Vor Gericht: Die zerstückelte Leiche (3)

Gericht Eine Ehe, die längst zerbrochen war, und ein Mann, der sich an die lebenslange Versorgung durch seine Frau klammerte. Fortsetzung im Fall Wladimir K. - 3. Tag

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Aus dem Hauch von Stoppeln ist inzwischen ein Gewächs entstanden, das trotz der blonden Farbe bereits gut sichtbar ist. Auf die Frage, ob Wladimir K. schon früher einen Bart trug, schnaubt die Besucherin neben mir verächtlich. Wie zum Zeichen ihres Unmuts zupft die stattliche Frau mit knallroten Fingernägeln ihr orange-farbiges Blouson zurecht und stemmt die Absätze ultra-spitzer Stiefeletten gegen den Fußboden. Auch sie gehört zum Kreis der Spätaussiedler, der Anna K.'s privates Umfeld bildete, und auch sie teilt das Leid der Angehörigen, die an diesem dritten Verhandlungstag ihre Aussagen machen.

Wie verhüllt in düstere Trauerkleidung kommt Margarita H. herein. Um den Kopf hat sie einen Chiffonschal mit schwarzen Ranken geschlungen und ein dunkler Plisseerock schwingt um die schwarz bestrumpften Beine, als sie sich dem Zeugenstuhl nähert. Ein wenig wirkt die 62-Jährige, die als Reinigungskraft arbeitet, als stamme sie aus einer anderen Zeit.

Am Samstag, den 21.4.2012, sah sie ihre Schwester zum letzten Mal. Gemeinsam bummelten die Frauen bis gegen 17 Uhr durch die Stadt, nicht ahnend, dass Annas Leben nur wenige Stunden später beendet sein würde. Gegen halb neun wählte sie noch einmal die Nummer der Schwester, doch es ging niemand ran.

Stattdessen rief am Sonntagabend ihr Schwager an.

Wo ist Anna?, fragte er ohne Einleitung.

Sie verstand nicht. Wie bitte?, fragte sie irritiert zurück.

Er berichtete von einer Auseinandersetzung, die sie gehabt hätten, dann habe Anna ihre Schlüssel genommen und sei gegangen.

Soll ich die Polizei rufen?, fragte er.

Sie hielt ihn davon ab.

Wie willst du das machen mit deinen Sprachkenntnissen, hielt sie ihm vor.

Möglicherweise lag ihr daran, sich selber darum zu kümmern, weil sie ihm nicht traute.

Margarita H. erkundigte sich zunächst im örtlichen Krankenhaus, rief dann die Polizei an, die die Vermisstenanzeige sofort aufnahm und zwei Beamte schickte. Diese versuchten, auch Wladimir K. zu erreichen, aber er meldete sich nicht. Später gab er vor, zu dieser Zeit seine Frau gesucht zu haben.

Am Montag wurde die Fahndung eingeleitet.

Am Dienstag informierte die Polizei Margarita H. telefonisch über den Fund von Teilen einer weiblichen Leiche, doch war die Tote zu diesem Zeitpunkt noch nicht identifiziert.

Am Mittwoch kamen dann Beamte persönlich vorbei und überbrachten die Gewissheit: Es war Anna.

Margarita H. kam im April 92 nach Deutschland, Anna folgte mit Wladimir im Mai 95, und da auch Bruder und Eltern inzwischen in Deutschland lebten, rückte die Familie wieder zusammen, nur gute 10 Minuten Fahrzeit mit dem Auto lebten die Schwestern voneinander entfernt.

Anna fühlte sich wohl und wollte nicht zurück, berichtet Margarita H. vor Gericht.

Was habe ich da noch, habe diese geantwortet, wenn man sie fragte.

Dass dies für Wladimir K. nicht galt, dass er gern zurückgekehrt wäre und wegen seiner Sprachprobleme auf Anna angewiesen war, passte dagegen nicht ins Bild.

War er beliebt? fragt der Vorsitzende Richter.

Ich will es mal so sagen, antwortet die Zeugin, wir haben ihn toleriert, meiner Schwester zuliebe.

Woran lag das?, fragt der Vorsitzende Richter weiter.

Seine Art gefiel uns nicht, es hat uns befremdet, wie er auftrat.

Warum?

