Vor Gericht: Die Schöne und der Mord (2)

Gericht Indizien für Motiv und Gelegenheit werden zusammengetragen. Wird Tatjana S. gestehen? - 2. Verhandlungstag

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Weitere 13 Zeugen machen ihre Aussage - es ist der Tag, der hauptsächlich den Angehörigen der Angeklagten und denen des Opfers gewidmet ist. Doch geht es nicht um die Verarbeitung von Schmerz oder Trauer. Tagesabläufe und Gewohnheiten werden rekonstruiert, um das Zeitfenster einzugrenzen, in dem die Begegnung stattfand, die für Katharina B. mit dem Tod endete. Da die Angeklagte die Tat bestreitet, folglich von ihr auch keine Angaben über deren Ablauf vorliegen, ist das Gericht ausschließlich auf Indizien angewiesen, was den Zeugenaussagen besonderes Gewicht verleiht. Jede Abweichung, jede Unstimmigkeit kann Zweifel wecken und die Täterschaft von Tatjana S. in Frage stellen. Zweifel aber darf es im Falle einer Verurteilung nicht geben.

Zunächst berichtet ein Polizeibeamter von der Festnahme der Tatverdächtigen, die am 6.1.2012 erfolgte, er selber führte später auch die erste Beschuldigtenvernehmung durch.

Seinen Eindruck resümiert er wie folgt: Sie hat nicht verstanden, was wir wollten. Als wir kamen, trafen wir sie vor dem Haus an, und sie sorgte sich vor allem um die Tochter, die sich in ihrer Begleitung befand. Was wird mit ihr, wenn ich jetzt mitkommen muss, fragte sie. Ansonsten habe sie weder Erstaunen noch Erschrecken gezeigt.

Den Tagesverlauf des 27.12.2011 schilderte sie wie folgt: Sie ging morgens um 8 Uhr für ca. zwei Stunden in der Spielothek, brachte anschließend die Kinder zu den Schwiegereltern und besuchte die Spielothek ein zweites Mal. Mittags kam sie nach Hause, verletzte sich am Eisschrank und ging nachmittags gegen 15.30 zusammen mit der Tochter Alina, die an Husten litt, zum Arzt. Dieser sagte ihr, dass die Verletzung genäht werden müsse und überwies sie ins Krankenhaus, wohin sie sich anschließend begab. Danach kehrte sie in ihre Wohnung zurück. An diesem Tag habe es keinen Kontakt mit Frau B. gegeben. Mit dem Tatvorwurf konfrontiert, sagte sie:

Ich habe in meinem Leben schon viel falsch gemacht, aber ich habe noch nie einer Katze oder einem Hund, geschweige denn einem Menschen etwas zuleide getan.

Sie versuchte den Eindruck zu erwecken, als könne sie keiner Fliege etwas antun, fährt der Beamte fort.

Die von ihr sicher gestellten Spuren in der Wohnung des Opfers erklärte sie mit der Begegnung am Vortage der Ermordung der Rentnerin. An diesem Tag sei sie mit Mann und Kindern zum Resteessen bei den Schwiegereltern gewesen und habe sich anschließend wegen Kopfschmerzen bei diesen hingelegt. Als sie später wieder aufstand, wäre ihr Mann bereits fort gewesen und da die Kinder noch bleiben wollten, verließ sie die Wohnung der Schwiegereltern allein. Im Treppenhaus sei sie dann Frau B. bei dem bereits geschilderten kleinen Sturz zu Hilfe gekommen.

Während der Vernehmung verfiel sie einige Male in Weinkrämpfe oder gab Verständigungsprobleme vor, um nicht reden zu müssen, obwohl sie die deutsche Sprache ansonsten gut verstand, berichtet der Zeuge.

Es ist die Verteidigerin, die ihn fragt, ob damals von Nasenbluten die Rede war.

Nein, kein Wort.

Für Alexander S., 56 Jahre alt, ist es sicher kein leichter Gang an diesem Tag. Er wusste von der Spielleidenschaft der Schwiegertochter und dass Eugen sich von seiner Frau trennen wollte. Er war dagegen, drängte den Sohn, wegen der Kinder die Ehe aufrecht zu erhalten.

Ich hätte das nicht zugelassen, sagt er vor Gericht.

Für einen Mann, der die Familie zusammenhalten wollte, der zweifellos stolz darauf war, dass man sich umeinander kümmerte, muss Schwiegertochter Tatjana eine echte Katastrophe gewesen sein.

