Politik im gleißenden Licht d. Öffentlichkeit

Wahl 2017 Unermüdlich verheißen unsere politischen Welterklärer und Welterklärerinnen Wohlstand und Werte. Das Volk erlebt sie vor allem im Modus der Rede. Eine Glosse

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Politik im gleißenden Licht der Öffentlichkeit

Politik ist ein Basar der Wünsche, Sehnsüchte und Stimmungen. Unermüdlich verheißen unsere politischen Welterklärer und Welterklärerinnen Wohlstand und Werte. Das Volk erlebt sie vor allem im Modus der Rede. Eine Glosse zur Bundestagswahl.

Prolog

Ist es nicht eine überwältigende Lust, ganz allein vorn am Rednerpult zu stehen, Licht und Blicke auf sich zu fühlen und in den mucksmäuschenstillen Saal hinein die eigene Stimme zu erheben? Oder auf dem Podium die gespannte Erwartung des Publikums zu spüren, den Applaus für ein besonders knackiges Statement einzustreichen, obwohl man dies bereits zum zehnten Mal wiederholt? Oder einer Schar rangelnder Journalisten bzw. dem devot das Mikrofon haltenden Interviewer halb apodiktisch, halb gebauchpinselt einige Brocken Informationen hinzuwerfen, auf die dieser oder diese sich wie ausgehungerte Wölfe stürzen? Oder auf dem Parteitag mit röhrender bis vibrierender Stimme, mit wedelndem bis ausgestrecktem Zeigefinger, mit luftigen Gesten die „lieben Freundinnen und Freunde“ auf flammende Appelle einzuschwören, die man zuvor im kleinen Kreis stundenlang zäh zerkaut hat?

Fürwahr, in solchen Augenblicken fliegt die Politikerseele gen Himmel.

Wer ein Amt, einen Posten oder ein Pöstchen errungen oder ergattert hat, wer es geschafft hat dazuzugehören, der hat ein- für allemal das Recht erworben, bedeutsam Klingendes von sich zu geben, dem Wohlklang der eigenen Stimme zu lauschen oder sich deren analytische Schärfe noch Stunden später auf der Zunge zergehen zu lassen. Das freie Schweben in der Redeblase ist Geschenk und Privileg der Politikerklasse, ist Nachweis und Krönung des Erfolgs, ist das, was mit all den Widrigkeiten, die dem undankbaren Wahlvolk geschuldet sind, versöhnt, das süße Gift, nach dem die politischen Welterklärer und Welterklärerinnen lechzen, das Elixier, das sie im Amt hält, ob haupt- oder ehrenamtlich, ob auf der großen Bühne der Hauptstadt oder im Hinterzimmer des Ortsvereins, ob auf der Präsidiumssitzung im Parteibüro oder der Mitgliederversammlung in der Stadthalle, ob beim Rundumschlag am Stammtisch oder am Infostand in der Fußgängerzone. Viele sind berufen, aber nur wenige entscheiden, was gesagt und worüber geredet wird.

Das Gespenst der verrückt Wählenden

Über die Frage, warum so viele der politischen Sprachrohre in unserer behüteten Demokratie über die innere Zerrissenheit des Landes am liebsten kein einziges Wort verlieren möchten, darüber wurde lange nicht geredet oder jedenfalls nicht ernsthaft. Wenn man von den Ausgeschlossenen einer sozialen Wundertüte sprach, wurde stets der wissende Ton fürsorglicher Bevormundung und Umarmung gegenüber diffusen Verweigerern, Protestgruppen und Gescheiterten angeschlagen: Diese Leute sind dann eben verunsichert und haben Zukunftsängste, und deshalb wissen sie nicht, was sie tun oder dass sie etwas völlig Unmögliches oder sogar Verächtliches tun, statt sich so zu verhalten, wie es moralisch und demokratisch gefestigte Staatsbürger tun. Dass z.B. die so genannten Prekarisierten und Abgehängten im Vergleich seltener wählen gehen als Angehörige der besser gestellten Schichten, gibt als mangelnde Wertschätzung staatsbürgerlicher Privilegien regelmäßig Anlass zu bedauernden Klagen über niedrige Wahlbeteiligung, obwohl diese Abstinenz für vier von fünf Parteien im Bundestag an sich gar nicht so ungünstig ist, die sich von dieser Klientel ohnehin nichts, d.h. keine Stimmen versprechen und sie samt ihrer Anliegen weitgehend ignorieren. Erst seit mit der AfD eine neue, unerwünschte Partei den Verteilungskuchen für die politischen Platzhirsche weiter und möglicherweise deutlich schmälert, und seit auch anderenorts eine kritische Masse bei Wahlen und Abstimmungen zunehmend unangenehm bis penetrant auf sich aufmerksam macht und sich nach Expertenmeinung gegen „das Establishment“ auflehnt, hat die politische Elite im Schulterschluss mit den Medien doch noch einen vernachlässigten Teil der Bevölkerung ausgemacht und überschlug sich zeitweilig mit Bekenntnissen, diese irregeleiteten Schäfchen in der politischen Kalkulation künftig irgendwie besser berücksichtigen zu wollen.