Alles musste so gehen, wie er es wollte. Er pflegte keine Geselligkeit, bei Familienfeiern kam er nur zum Essen und Trinken, dann wollte er gehen und forderte seine Frau auf mitzukommen, sonst würde er alleine aufbrechen.

War von Trennung oder Scheidung die Rede?

Margarita H. schüttelt den Kopf: Kein Vogel beschmutzt sein eigenes Nest. Sie hat ihn in Schutz genommen.

Doch anscheinend teilte Anna nicht alle Geheimnisse mit ihr. Von seiner Affäre in Russland wusste sie nichts und auch seine letzte Reise erwähnte Anna ihr gegenüber mit keinem Wort. Dass er überhaupt abwesend gewesen war, erfuhr sie erst nach dem Tod der Schwester. Auch will sie nichts von Alkoholproblemen bemerkt haben.

Auf Familienfeiern trank er nur 1-2 Gläschen, schildert sie ihren Eindruck.

Dagegen berichtet sie, dass ihre Schwester über Gedächtnisausfälle ihres Mannes klagte und befürchtete, er könne Epileptiker sein.

Er tut was und am nächsten Tag weiß er nichts mehr davon, zitiert sie ihre Schwester. Sie hatte manchmal mehr Angst um ihn als vor ihm.

Es habe Anna viel Mühe gekostet, ihn zu einer ärztlichen Untersuchung zu überreden, berichtet die Zeugin weiter. Er wollte nicht, weil er die medizinischen Ausdrücke nicht verstand. Er sprach nur schwer deutsch, konnte aber das meiste verstehen, und privat wurde überall russisch gesprochen. Auch bei seiner einzigen Arbeitsstelle in Deutschland arbeitete er mit russischen Kollegen am Fließband zusammen, so dass er wenig Sprachkenntnisse benötigte. Zu allen offiziellen Terminen wurde er von Anna begleitet.

Wer traf die Entscheidung, nach Deutschland zu kommen?, ergreift der Verteidiger das Wort.

Meine Schwester.

Wäre Ihr Schwager nicht lieber in Russland geblieben?

Das weiß ich nicht, antwortet die Zeugin kühl.

Dabei will es der Verteidiger nicht bewenden lassen sondern liest ihr einen Auszug ihrer früheren Aussage aus dem Polizeiprotokoll vor:

Wladimir war uns nicht sympathisch. Er hatte so ein Machogehabe, obwohl er ein Feigling war und sich hinter ihr versteckt hat. Anna hat ihm eindeutig gesagt, dass sie nach Deutschland wolle, weil ihre Familie dort wäre, er könne in Russland bleiben.

Vera F., 56 Jahre alt und Hausfrau, kam etwa zu gleichen Zeit wie Anna K. nach Deutschland. Sie lernte diese während eines Sprachkurses kennen, woraus sich eine 17 Jahre währende Freundschaft entwickelte. Einen Tag vor ihrem Tod sahen sie sich zum letzten Mal.

Die beiden Frauen besprachen auch persönliche Dinge miteinander.

Er trinkt, das ist nicht gut für ihn, nicht für seine Gesundheit, nicht für seinen Kopf, vertraute Anna ihr an, so die Zeugin. Er redete dann sinnloses Zeug, alles durcheinander, und sein Gedächtnis machte Fehler, was sie selber erlebte. Obendrein war er grob - wenn sie ihn akzeptierte, dann nur Anna zuliebe.

Wie äußerten sich die Probleme mit dem Kopf?, fasst der Verteidiger nach.

Er konnte sich an Dinge nicht erinnern, redete blablabla, ich kann nicht erzählen was, ich bin kein Arzt, erwidert die Zeugin. Ein Spur von Gehässigkeit schwingt in ihrer Stimme mit.

Weil sie ihn nach Deutschland geholt hatte und er sich hier nicht wohl fühlte, habe Anna ein schlechtes Gewissen gehabt und und unter der Verantwortung für ihren Mann gelitten, fährt Vera F. fort. Dabei war das Leben in Deutschland auch für sie nicht leicht, sie arbeitete viel und kümmerte sich sehr um die alten Leute, die sie betreute, und dies nicht nur nach Plan. Oft fühlte sie sich erschöpft und im letzten Jahr nahm sie 10 Kilo ab.