Bei ihm habe sie kein Geld geliehen, allerdings bei seiner Frau, angeblich für Lebensmittel, sagt er aus.

Frau B. war für ihn wie eine Mutter, die Ersatz-Oma der Familie. Nachdem ihr Mann 2008 gestorben war, sei sie sehr niedergeschlagen gewesen. Er selber ist arbeitslos und half deshalb gern in seiner Eigenschaft als Hausmeister, wenn die Fernbedienung oder die Heizung nicht funktionierte, und einmal öffnete er die Wohnungstür, als sie sich ausgesperrt hatte.

Die Rentnerin wohnte im Erdgeschoss, er mit seiner Frau im ersten Stock - ein hellhöriges Haus mit insgesamt 4 Mietparteien. Doch war die alte Dame nicht überall beliebt. Andere Nachbarn ärgerten sich über sie, weil sie den Fernseher sehr laut stellte und, wann immer sie kam oder ging, die Haustür so heftig zuschlug, dass es nur so schmetterte. Im Hause war auch bekannt, dass sie die Wohnungstür offen stehen ließ, wenn sie im Keller oder auf dem Trockenboden unterwegs war.

Dass sie den Banken misstraute und regelmäßig in Begleitung einer der Töchter die Rente von der Postbank abholte, sei ihm nicht bekannt gewesen und folglich habe er auch mit seiner Schwiegertochter nicht darüber gesprochen, zudem sei es in Kasachstan völlig normal Ersparnisse zu Hause aufzubewahren, sagt der Zeuge. Zu den genauen Tagesabläufen, ob und wann Sohn und Schwiegertochter sich während der fraglichen Zeitperiode um das Weihnachtsfest herum bei ihm und Ehefrau Lydia aufhielten, kann er nur vage Angaben machen. An den Besuch vom 26.12. zum Mittagessen kann er sich nicht erinnern, vielleicht weil er nicht zu Hause war, aber am 27. rief ihn Tatjana an, er solle auf die Kinder aufpassen, da sie zum Arzt musste.

Obwohl er seine Aussage - unterstützt von der Dolmetscherin - mit ruhiger Stimme vorträgt und sich so kurz wie möglich fasst, steht dem untersetzten Mann im karierten Hemd das Unbehagen und die Bestürzung über die Ereignisse im Gesicht geschrieben. Er wirkt sichtlich erleichtert, als er die Prozedur der Befragung hinter sich hat.

Die nächste im Zeugenstand ist seine Schwester Anna F., 53 Jahre, die Katharina B. jedoch nur flüchtig kannte und auch nur vom Hörensagen wusste, dass Tatjana auch bei dieser einmal Geld geliehen hatte, 100 Euro, die sie später zurückbezahlte. Dann ist Ehefrau Lydia S., 58 Jahre, an der Reihe, die die Aussage verweigert, immerhin jedoch einer Verlesung des Protokolls ihrer früheren Vernehmung bei der Polizei zustimmt, was später geschehen soll. Ihr folgt Rosa B., 63 Jahre, eine Freundin Lydias, die bestätigt, dass die beiden Frauen am 26.12. telefonierten - wobei es nicht um den Inhalt ihres Gespräches geht, sondern darum, dass Lydia S. zwischendurch erwähnte, sie könne Frau B. von ihrem Fenster aus sehen -, eines der vielen Steinchen eines Mosaiks, die sich erst allmählich zum einem Ganzen zusammenfügen sollen.

Schließlich folgt die auch im Publikum mit besonderer Spannung erwartete Aussage von Eugen bzw. Jewenij S., dem 33-jährigen Noch-Ehemann der Angeklagten - von seinem Aussageverweigerungsrecht will er keinen Gebrauch machen.

Ein hübscher, schwarzhaariger Mann mit weichen, sinnlichen Zügen und einem kleinen Schnauzbart auf der Oberlippe betritt den Saal, ganz in schwarz gekleidet, der offene Hemdkragen lässt ein kleines Stück Ausblick auf ein schwarzes Unterhemd frei; erste Anzeichen von einsetzender Fülligkeit machen sich um die Taille herum breit. Beim Eintreten wechselt er einen Blick mit einer jungen Frau in der ersten Zuschauerreihe, eine unauffällige Erscheinung, die äußerlich nichts mit Tatjana S. gemeinsam hat, die ihm jedoch aufmunternd zulächelt und seiner Aussage anschließend mit einem Ausdruck fiebrigen Eifers auf dem Gesicht folgt.

Die Neue?