Was solange vorhielt, bis andere Katastrophen als Medienlawinen das Thema unter sich begruben und alles erleichtert zur staatstragenden Pose zurückkehrte.

Vorläufig.

Dabei war es halb amüsant, halb erschütternd zu beobachten, mit welcher Hilflosigkeit im Nebel getastet und gestochert wurde, um dieses Gespenst der verrückt Wählenden einzufangen, und man konnte sich einer klammheimlichen Freude und eines Hauchs von Schadenfreude kaum erwehren, zu sehen, wer da plötzlich alles unterwegs war, um mit säuerlicher Miene die Nöte irgendwelcher wahrscheinlich einfach gestrickter Menschen zu entdecken, statt sich mit den Vorzügen unserer Export-Wirtschaft zu beschäftigen und in den günstigsten Bedingungen für das frei umherwandernde internationale Kapital zu schwelgen. Für einen Augenblick waren sie in die Defensive geraten, unsere Welterklärer und Welterklärerinnen, wegen eines Schreckgespenstes aus lauter Nobodies, die plötzlich die Macht des Kreuzchens wieder entdeckt haben und womöglich auch bei uns für sich entdecken könnten.

Das Parteienbiotop

Angesichts des drohenden Entzugs von Privilegien pflegt das politische Personal allerdings zur Hochform aufzulaufen, und das Gespenst sollte sich besser darauf vorbereiten, dass der vage Hauch reuiger Zerknirschung, der kurze Zeit durch das Land waberte, kaum lange vorhalten wird und diese zum vorbeugenden Gegenschlag ausholen: Es gab eine vordemokratische Zeit, in der war das Wahlrecht vom Eigentum abhängig, und falls demnächst jemand als erste Nebelkerze den Vorschlag zünden würde, gewisse Bezieherinnen und Bezieher staatlicher Unterstützung, sprich Hartz IV, sollten am besten gar nicht wählen dürfen - denn wer nicht arbeitet, soll auch kein Stimmrecht haben, ist doch logisch! - gäbe es zwar sicher ein lustvolles Aufjaulen in den Talkshows, aber ganz bestimmt auch viele heimliche Sehnsüchte, ach wenn es doch wirklich so wäre. Denn die Herrschenden möchten sich keiner Gefahr aussetzen, die von den Untüchtigen ausgeht, möchten nicht Posten und Mandate, Deutungshoheit und Relevanz dahinschwinden sehen und schmieden zweifellos bereits an Strategien, Plänen, Schachzügen, Tricks und Taktiken, wie man den Lästigen und Überflüssigen die Lust am Kreuzchen weiter austreiben und sie in der Ecke der Nicht-Wähler unschädlich machen könnte. Verzichten sie von sich aus auf den Urnengang und bleibt somit der demokratische Schein gewahrt, umso besser, dann ist man sie los und kann weiter am gewohnten Jargon floskelhafter Vergewisserung eben dieses Establishments festhalten: Wir sind die offene Gesellschaft, unsere Freiheit geht uns über alles, unsere Werte sind so hochmoralisch wie sonst nirgendwo auf der Welt, bei uns tragen die starken Schultern mehr als die schwachen und jedem werden Chancen geboten; wir stehen fest an der Seite unserer Freunde und Verbündeten, mit denen gemeinsam wir nach Lösungen für all die Verfolgten, Bedrängten und Flüchtenden dieser Welt suchen, die anders als die verwöhnten Menschen bei uns daheim tausend Strapazen auf sich nehmen, aber hier nur willkommen sind, wenn sie nützlich sind und nichts Fremdes an sich haben; wir sind außerdem ganz unbedingt für Toleranz und gegen Populismus und Extremismus von rechts und links, und überhaupt müssen die Probleme Europas und die der Globalisierung den Menschen nur besser erklärt werden, damit sie Vorzüge und Chancen erkennen und sich wieder so verhalten, dass sie die besser Befähigten nicht beim Regieren stören.

Sorry, es muss natürlich heißen, nicht stören, wenn diese die Zukunft gestalten, das Land voranbringen und Verantwortung übernehmen.

Die Logik ist am Ende immer die gleiche: Die anderen, nämlich das Fußvolk der Wählerinnen und Wähler soll sich verändern, sich anpassen, sich darauf einstellen, als Chance begreifen, soll stets auf alles gefasst sein, denn wo die Verbesserung nah ist, ist die Verschärfung nicht weit - nur wir, das politische Personal samt unserer politischen Parteien, wir, die wir von Termin zu Termin eilen, von Veranstaltung zu Veranstaltung hetzen, in Nachtsitzungen ausharren, uns in zahllosen Foren und einem Dutzend Gremien den Hintern platt sitzen, wir sind und bleiben, was wir sind und wie wir sind, und wir denken nicht mal im Traum daran, an dem für uns und unseresgleichen so nützlichen Parteienbiotop die Reformaxt anzulegen, und jeder Versuch, uns aus unserem Pfründesystem herauszureißen, wird mit konsequentem Widerstand beantwortet. Nein, wir variieren unseren Jargon ein bisschen, platzieren ein paar Kuschelphrasen und Nettigkeitsfloskeln, auch kleinere Schönheitskorrekturen der Parteiarchitektur sind möglich, aber mehr würde das große Ganze, das uns allen doch so wichtig ist, gefährden.