Anna war vielleicht nicht glücklich in Deutschland, wollte aber nicht zurück. Hier hatte sie ihre Arbeit und hier hatte sie sich eingelebt, fasst die Zeugin ihren Eindruck zusammen.

Der Angeklagte rief sie am Sonntag zwischen 19 und 20 Uhr an, erzählte von einem Streit und fragte, ob sie etwas über Anna wisse. Diese sei gegangen und nicht mehr nach Hause gekommen. Als die Polizei kam, um Fragen wegen der Vermisstenanzeige zu stellen, zog man sie hinzu, um bei der Verständigung zu helfen. Er spielte allen den besorgten Ehemann vor und zählte die Kleidungsstücke auf, die Anna angeblich trug, als sie verschwand.

Wenn Sie meine Meinung hören wollen, er war ein Faulsack und feige, erklärt Vera F. mit Nachdruck.

Warum?, fragt der Verteidiger.

Wenn ein Mann mehrere Jahre von seiner Frau lebt, dann ist er faul.

Hat Anna auch so gedacht?

Ich glaube schon, bekräftigt die Zeugin.

Olga Sch., eine stark gelockte Blondine von 58 Jahren, kam 2003 mit ihrem Mann nach Deutschland. Während sie ihre Aussage macht, stehen ihr Tränen in den Augen und sie kann vor innerer Bewegung kaum sprechen. Ihre Freundschaft mit Anna K. reicht bis in die Kindheit zurück, schon in der 1. Klasse waren sie Schulkameradinnen. Heute ist sie in W. bei der Stadt angestellt.

Anna war die Beste in der Schule, hoch intelligent, eine sehr kluge Frau, wird die Verstorbene voller Anteilnahme beschrieben.

Auch Olga Sch. weiß zu berichten, dass der Kontakt zu Wladimir K. schwierig war und dies die Freundschaft mit Anna belastete. Er war stur und unfreundlich, beschreibt sie sein Verhalten. Rief sie an und er war am Telefon, fragte er barsch: Was willst du? Dies hat die Zeugin bis heute nicht vergessen.

Gab es auch Treffen zu viert?, will der Verteidiger wissen.

Ganz zu Anfang, als wir nach Deutschland kamen, haben wir ein- oder zweimal zusammen gekocht. Später gab es keine gemeinsamen Begegnungen mehr.

Wurde Alkohol getrunken?

Wir trinken zu Hause keinen Alkohol und haben auch keinen angeboten, da wir wussten, dass es in Wladimirs Familie Alkoholprobleme gab.

Bei ihrem letzten Treffen mit Anna habe diese geweint. Sie trauerte um ihren Vater, der im März verstorben war. Wladimir K. befand sich zu dieser Zeit noch in Russland.

In Gesprächen versuchte Anna immer über Probleme hinweg zu gehen, schildert die Zeugin ihren Eindruck. Immer sagte sie, es ist alles in Ordnung, wenn man sie fragte, wie es ihr ging. Immer war sie pünktlich und fleißig. Über Wladimir sprachen sie wenig, weil sie und auch Anna nicht verstanden, warum er nicht arbeitete.

Er fragte sie: Ist dir ein Stück Brot zu schade für mich?, berichtet Olga Sch. mit einem Anflug von Entrüstung. Anna erzählte davon, weil der Vorwurf sie kränkte. Sie hätte lieber gehabt, er wäre in Russland geblieben, aber er kam immer zurück und jedes Mal war es Stress für sie ohne Ende. Einmal wollte sie sich trennen, aber er überredete sie zu einem neuen Anfang.

Anna hat sich mit ihm gequält, weil er nicht gearbeitet hat, resümiert Olga Sch. Er hat sie ausgenutzt, und weil sie gern etwas für andere Leute tat, hat sie sich ausnutzen lassen.

Wissen Sie, ob sie ihm 30.000 Euro Ersparnisse für eine Wohnung in Russland gab, fragt der Vorsitzende Richter.

Nein, antwortet die Zeugin, davon wisse sie nichts, aber das Geld wurde in erster Linie von Anna erarbeitet.

Am Sonntag rief er dann an und fragte, ob Anna bei ihr wäre. Er erzählte von einem Streit und seiner Reise nach Russland. Er sagte, Anna wäre schon öfters weggelaufen, nach 2-3 Stunden Herumlaufen in der Stadt aber immer wieder zurückgekehrt.