Lange wusste er nichts von der Spielleidenschaft seiner Frau, berichtet Eugen S., bis er eines Tages die unbezahlten Rechnungen fand.

Ich sie gefragt, wo ist das Geld, aber sie lügt, sie sagt, sie ist krank, keine Ahnung, erzählt er weiter.

Sie sagte ihm, sie hätte einen Autounfall gehabt, was natürlich gelogen war, eine der vielen Ausreden und Vorwände, die sie immer wieder benutzte. Erst allmählich kam er auch dahinter, dass sie nicht nur spielte sondern sich überall Geld lieh, um eine Art Doppelleben zu finanzieren.

Früher kannte ich das Wort „anpumpen“ nicht, sagt der Zeuge und lächelt mit einem Anflug von Galgenhumor, jetzt schon.

Sein Vater half ihm bei der Begleichung der Mietschulden, doch für das Auto und den Rest reichte es nicht, er meldete Privatinsolvenz an. Danach verwehrte er seiner Frau den Zugang zu seinem Konto, so dass sie bei der Geldbeschaffung jetzt ganz auf sich gestellt war.

Auch ihm steht das blanke Unverständnis über das, was mit seiner Frau vor sich ging, was aus der Ehe wurde, im Gesicht geschrieben, auch wenn er vor Gericht kaum offene Vorwürfe ausspricht. Es gab viel Streit, er litt unter ihren Heimlichkeiten, einem Gespinst von Lügen und Ausflüchten, aber lange hoffte er wegen der Kinder auf Besserung und dass sie zur Einsicht kommen würde.

Tatjana S. begleitet die Aussage ihres Mannes mit einer Mischung aus gequältem Blick und gerunzelter Stirn. Er meidet jeden Blick zu ihr hinüber, hält den Kopf leicht zur Seite in die entgegengesetzte Richtung geneigt, die Haltung eines Mannes, der sich den rätselhaften Capricen seiner Frau nicht gewachsen fühlte und sich guten Gewissens als das Opfer eines weiblichen Vampirs sieht, dessen Handlungen seinem Lebensentwurf diametral zuwider liefen und diesen konsequent torpedierten.

Man wundert sich, dass sie überhaupt so lange zusammen blieben, sie wirken wie zwei Fremde, die nicht in der gleichen Welt oder jedenfalls nicht in der gleichen Vorstellungswelt lebten. Vielleicht hat ihr beiderseitiges gutes Aussehen sie einmal erotisch und ästhetisch verbunden, vor und am Anfang der Ehe, ein schöner Mann mit einer strahlend jungen Frau an seiner Seite, doch von diesem Bindemittel ist nichts mehr übrig.

Schon ihn Kasachstan habe sie Schulden gemacht, die später ihre Eltern bezahlten, berichtet er.

Inzwischen ist der Scheidungsantrag gestellt, er hat eine neue Freundin, die aber nicht bei ihm lebt, er selber kümmert sich um die Kinder. Nein, er spricht nicht mit ihnen über die Mutter, aber Alina wisse auch so alles, sie ist zehn und kann lesen.

Dann geht es um den Ablauf der Weihnachtstage und um den alles entscheidenden Tag, an dem das Verbrechen geschah.

Dass sie den 24.12. gemeinsam mit den Kindern bei den Eltern verbrachten?

Stimmt.

Dass sie am 25. Bekannte in B. besuchten?

Stimmt.

Dass sie am 26. wieder alle gemeinsam bei seinen Eltern aßen, Tatjana sich anschließend hinlegte und er allein nach Hause ging.

Hört er zum ersten Mal. Nach seiner Erinnerung war man die ganze Zeit zusammen und trat gemeinsam den Heimweg an, als es bereits dunkelte. Allerdings, er trank eine halbe Flasche Wodka und war mittelmäßig betrunken - vielleicht hat er nicht alles wahrgenommen.

Dass Tatjana an diesem Tag Nasenbluten hatte?

Keine Erinnerung.

Dass Tatjana ihn am 27. anrief oder anzurufen versuchte, er solle nach Hause kommen, sie müsse zum Arzt wegen einer Verletzung an der Hand?

Weiß er nicht. Er besuchte einen Kumpel - eine recht feucht-fröhliche Angelegenheit. Bevor er gegen 16 Uhr von zu Hause aufbrach, schlief er, und als er zurück kam, war es bereits gegen 3 Uhr in der Nacht. Davon, dass sie sich in der Küche verletzte, hat er nichts mitbekommen. Erst am nächsten Tag sah er die verbundene Hand.