Die Verheißung von Wohlstand durch Arbeit

Ja, es gibt viel Positives über unser Gemeinwesen zu berichten, es gibt vieles, wonach andere sich die Finger abschlecken würden und nicht zufällig wollen so viele zu uns kommen. Manche sagen, wir sind ein großartiges, ein wunderbares Land, weil es die soziale Marktwirtschaft und das Grundgesetz gibt, und wie glücklich wir uns schätzen müssen, dass es uns so gut geht wie niemals zuvor; einer gern zitierten Statistik zufolge geben dreiviertel der Bevölkerung an, sie seien mit ihrem Leben und ihrer wirtschaftlichen Situation sehr zufrieden. Immer wieder wird als ultimatives Ziel der politischen Tätigkeit die Bewahrung unseres Wohlstandes beschworen, und Wohlstand ist zweifellos eines der Lieblingsworte unserer Kanzlerin. Mit dem ihr eigenen Talent, das störrische Weltgeschehen auf dürre Verlautbarungen herunterzubrechen, versteht sie es, das Wort nach Geborgenheit, Biederkeit und privater Nische klingen zu lassen und die verzehrende Angst all der vielen Trostbedürftigen in unserem Lande zu schüren und zu beschwichtigen, wie furchtbar es wäre, wenn er uns genommen würde – unser Wohlstand, die immerwährende Konsumverheißung, die uns seit den Tagen Ludwig Erhards begleitet.

Oh Angie, would you buy me a flat screen tv ...“

All dies ist auch ein Verdienst der etablierten Politik und womöglich bringen die vielen fleißigen und gewissenhaften Menschen da draußen im Lande ihre Wertschätzung nicht immer angemessen zum Ausdruck. Vieles ist selbstverständlich geworden, man nimmt das Gute mit ohne groß nachzudenken und klagt heftig über das, was fehlt. – Auch die Frage, wie es sein kann und ob es sein kann, dass es dank unseres Wohlstandes von allem immer mehr und dank unserer sagenhaften Wettbewerbsfähigkeit sogar immer billiger geben soll, auch diese Frage wird von den Bürgerinnen und Bürgern ferngehalten. Der Fortschritt als Konsumverheißung ist da - jedenfalls für die, die an die Urnen sollen, und keiner soll fragen nach der Kehrseite der Medaille und wie das alles mit dem Rest der Welt zusammenhängt:

Die Welt ist global, aber unser Wohlstand ist national, wir haben ihn allein erarbeitet und wollen ihn allein genießen. Applaus Applaus.

Doch auch für viele bei uns gibt es diese heile Welt des Wohlstands nicht mehr, sie erleben eine andere Seite dieses wunderbaren Landes, eine Asymmetrie, die hartnäckig verharmlost und verniedlicht wird, dieses eine entscheidende Feld, auf dem es eben nicht vorwärts sondern aus Sicht der Vernachlässigten mit Riesenschritten in die Vergangenheit geht: Diese andere Seite ist die Arbeitswelt, es ist die eigene Rolle als Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin, die vielen wenig Gutes und eine unsichere Zukunft verheißt, und dabei geht es nicht nur um mehr oder weniger Geld und nicht um die fortschreitende Technisierung und Digitalisierung.

Würde man ein Demoskopieinstitut mit einer Umfrage beauftragen, würde vermutlich nur eine kleine Minderheit den Satz unterschreiben, die Arbeitswelt habe sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten vorteilhaft verändert.

Jeder, der einen der vielen normalen und Allerweltsjobs hat, kann es schon lange mit Händen greifen: Ein schleichendes Gefühl der Entrechtung hat sich breitgemacht; zwar hat man Rechte auf dem Papier, aber jeder weiß, die Ware Arbeitskraft hat nicht mehr wirklich was zu melden, sondern ihr Schutz wird mit einer Beliebigkeit abgeschafft, ausgehöhlt, umgedeutet und verweigert, dass den Menschen angst und bange wird. Und der eigene, vielleicht noch einigermaßen gute Job ist damit erkauft, dass der Kollege, die Kollegin weit unter Tarif oder unter dem Qualifikationsniveau arbeitet, und wer nicht gerade mit politischem Zwangsoptimismus geschlagen oder gesegnet ist, kann kaum übersehen, dass es viele Leute gibt, die früher alle mal viel bessere Jobs hatten. Vielen, die mit den Zuständen hadern, geht es dabei nicht um das eine Prozent von Superreichen an der Spitze der Einkommensskala, das in Studien gern zitiert wird und mit dem man ohnehin nicht direkt in Berührung kommt, sondern um die ganz alltägliche und sichtbare Erfahrung von Ungleichheit und Benachteiligung: Es geht darum, dass man auch gegenüber den Leuten aus der eigenen Schicht, dem eigenen Milieu so schlecht dasteht, und immer sieht das kleinere Einkommen so aus, als habe man selber nicht genug getan, um voranzukommen, sei nicht fleißig, nicht strebsam genug gewesen, habe sich nicht genug angestrengt oder aus unbegreiflichen Gründen weniger Glück gehabt. Das kränkt und verletzt.