Ca. 20-25 Minuten telefonierte die Zeugin mit ihm, weil sie sich große Sorgen machte und deshalb sehr aufgeregt war. Bis Montagnachmittag rief sie noch dreimal an, um zu erfahren, ob es Neuigkeiten gab. Dann erhielt sie die schreckliche Nachricht.

Auch Helena K., 59 Jahre alt, war eine langjährige Weggefährtin der Toten. Sie, Anna und Olga drückten gemeinsam die Schulbank und verloren sich nie aus den Augen. Es freute sie, dass man auch in Deutschland nahe beieinander wohnte und die alte Freundschaft fortsetzen konnte.

Das Verhältnis zwischen Anna und Wladimir K. beschreibt sie als Mutter-Kind-Beziehung. Für Anna war es ein sehr schmerzhaftes Thema, weil sie sich immer Kinder gewünscht hatte, so die Zeugin vor Gericht.

Die Ehekrise begann, als Wladimir K. 2002 seine Arbeitsstelle aufgab. Ein Vorarbeiter hatte ihn „russisches Schwein“ genannt, danach wollte er nicht mehr hingehen. Anna war zuerst damit einverstanden, dass er aufhörte, weil er Arbeitslosengeld bekam, doch es gefiel ihr nicht, dass er sich keine neue Arbeit suchte. Er gab vor, es liege an Sprachschwierigkeiten und daran, dass seine Frau häufig Konflikte für ihn schlichten musste.

Niemand gibt ihm Arbeit, wenn die Frau mitkommt und immer daneben sitzt, so seine Erklärung, berichtet die Zeugin.

Dagegen ist sie der Meinung, er verstehe Deutsch gar nicht so schlecht und müsse sich ausreichend verständigen können. Sie und Anna gaben seinem Nichtstun einen anderen Namen:

Er ist faul bis zum Geht-nicht-mehr. Das waren ihre Worte, sagt die Zeugin aus.

An dem Wochenende nach der Beerdigung von Annas Vater sah sie die Freundin zum letzten Mal. Bei dieser Gelegenheit sprach Anna mit ihr über Wladimirs endgültige Rückkehr nach Russland: Er hat sich entschieden, will zurück, sie war froh, dass er entschieden hat, dass sie endlich mal Ruhe hat, dass ihr Leben endlich in Ordnung kommt, fasst sie das Gespräch zusammen.

Auch über ein letztes Telefonat kurz vor Annas Tod berichtet sie: Es ging ihr blendend, weil er sich entschieden hatte.

Wissen Sie etwas über Geld, das er mitnahm oder von ihr bekam?, fragt der Vorsitzende Richter.

Ja, 30.000 Euro, bestätigt die Zeugin. Er sollte das Geld nehmen, damit er seine Ruhe hat. Fahr nach Russland und finde deine Ruhe, dann hab' ich auch meine Ruhe, habe Anna zu ihm gesagt.

Als er wegen Annas Verschwinden bei ihr anrief, war sie überrascht, dass er wieder da war. Noch größer war ihr Schock, als er erwähnte, die Polizei wäre bei ihm und durchsuche gerade die Mülltonnen.

Nach der Schwester und den Freundinnen des Opfers sind einige Nachbarn als Zeugen geladen. Man kannte sich wenig und viel ist es nicht, was sie über das Zusammenleben von Anna und Wladimir K. beisteuern können.

Das Ehepaar Ursula und Josef G. wohnte über Jahre mit ihnen auf der gleichen Etage. Im April 2012, als Anna starb, lösten sie gerade ihren dortigen Hausstand auf, da sie einen Umzug in die Nähe von Hildesheim vorbereiteten.

Ursula G., 62 Jahre alt, ist als Erste an der Reihe. Sie berichtet, dass es wenig Kontakt zu dem Paar in der Nachbarwohnung gab, man traf sich mal im Garten, doch wurde nichts Privates besprochen. Mit Anna, die tagsüber arbeitete, wechselte sie hin und wieder ein paar Worte, mit ihm so gut wie gar nicht, da er nur schlecht deutsch sprach.

Sie wisse, dass Anna ihrem Mann anbot einen zusätzlichen Sprachkurs zu bezahlen, erzählt die Zeugin, was er aber ablehnte.