Immer wieder werden die Tage vom 24. bis zum 27.12. durchgegangen, bis sich die Erinnerung des Zeugen verwirrt.

Als er von seinem Vater vom Tod von Frau B. erfuhr, fragte er seine Frau: Warst du das?

Wie kamen Sie auf diese Frage?, will der Vorsitzende Richter wissen. Das sei doch schon etwas ungewöhnlich.

Der Zeuge zuckt die Achseln: Weiß nicht, einfach so ….

Es folgen die Angehörigen des Opfers.

Albert L., 55 Jahre alt, von Beruf Schlosser und Ehemann von Lilli L., sah seine Schwiegermutter am Morgen des 27.12.2011 zum letzten Mal. Sie fragte nach Pawel, ihrem Enkel, der über Weihnachten die Eltern besuchte, und ging wieder, als sie hörte, er sei gerade nicht da. Eine Einladung zum Essen schlug sie aus.

Der Anwalt der Nebenklägerinnen rückt seinen Stuhl dicht neben seine Mandantin, als Lilli L., 51 Jahre alt, als erste der beiden Töchter des Opfers auf dem Zeugenstuhl Platz nimmt. Für die zerbrechliche Gestalt im grau gemusterten Kostüm ist es zweifellos eine Stunde großer innerer Anspannung, der mutmaßlichen Mörderin ihrer Mutter so nahe zu sein, ihr Leugnen zu hören und mit der eigenen Aussage zur Verurteilung beitragen zu wollen.

Sie kam 1991 mit ihrem Mann aus Russland; die Mutter folgte gemeinsam mit dem Vater und der Schwester Alwina 4 Jahre später, sie arbeitet als Kommissioniererin. Von der Verstorbenen zeichnet sie das Bild einer sehr religiösen Frau, die regelmäßig in die Kirche ging und fast täglich des Grab ihres Mannes auf dem Friedhof besuchte. Dass diese die Familie seit jeher dominierte, damit hatten sich die Angehörigen längst abgefunden. Cola war ihr Lieblingsgetränk.

Lilli L. berichtet vom Alltag ihrer Mutter:

Trotz ihres hohen Alters kümmerte sie sich noch allein um den Haushalt, kochte Essen, machte Einkäufe und besorgte die Wäsche - nur mit Putzen und dem Einstellen der Waschmaschine haperte es, da halfen die Töchter aus.

An die Geschichte von der Begegnung im Hausflur, wie Tatjana S. sie schildert, vermag sie nicht zu glauben, da sie es schlicht für ausgeschlossen hält, dass ihre Mutter an den Feiertagen Wäsche wusch. Es sei ein alter, religiös fundierter Brauch zwischen Weihnachten und Neujahr nicht zu waschen, auch den angeblichen kleinen Unfall auf der Treppe erwähnte diese nicht.

Meistens ging die Mutter in Begleitung von Alwina zur Postbank, wo sie abhob, was von den 1.200 Euro Rente nach Abzug von Miete und Festkosten übrig blieb, also etwa die Hälfte. Was nicht für den Lebensunterhalt benötigt wurde, hortete sie in der Wohnung. Bis zu ihrem Tod wollte sie den Töchtern die Verstecke nicht verraten, dafür sei später noch Zeit, habe die Mutter einmal auf Nachfrage erklärt.

In der Wohnung trug Katharina B. stets Hausschuhe, ging sie aus, stellte sie in der kalten Jahreszeit die Heizung auf kleine Flamme, kam sie zurück, drehte sie gleich auf 25 Grad hoch, damit es möglichst schnell warm wurde. Als man die Tote fand, zeigte der Regler 20 Grad und sie trug Stiefel an den Füßen.

Die Zeugin kannte auch den Weihnachtsengel, mit dem laut Leichenbefund jemand auf die Mutter einschlug. Sie selber besaß ein identisches Exemplar, das sie der Polizei später zu Vergleichszwecken zur Verfügung stellte.

Auch Alwina F., 61 Jahre alt und beruflich als Produktionshelferin tätig, hält es für ausgeschlossen, dass die Mutter sich an den Weihnachtstagen mit Wäscheangelegenheiten beschäftigte. Sie berichtet, dass sie ebenfalls einen Schlüssel zu deren Wohnung besaß, diesen aber nach der Tat zunächst nicht finden konnte. Einige Tage später, nämlich Silvester, lag der Schlüssel dann plötzlich in ihrem Briefkasten, ein Rätsel, für das sie keine Erklärung weiß.