Und gegen wen soll man wüten: Sind es die Unternehmer, die als „Ausbeuter“ der Ware Arbeitskraft von sprudelnden Gewinnen profitieren, aber den Beschäftigten nichts gönnen; ist es der Staat, der diesem Treiben zusieht und alles Negative mit abstrakten Wachstumszahlen beschönigt, oder sind es die eigenen Leute, weil sie nicht solidarischer sind und vor lauter Angst, es könne den Arbeitsplatz kosten, nicht aufmucken wollen.

Auch die vielleicht tröstende Erklärung: Okay, wenn ich, wenn wir alle hier in Deutschland etwas weniger haben, dann haben andere, die in den ärmeren Ländern, dafür etwas mehr, das müsste doch zu verkraften sein, wenn sich die Einbußen einigermaßen gleichmäßig verteilen, doch auch diese Gleichung geht nicht auf. Zwar steigt das Wohlstandsniveau insgesamt in Schwellenländern langsam an, doch zeigt sich überall im Grunde das gleiche Bild: Viele verlieren, damit wenige so exorbitant viel haben, dass die dadurch angehäufte Macht und deren verschlungene Strukturen sich der Kontrolle entziehen. Dagegen soll die arbeitende Bevölkerung sich weltweit bloß noch als „workforce“, als Armee der Werktätigen verstehen, eine letztlich identitätslose Masse, die als Kanonenfutter im allgegenwärtig tobenden Ressourcenkrieg, im alles verschlingenden Wettbewerb und für die alles rechtfertigende Wettbewerbsfähigkeit verheizt wird. Kein Wunder, dass das Wahlvolk an die Segnungen dieser Art des Wirtschaftens zunehmend nicht mehr so recht glauben will.

Abstieg statt Aufstieg

Natürlich redet das politische Personal auch über Arbeit, über die Lage am Arbeitsmarkt und über Arbeitslose, und die amtierende Arbeitsministerin Nahles von der SPD hat nichts unversucht gelassen, um den Eindruck zu erwecken, die Partei sei wieder ganz auf oder an der Seite der Werktätigen. Bzw. sie habe sich nie von dort entfernt: Wir sind das ökonomische Happyend-Land für alle, Scheitern und Misserfolg sind woanders. Auch der derzeitige K-Kandidat zelebriert gefühlige und huldvolle Nähe zu den vorher Vergessenen und Beiseite-Geschobenen: Seht her, ihr unattraktiven kleinen Leute, ihr sollt wieder wer sein in der Partei. Demnächst - wenn das Kreuzchen gemacht ist.

Doch die in der Großen Koalition vorangetriebenen Gesetzesvorhaben zur Gestaltung des Arbeitsmarktes sind überwiegend nur nachholender Art - Mindestlohn, Frauenquote und einige Korrekturen bei der Leiharbeit - und kamen zu spät, um beim Wahlvolk Dankbarkeitseffekte zu erzielen, wie die SPD sie offenbar erwartete und noch erwartet. Sie wären vielleicht wegweisend gewesen, als die rot-grüne Agenda-Koalition regierte, aber da lief man anderen Prämissen hinterher als sich für Chancen und Rechte der Nobodies einzusetzen und den Aufstieg der Nicht-Privilegierten bis in die Spitzen der Gesellschaft und damit in die Entscheidungszentren voranzutreiben und zu erleichtern. Das zu tun, was der Partei lange Zeit ihre Daseinsberechtigung gab, als die Verheißung nicht bloß dem Konsum sondern der besseren Zukunft galt.

Es ist hinreichend bekannt, was stattdessen geschah und wie sich die Arbeitswelt veränderte. Auch der Blick auf die Arbeitslosigkeit änderte sich und ein neues Erklärungsparadigma wurde in aufwändigen Kampagnen, als bringe man ein Luxusparfum oder eine Edelkarosse auf den Markt, durch mediale Dauerberieselung in die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger einzupflanzen versucht, dessen Quintessenz ungefähr so lautete: Es gibt für jeden einen bezahlten Arbeitsplatz, er muss nur billig genug sein. Oder andersherum: Wer arbeitslos ist, ist einfach zu anspruchsvoll oder zu faul und darf getrost beleidigt, diffamiert und verächtlich gemacht werden, das ist jetzt völlig in Ordnung. Respekt zu haben oder Solidarität zu zeigen, ist überflüssig, weil unverdient. Und natürlich gibt es immer genug Leute, die schnell dabei sind, Feindbilder zu vergröbern und zu verhässlichen, wenn Amtsträger dazu ermuntern oder dies gutheißen. Der deutsche Untertan lässt wie immer devotest grüßen.

