißt du eigentlich, warum es Englischer Garten heißt?“

Ferdinand wusste es nicht. Dagmar ließ ihren Blick gedankenverloren auf dem Springbrunnen ruhen, dessen Wasser aus einem steinernen Löwenmaul herausströmte, und von dort unauffällig weiter zum Nachbartisch gleiten, nicht erwartend an dieser Stelle noch etwas anderes zu erblicken als zwei ihr unbekannte Männer, die sich wieder ganz mit sich selber beschäftigten. Doch als sie hinübersah, ließ ihr erkorener Favorit geradezu demonstrativ seinen Blick aufflammen, als habe er nur darauf gewartet, den ihren zu kreuzen, und lächelte sie herausfordernd an. Dagmar fühlte sich verlegen, sandte aber doch ein zweites Lächeln zurück, bevor sie den Blick wieder sittsam zu Ferdinand lenkte.

„Ja und dann die Pinakothek, beide Pinakotheken … Ich hab' mir die Ausstellung alter Meister angesehen, viel Rubens, Rembrandt und so ... Aber auch der moderne Teil …“

„Sehr schön,“ erklärte Ferdinand ohne sonderliche Begeisterung. Er hielt nach dem Kellner Ausschau.

„Und nicht weit davon die Städtische Galerie, „Blauer Reiter“, wenn dir das was sagt, Macke und Klee, hast du gehört …?“

Sie genoss eine Aufwallung von süßlicher Häme darüber, dass er vermutlich insgeheim sehr viel verletzlicher war, als er sich anmerken lassen wollte. Geschieht ihm recht, dachte sie, was musste er auch einen auf feurigen Liebhaber machen, ist doch normal, dass ein Mann in seinem Alter aus den Fugen geht, soll er zu Hause bei seiner Frau bleiben, wo er hingehört, dann hat er keine Probleme, statt kleine Mädchen anzuheuern, um sich dann doch bloß einen runterholen zu lassen …

Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich mit einem allerletzten Blick von den beiden Galanen am Nachbartisch verabschieden zu wollen und arbeitete sich wieder über den Umweg Springbrunnen und Kastanie langsam vor. Ihr Blick erreichte sein Ziel – und zwei übermütige Gesichter funkelten ihr mit einem fast zu einer Grimasse erstarrten Lächeln entgegen. Urplötzlich stieg Zorn in ihr auf. Die beiden wollten sie verarschen, veralbern, pubertäre Idioten, ein lächerliches Katz-und-Maus-Spiel … Sie entzog ihnen schroff den Blick, spürte die Röte der Peinlichkeit auf ihrem Gesicht brennen.

Ferdinand zahlte und Dagmar fiel erst jetzt auf, dass er die ganze Zeit nicht ein einziges Mal gefragt hatte, ob sie auch etwas bestellen wolle.

„Jetzt wird es aber höchste Zeit, wenn wir beiden Hübschen heut' Nacht noch ins Bett kommen wollen.“

Sie überhörte gnädig die plumpe Doppeldeutigkeit seiner Worte. Hunde, die bellen, beißen nicht.

Als sie gingen, war ihr, als hörte sie aus einigen Schritten Entfernung den jungen Mann mit halblauter Stimme ihr etwas nachrufen, er rief „Tschau Bella,“ und dann folgte wieder ein leises, frozzelndes Lachen aus zwei Männerkehlen.

Sie nahm Ferdinands Arm, drückte ihn kurz und registrierte dankbar, dass er den Druck erwiderte, während sie schweigend zu dem geparkten roten Mercedes zurückkehrten. Dagmar fühlte sich wie in einem Nebel. Ein unerklärlich herzzerreißendes Gefühl erfüllte sie, dass sie hätte weinen können. Es irritierte sie maßlos, dass sie nicht wirklich begriff, was der junge Mann ihr während ihres kleinen, wortlosen Zwiegespräches hatte sagen wollen und was die Bedeutung seiner Botschaft gewesen war.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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