Schon früher, im letzten Jahr, sei einmal Geld und Schmuck aus der Wohnung der Mutter entwendet worden oder jedenfalls verschwunden, diese erstattete damals auch Anzeige, woraus sich jedoch nichts ergab.

Eine Spur, die ins Nichts führt, ein „red herring“, wie man im Krimigenre sagt, oder sollte Tatjana S. schon früher einmal in der Wohnung des Opfers gewesen sein?

Wie ihre Schwester beschreibt die Zeugin die Verstorbene als eigensinnige, fast eigenbrötlerische Frau, die ihre eigenen Entscheidungen traf, nicht vertrauensselig war, keine Fremden in die Wohnung ließ und die niemand so leicht einzuschüchtern vermochte.

Als nächste im Zeugenstand erscheinen der 26-jährige Postzusteller Matthias S., - seine offizielle Berufsbezeichnung lautet Fachkraft für Brief- und Frachtverkehr, sowie der 15-jährige Schüler Hendrik K., die beide am 27.12. jene Prospekte verteilten, die einen Tag später noch immer vor der Tür der Rentnerin lagen. Ihnen folgt Johannes bzw. Iwan S., ein 70-jähriger Nachbar aus dem gegenüber liegenden Haus, der sie am 27.12. noch am Fenster sah, als sie die Gardine zur Seite schob, so etwa um 9 Uhr morgens, berichtet der Zeuge.

Aber bei der polizeilichen Vernehmung habe er ausgesagt, es sei gegen 16 Uhr gewesen, als er gerade Müll wegbrachte, wird ihm vorgehalten.

Nein, sagt der Zeuge, das war nicht so, 9 Uhr, er weiß es genau …

Als letzte an diesem Tag wird Leina W., 56 Jahre alt, eine Schulfreundin von Alexander S., aufgerufen. Die beiden Familien sind seit vielen Jahren miteinander befreundet.

Ja, sie und ihr Mann wussten, dass Tatjana geld- und spielsüchtig war und klaute, bekennt die resolut wirkende Frau unverblümt.

Ein- oder zweimal hat sie Tatjana S. Geld geliehen, das sie auch, mit einiger Verzögerung, zurück bekam. Dann benötigte diese wieder Geld, angeblich wegen eines Kratzers am Auto. Die Zeugin gab ihr 150 Euro, die sie aus einem blauen Umschlag mit ihrem Haushaltsgeld nahm. Nur wenige Tage später bat Tatjana sie erneut um Geld, diesmal versuchte sie gleich 10.000 bis 15.000 Euro zu borgen und erklärte die hohe Summe mit einem Unfall, den ihr Bruder in Kasachstan gehabt hätte. Leina W. sagte ihr, dass sie über diesen Betrag nicht verfüge und sprach mit Eugen über die Geschichte. Der wiederum rief Tatjanas Mutter in Kasachstan an, die vor Schreck fast in Ohnmacht fiel. Leina W. verzichtete daraufhin Tatjana S. gegenüber auf die Rückgabe der geliehenen 150 Euro.

Doch diese Großzügigkeit sollte ihr nicht gut bekommen.

Denn in der Folgezeit fehlten mehrmals 50 Euro-Beträge aus der Geldbörse ihres Mannes und zwar immer nach Besuchen Tatjanas, während die Börse in einer Jacke steckte, die unbewacht an der Garderobe hing. Schließlich verschwand auch der blaue Umschlag einschließlich der 350 Euro, die sich darin befanden. Danach brach sie den Kontakt ab.

Sie habe Tatjana anfangs wegen des verschwundenen Geldes nicht verdächtigt, weil sie es nicht habe glauben können, sagt die Zeugin. Tatjana sei immer sehr nett gewesen und so gepflegt.

Der Vorsitzende Richter fragt die Angeklagte: Bekennen Sie sich zu den Diebstählen?

Diese blickt in Richtung der Zeugin und erwidert in gewohnt gequält-vorwurfsvoller Manier: Nein, sie war das nicht, und diese hätte mit ihr sprechen müssen statt mit anderen Leuten.

Am 27.12. sah die Zeugin die alte Frau, die sie flüchtig kannte, als diese sich gerade am Flaschencontainer in der Nähe ihrer Wohnung aufhielt, sie selber fuhr mit dem Fahrrad vorbei. Katharina B. sei ihr vor allem wegen der Farbe ihres Rockes ins Auge gefallen, ein grüner Rock, so grün wie die Farbe des Tannenbaums ...