Vor dem Hintergrund, dass große Firmen mittels Steueroptimierung und Steuervermeidung diesen und andere Staaten reihenweise zum Narren halten, erstaunt es immer wieder, mit welcher Selbstverständlichkeit und völligen Maßstabslosigkeit noch immer nach Feigenblättern dafür gesucht wird, dass Menschen Vollzeit arbeiten und es dennoch zum Leben nicht reicht, dass eben diese Menschen einmal Rente nur noch auf Grundsicherungsniveau beziehen, dass in unserer ach so modernen Gesellschaft das soziale Fortkommen maßgeblich vom Elternhaus abhängig ist, dass eine hohe Kinderarmut herrscht, ein Mangel an bezahlbarem Wohnraum, dass jene, die es schwer haben, ihre Arbeitskraft als Ware zu vermarkten, zu Freaks gemacht und der öffentlichen Verhöhnung preisgegeben werden, dass Leute, die schon zwanzig, dreißig Berufsjahre und mehr hinter sich haben, sich im Jobcenter zwanzig- bis dreißigjährigen „Coaches“ gegenübersehen, die durchaus bewegt und angetrieben von der Vorstellung, man müsse nur lange genug am menschlichen Objekt herumlaborieren und herumdoktern, um den Tiger herauszukitzeln, nach Defekten und Hemmnissen Ausschau halten, wie der Arzt nach der Krankheit. Schöne neue Arbeitsmarktkonformität.

Jenseits davon ist jeder auf sich gestellt und versteckt sich so gut er oder sie kann. In einer verklausulierten und verparagrafisierten Sprache verkümmert der Mensch und seine Biografie zum Nichts. Dass die Arbeitgeber die defekte und schlecht beleumdete Ware am Ende dann doch nicht wollen und bloß die Nase rümpfen, ist leider Pech. Es drängt sie ja auch niemand.

Der Angstapparat der Agenda 2010

Der Arbeitsplatz, an dem man zumeist einen beträchtlichen Teil seines Lebens verbringt, ist immer ein ganz eigener Kosmos: das Büro, die Werkshalle, der Handwerksbetrieb, das Großunternehmen oder die öffentliche Verwaltung, überall wird nicht nur gearbeitet, sondern es werden auch soziale Regeln erlernt und durch Erfahrung verinnerlicht. Die Persönlichkeit des Menschen ist entscheidend auch von der beruflichen Sozialisation geprägt und mit dieser untrennbar verwoben. In den geschützten Bereichen wird Arbeit gern mit Erfüllung, Sinnstiftung und einer Steigerung des Selbstwertgefühls in Verbindung gebracht; man genießt seinen Status, verfügt über einen gewissen Entscheidungsspielraum, ist fachlich gefordert und kann sich einigermaßen gut artikulieren. Viele Menschen betonen immer wieder, wie gerne sie arbeiten und ganz gewiss kennen sie kein „Arbeitsleid“, sondern tragen die Arbeit sogar bereitwillig in die Freizeit hinein.

Für viele andere, vor allem für jene, die die mittleren und unteren Jobs in den Hierarchien besetzen, ist Arbeit als Vorgang der täglichen Pflichterfüllung nicht selten vage angstbesetzt. In der Regel gibt es dafür keinen konkreten Grund, dennoch ist jeder Tag am Arbeitsplatz für diese mit einem Moment innerer Beunruhigung, mit Angst vor Versagen, Degradierung, Gesichtsverlust und Beschämung verbunden - man kennt seinen Platz und weiß um die eigene Verletzlichkeit.

Gleichzeitig haben Menschen ein Bild von sich selbst und möchten gern auch anderen ein bestimmtes Bild von sich vermitteln: Fast jeder sieht sich gern als stark, als mutig, als jemand, der sich auch mal wehrt, ein Kämpfer, mit dem man nicht alles machen kann, der sich nicht gleich wegduckt sondern auch mal was klarstellt, wenn der Chef oder der besser gestellte Kollege mal wieder einen Rappel, keine Ahnung oder einen miesen Umgangston hat und die Arbeitsabläufe stört.

Und dann merkt man plötzlich: Man traut sich nicht mehr, man hält sich lieber zurück statt zu reagieren, denn es könnte sich nachteilig auswirken, eine Meinung zu äußern, einen Standpunkt zu vertreten, womöglich gar durch vermeintliche Unzufriedenheit oder Kritik auf sich aufmerksam zu machen oder sich für jemanden einzusetzen, der womöglich auf der Abschussliste steht.

Für viele ist es beklemmende und bestürzende Erfahrung, sich plötzlich als eingeschüchtert oder feige zu erleben, sich eingestehen zu müssen, dass man bloß nichts riskieren will, kaum noch für sich selber und schon gar nicht für irgendeinen idiotischen Kollegen oder eine dämliche Kollegin, denen man ja im Grunde nichts schuldet.

Es ist der Politik gelungen, einen Angstapparat zu installieren - im Politjargon euphemistisch als Schaffung eines Anreizsystems bezeichnet, der nicht nur aber vor allem in der Agenda 2010 seinen krassesten Ausdruck gefunden hat. Die vielen vertraute Sorge um den Arbeitsplatz gipfelt zusätzlich in der Horrorvision, was wenn mir und meiner Familie dieser Absturz passiert.

Denn längst ist klar, dass das so genannte „strenge Regime der Zumutbarkeit“ nicht nur für die tatsächlich Arbeitslosen gedacht ist sondern als mahnende Abschreckung auch für all jene, die Arbeit haben und sich immer schön so verhalten sollen, dass sie diese nicht durch Ansprüche gefährden oder mangelnde Ergebenheit aufs Spiel setzen. Dass die „Verweildauer im System“ sich gegenüber der früheren Arbeitslosenhilfe verlängert statt verkürzt hat und die Zahl der Langzeitarbeitslosen seit Jahren auf hohem Niveau stagniert, interessiert demgegenüber vergleichsweise wenig, da diese Abgeschriebenen eigentlich nur der Kollateralschaden einer im Grunde erfolgreichen Politik sind, die Arbeitenden zu disziplinieren und einen pädagogisch heilsamen Schrecken verbreiten zu wollen. Im Prinzip ging und geht es hauptsächlich darum, die Beschäftigten wieder Demut zu lehren und den Wind wieder etwas autoritärer wehen zu lassen. - Wie gefräßige Kraken breiten sich die Jobcenter in den Städten aus, immer darauf bedacht, dass die, die dort vorstellig werden, bloß nichts zu lachen haben, bloß keine Freude empfinden, bloß nicht zur Ruhe kommen, sondern immer in Angst vor der strafenden Allmacht des Apparates leben und wehe, einer wagt es, die überall eingearbeiteten Unterwerfungsgesten zu verweigern; in der Enge des Systems kann dies schnell die vielen kleinen „Apparatschiks“ zum Leben erwecken. Gut möglich, dass die These zutrifft, wonach jene, die von dort in den Arbeitsmarkt zurückfinden, sich selber geholfen haben und dem Rest ohnehin niemand hilft. Und für die „Normalen“, für die, die regelmäßig an den Urnen erwartet werden und je nach Standpunkt bloß aus der Ferne schaudern oder schäumen, wenn über die „Hartz-IV-Kreaturen“ hergezogen oder kümmerliches Mitleid gespendet wird, für die gibt es eben die große Konsumverheißung als Kompensation dafür, dass im Goldenen Zeitalter der Globalisierung und der Konzerne Stillhalten als letzter, morscher Rettungsanker erscheint, um sich noch etwas länger vorgaukeln zu können, man werde schon nicht selber auf der Strecke bleiben. Denn schließlich ist man ja soviel klüger als die anderen.

Die da oben, die da unten sind immer noch da

An der Oberfläche mag all dies gelingen, aber darunter im kollektiven Gedächtnis ist der von soviel politischer Skrupellosigkeit angerichtete Schaden enorm. Früher haben sich Männer, Familienväter, häufig Alleinverdiener, erhängt, wenn sie lange arbeitslos waren, um der Frau den Weg für eine neue Partnerschaft mit einem wirtschaftlich tüchtigeren Mann freizumachen, der sie und die Kinder ausreichend ernährte. Heute ist es der soziale Tod, der Menschen bedroht, die nicht perfekt funktionieren. Es klafft eine Lücke auf zwischen dem, was die Bürgerinnen und Bürger aus ihren Erfahrungen ableiten und dem, was auf dem medialen Politikmarkt plausibel gemacht werden soll, dass nämlich da oben doch die guten Leute sind, die sich schon irgendwie um die weniger Begünstigten weiter unten kümmern werden.

Wer im Laden was klaut, ist kriminell; wer bei Hartz-IV schummelt oder den kleinsten Fehler macht, muss mit drakonischen Maßnahmen rechnen; aber wer das Arbeitsrecht missachtet oder aushebelt, der kann dies nicht selten über Jahre ungestraft tun, und wer sich nur grandios genug bereichert, muss mit keinerlei Konsequenzen rechnen sondern darf sich hochangesehen vom Acker machen bzw. im Dinnerjacket oder Cocktailkleid auf der nächsten Party weiterfeiern. Es sei denn, der Staatsapparat will gerade mal zufällig ein kleines Exempel statuieren, um den Leuten Sand in die Augen zu streuen, dass auch ein Mr. Somebody erwischt werden kann. Manchmal jedenfalls.

All dies nährt die Distanz, die zunehmende Erbitterung und natürlich den Neid nach oben, dass da immer Leute den öffentlichen Raum mit vergänglicher Wichtigkeit füllen, die sich in immer neuen Ämtern immer neu erfinden aber irgendwie auch immer gleich sind, hohle Sprechmaschinen, die, von devoten Handlangern hofiert, unablässig Worte heraus pusten und in einer Dauer-Inszenierung ihrer selbst das Rauschen eines Redestroms erzeugen, der in den visuellen Medien noch vom Flimmern betörender Bilder begleitet und untermalt wird:

Die Kanzlerin im leuchtenden Blazer eilt auf dem soundsovielten Gipfel dem Staatschef des befreundeten Landes entgegen und tauscht mit diesem ein maniriertes Küsschen. Gipfelglück im Serienformat.