Die Uhrzeit?

Es muss ca. 14 Uhr 15 gewesen sein.

Ja, sie weiß, sie hat bei der ersten Befragung durch die Polizei eine spätere Zeit angegeben, so gegen 16 Uhr, aber damals habe sie noch gar nicht richtig gewusst, worum es eigentlich ging. Es war so: Sie hat am 27.12. das Kind ihrer Tochter gehütet, das normalerweise zwischen 14 und 16 Uhr seinen Mittagsschlaf macht. Ihre Tochter kommt am frühen Nachmittag nach Hause und löst sie ab, allerdings nicht immer genau zur gleichen Zeit. Da ihr später wegen ihrer Aussage Bedenken kamen, hat sie ihre Tochter gebeten, die Stempelzeit zu prüfen, die beim Verlassen der Arbeitsstelle registriert wird. Ihre Tochter kam also an diesem Tag gegen 14 Uhr nach Hause und sie selber ist gleich danach zum Einkaufen aufgebrochen.

Die Psychologische Gutachterin fragt die Zeugin nach ihrem persönlichen Eindruck von Tatjana S.

Leina W. sagt, diese habe in ihr nur eine Geldquelle gesehen und sie fühle sich ausgenutzt. Seit Tatjanas Übersiedlung aus Kasachstan gebe es in der Familie keine Ruhe mehr. Sie sei aggressiv und immer auf Geldsuche gewesen, wollte nicht sparen, wollte nicht arbeiten, obwohl die Schwiegereltern auf die Kinder aufgepasst hätten, aber immer chice Frisur und immer chic angezogen. Und sie sprach schlecht von Eugen, ihrem Mann: Er ist ein Dummkopf, kann die Familie nicht mit Geld versorgen, zitiert sie die Angeklagte.

Es ist die Mentalität bescheidener Menschen, deren Leben von Arbeit und Pflichtgefühl geprägt ist, die aus der Zeugin spricht. Die Sehnsucht nach Glanz, Flitter und Glamour ist ihr fremd geblieben oder so tief vergraben, dass sie nicht mehr an die pragmatische Oberfläche dringt.

Der zweite Verhandlungstag neigt sich dem Ende entgegen. Zwei weitere Zeugen, die noch gehört werden sollten, haben sich mit ärztlichen Attesten entschuldigt, doch auch so ist um kurz nach halb vier alles erschöpft.

Bevor es hinausgeht, redet der Oberstaatsanwalt der Angeklagten noch einmal ins Gewissen. Sie solle nicht jetzt, aber später in der Zelle darüber nachdenken, ob es nicht besser wäre, endlich die Wahrheit zu sagen, legt er ihr nahe. Ihre Version von 26.12., die Geschichte von dem Wäschekorb, mit deren Hilfe sie ihre Spuren in der Wohnung des Opfers erklären will, könne nicht stimmen und müsse als widerlegt gelten. Und die Verletzung an der Hand habe sie sich am 27.12. nicht am Eisschrank sondern am Tatwerkzeug, dem zerbrochenen Weihnachtsengel, zugezogen. Er beschwört sie geradezu, sie werde einer Verurteilung nicht entgehen und womöglich werde er gar dafür plädieren, die besondere Schwere der Schuld feststellen zu lassen.

Tatjana S. lauscht ihm mit dem ihr eigenen regen Mienenspiel aus Bekümmerung und Verstörung, zerknüllt rastlos ein Taschentuch zwischen den Fingern und nickt hin und wieder leicht mit dem Kopf, als ob sie ihm zustimme, aber es folgt kein Wort, kein ja oder nein, das Klarheit schaffen würde. Jedes Augenpaar im Gerichtssaal beobachtet sie und wieder gelingt es ihr eine emotionale Bewegtheit zu erzeugen, fast so etwas wie ein widerstrebendes Mitleid zu wecken mit der schönen, jetzt so verzweifelten Kreatur, der goldene Vogel, der in der Falle sitzt und sich nicht mehr befreien kann. Vielleicht hofft sie auf ein Wunder ...

Von den Zuschauerbänken werden unterdrückte Ausrufe laut und es knistert vor Spannung, wie selten in diesem Raum. Ein Raunen geht durch die Reihen und setzt sich fort auf dem Gang, als Augenblicke später endlich alles aufatmend ins Freie strebt: Mein Gott, warum gesteht sie nicht endlich …

Fortsetzung folgt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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