Wenn der versierte, mit allen Wassern gewaschene Politprofi von seiner Bühne herab moralische Ermahnungen oder fabulös-abstrakte Freiheitspostulate loslässt, wird er oder sie von notorisch unterbelichteten Medien wie ein Held und Menschenrechtskämpfer belobigt, hervorgehoben und mit reichlich Weihrauch geschmückt: Nein, was für herausragendes Zeichen dieser Aufrechte damit setzt, welch ein starker Auftritt eines mutigen Demokraten, Herrn Erdogan oder Herrn Putin via öffentlichem Aufruf mitzuteilen, sie möchten doch bitte die Menschenrechte oder die Meinungsfreiheit achten, soviel Heroismus darf dann später in keiner Laudatio, in keiner Biografie und am Ende auch beim Staatsbegräbnis zu erwähnen nicht vergessen werden. Erbauliche Rührung macht sich breit. Falls der kleine Nobody sich Herz klopfend traut, im Kreis der Kollegen zu widersprechen, wenn die darüber lästern, die neuen Aushilfen vom anderen Ende der Welt seien zu langsam, machten zu oft Pause und verständen ja sowieso nicht, was man ihnen sagt, dann dürfte er sich wahrscheinlich ziemlich unbehaglich und womöglich schon bald aus dem wärmenden Miteinander ausgeschlossen fühlen, und Lob für besonderen Mut kann er oder sie schon gar keines erwarten.

Politsnobs und Wahlvolk

Dass diese Polit-Snobs, die sich im privilegierten Parteien-Biotop tummeln, auf ein so schönes Angstinstrument, wie es mit der Hartz-IV-Zumutbarkeit geschaffen wurde, freiwillig verzichten werden, dürfte daher mehr als unwahrscheinlich sein, und nichts spricht wirklich dafür, dass der K-Kandidat, wenn es denn klappen sollte mit den Kreuzchen, es anders halten wird. Am Ende gibt es immer die Realpolitik, die Vetomächte, die Sachzwänge und natürlich die „ökonomische Vernunft“, hinter denen man sich verschanzen kann, wenn es darum geht, den dünnen Aufguss der „sozialen Gerechtigkeit“, den die SPD gerade noch für wahlkampftauglich hält, weiter zu verwässern. Ohnehin ist es für den Kandidaten und seine Partei fast unmöglich, hinter die Agenda zurückzugehen, denn steigt die Arbeitslosenzahl danach auch nur um null-komma-null-eins Prozent, egal aus welchen nachvollziehbaren Gründen, wird sich eine Meute Aasgeier herabstürzen und beider Kadaver mit Wonne zerfleddern.

Nein, da werden von Seiten des Wahlvolkes schon andere Daumenschrauben angelegt werden müssen als die politisch nicht weiter bedeutsame Unzufriedenheit einer Minderheit, die von der Wohlstandskarawane als Ballast zurückgelassen wurde, um dem „Weiter so“ der tonangebenden Schichten ein paar Hindernisse in den Weg zu legen, um wenigstens einige der vielen vermeintlichen Systemimperative kritisch zu hinterfragen und um jenes Denken in Alternativen zu beleben, das man dem Wahlvolk seit Jahren vorenthält. Und ob die politisch notorisch ängstlichen Deutschen sich dazu durchringen können, nicht mit dem Spatz in der Hand zufrieden zu sein, ist eher zweifelhaft, insofern ist es eine sichere Karte darauf zu setzen, dass es wohl noch dauern wird, bis eine Schmerzgrenze erreicht ist. Und ein großes Lob darf man der Kanzlerin wirklich nicht vorenthalten: Ihre Rolle als Spatz in der Hand und Bollwerk der Furchtsamen gegen die Wiederkehr des Klassenkampfes füllt sie nicht zuletzt dank mangelnder Konkurrenz ganz hervorragend aus, zumal von der letzten rotgrünen Hoffnungstaube, die vor Jahren mal mit viel Vorschusslorbeeren gen Kanzleramt flog, am Ende nur die schale Ernüchterung blieb, dass auch der Umgang mit der auf Zeit verliehenen Macht gelernt sein will.

Mal ganz ehrlich sein“ - geht das in der Politik?

Es gehört zu den Ritualen unserer Demokratie, dass Meinungsforschungsinstitute regelmäßig die politische Stimmung im Lande erfragen: Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre, wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit der Regierung, wer ist auf der Beliebtheitsskala ganz vorn, wer hat einen besseren oder schlechteren Platz als vor einer Woche inne, wem trauen Sie mehr Kompetenz bei der Lösung dieses oder jenes Problems zu, welches Thema ist Ihnen besonders wichtig? – solche und andere Fragen werden einer Anzahl repräsentativer Bürger und Bürgerinnen regelmäßig gestellt und die Ergebnisse in den Medien veröffentlicht. Dagegen werden die politischen Sprachrohre eigentlich nie und schon gar nicht regelmäßig befragt, was sie über die Wählerinnen und Wähler denken, wie sie deren Rolle als mündige Bürger sehen oder was sie von deren Verständnis von und Erwartungen an die Politik halten, vermutlich, weil man dies für unnötig hält. Zwar redet das politische Personal gern darüber, was es alles zum Besseren zu verändern gibt, und es gehört zu den anerkannten Gepflogenheiten, bei jeder passenden Gelegenheit demutsvoll zu betonen, man respektiere selbstverständlich das Votum der Wählerinnen und Wähler, da wir schließlich eine Demokratie und ein Rechtsstaat sind – allein, Jahrzehnte der Parteienherrschaft haben die Bürgerinnen und Bürger gelehrt, den Politjargon zu entschlüsseln und in Lebenswirklichkeit zu übersetzen: Wer sich damit brüstet, Verantwortung übernehmen zu wollen, der giert nach dem nächsten Karrieresprung; wer davon schwärmt, das Land voranzubringen, ist ein Sklave der Wirtschaft, und der sich stets nobel und staatstragend gebende Wunsch zu gestalten, ist ein Synonym für die Lust am Strippenziehen und an der ungebremsten Ausübung von Macht.

Die Bürgerinnen und Bürger wissen also, dass sie von den Volksvertretern und -vertreterinnen gemischte Eindrücke haben, beschäftigen sich aber wenig damit, wie es andersherum aussieht.

Ist es also höchste Zeit, mal näher an die politische Klasse heranzutreten und dort etwas Einstellungsforschung zu betreiben?

Was also denkt ihr, ihr bestellten und bezahlten Welterklärer und Welterklärerinnen, – was denkt ihr und wie redet ihr über uns, über all die fleißigen und gewissenhaften Menschen im Lande, über euren Souverän, wenn ihr unter euch, im kleinen Kreis, mit Angehörigen der eigenen Zunft, mit den Mitgliedern eurer Familie, mit Insidern, mit Gleichgesinnten, mit Leuten aus illustren Kreisen zusammen seid, wie hört sich das an im vertraulichen Zwiegespräch, im Frustausbruch, in der Katerstimmung nach der verlorenen Wahl, im tiefen Tal der Umfragewerte, in den langen Sitzungen der Strategieplanung? Was geht in euch vor, wenn ihr hört oder lest, wie Medien Häme oder Lobhudelei über euch ausbreiten? Müsst ihr ein dickes Fell haben, weil jeder Dussel jeden Blödsinn über euch verzapfen darf? Stumpft ihr ab, weil ihr euch permanent verleumdet, missverstanden und angegriffen fühlt? Ist es euch widerlich, alle paar Jahre im Wahlkampf hässliche, ungebildete, schlecht riechende und gehässige Menschen an euch herankommen zu lassen, Kleingeister, die frech damit drohen, zum politischen Kontrahenten überzulaufen, wenn der mehr Wohltaten verspricht? Empfindet ihr gar eine heimliche Verachtung, sind wir Arschlöcher in euren Augen, weil wir die Demokratie nur dann unterstützen, wenn sie ständig steigenden Wohlstand verheißt? Seid ihr sauer, weil ihr ständig als Zugpferde für eure Parteien unterwegs seid, aber niemand eure masochistische Aufopferung so richtig zu schätzen weiß? Findet ihr es einfach zum Kotzen, dass partout nicht jeder „Souverän“ einsehen will, dass ihr die Profis seid und dass man dankbar sein sollte statt ständig argwöhnisch an euch herumzumäkeln? Beschleicht euch manchmal Unbehagen, es könne was dran sein, wenn behauptet wird, ihr hättet den Kontakt zur Realität der Normalbürger verloren oder geht euch dieses Gequatsche einfach bloß tierisch auf die Nerven? Macht es euch Sorge, dass es womöglich bald immer mehr verrückt Wählende gibt, und was meint ihr, wie man verhindern könnte, dass Leute, die anscheinend zu dumm zum Wählen sind, euch von den warmen Parlamentssitzen verdrängen und damit Schaden für unsere schöne Demokratie anrichten? Müsste man sich da nicht was einfallen lassen?

Hallo, ihr da auf den politischen Rängen, warum trefft ihr euch nicht mal bei Anne Will und all den anderen Edelzungen und sagt dem Publikum, was euch an eurem Souverän besonders missfällt, was wir besser machen könnten, damit ihr zufrieden mit uns seid und sich wieder mehr Menschen ernst genommen fühlen. Bitte keine falsche Scham, ihr redet doch sonst so gern und lasst keine Gelegenheit aus, euch vor der Öffentlichkeit in Positur zu setzen und alle Welt an euren politischen Rezepturen teilhaben zu lassen. Es muss ja keine Wählerbeschimpfung sein, schaut einfach in Richtung Kamera, denkt daran, dass sich dahinter Millionen von Kreuzchen auf dem Wahlschein verbergen, Millionen Augenpaare auf den Bildschirm gerichtet sind, auf dem jetzt euer Gesicht erscheint, dann macht den Mund auf und sagt in die erwartungsvolle Stille hinein: Ihr da draußen, ihr seid …

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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