Wladimir K. war kein angenehmer Nachbar und ist ihr in wenig erfreulicher Erinnerung geblieben, so die Zeugin weiter. Er telefonierte viel und sprach dann sehr laut russisch, was wegen der Hellhörigkeit des Hauses bis zu ihr herüber schallte. Zum Glück lagen die Küchen weit genug auseinander, so dass es sie nicht allzusehr störte. Obendrein stritt das Paar häufig und vor allem sein lautes Gebrüll war dann gut zu vernehmen. Einmal sprach sie Anna darauf an, die dann dafür sorgte, dass es ruhiger wurde.

Auch an ihr letztes Gespräch kann sie sich gut erinnern und worum es sich drehte: Anna erzählte, Wladimir hätte in Russland sein Auto kaputt gefahren, was hier keine Versicherung bezahlte, und wollte sich ein neues kaufen.

Die Zeugin sagte zu ihr: Ach hör mal. Das ist doch dein Geld.

Daraufhin Anna sinngemäß: Sie ist froh, wenn er weg ist. Er will, dass sie mitkommt, aber sie hat hier ihre Wohnung, ihre Arbeit, ihre Verwandten und will nicht weg. Aber er solle lieber in Russland bleiben.

Am Samstag, den 21. April 2012, kehrte sie mit ihrem Mann aus dem neuen Domizil zurück, um die Wohnung in W.-F. endgültig auszuräumen. An diesem Tag sahen sie Anna zum letzten Mal, als diese ihnen einen Wohnungsschlüssel zurückgab, den sie vorsorglich bei ihr deponiert hatten. Nach der Begegnung meinte ihr Mann, Anna habe verweint ausgesehen, berichtet die Zeugin.

Später am Samstagabend hörte sie zuerst einen heftigen Streit, bei dem sich Anna und Wladimir im Hausflur auf russisch anschrien. Zwischen Mitternacht und ein Uhr wurde sie dann durch ein lautes Klopfen geweckt, der Hund schlug an und lief zur Tür, weshalb sie sich etwas aufgeregt hätte.

Als ihr Mann früh morgens den Hund ausführte, fand er Blutflecken auf der Treppe, diese waren jedoch verschwunden, als er gegen halb zehn ein zweites Mal ging.

Sie sei gleich besorgt gewesen und habe gesagt, da wird doch nichts passiert sein, schließt die Zeugin ihren Bericht.

Josef G., 67 Jahre alt, arbeitete als Maurermeister, bevor er in Rente ging, zuletzt nur noch halbtags, als die Arbeit zu schwer wurde. Er bestätigt im Wesentlichen die Angaben seiner Frau und macht keinen Hehl daraus, wie wenig er Wladimir K. schätzte.

Er hatte kein Sozialverhalten, er sprach kein Deutsch, sonst möchte ich nichts darüber sagen, erklärt der Zeuge.

Auf Rückfrage erzählt er aber doch, dass der Angeklagte gewöhnlich mehrfach am Tag mit lauter Stimme telefonierte, so dass er es bis in die eigene Wohnung hören konnte. Ansonsten beschränkte sich der Kontakt auf gelegentliche Bemerkungen im Treppenhaus.

Dann kommt die Rede auf Anna K.

Sein Eindruck war, es ging ihr besser, wenn ihr Mann sich auf einer seiner häufigen Reisen nach Russland befand, so der Zeuge. Auch mit seiner Frau sprach sie darüber, dass sie froh wäre, wenn er in Russland bliebe, was diese bestätigen könne.

Am Montag, den 23. April 2012, sprach ihn Wladimir K. überraschend an und berichtete vom Verschwinden seiner Frau. Er sagte, sie wäre seit Samstagabend 20 Uhr vermisst, obwohl Ursula doch am späten Abend noch einen Streit zwischen ihnen hörte. Und ihm fiel auf, dass Wladimir K. plötzlich so einigermaßen deutsch sprach, viel besser jedenfalls als angenommen.

Ja richtig, der Zeuge bestätigt auch, ihm seien am Sonntagmorgen Blutspuren im Treppenhaus aufgefallen, nachdem ihn nachts ein Poltern auf dem Dachboden weckte. Der Hund schlug an und musste beruhigt werden, so wie seine Frau es berichtete.

Auch der Fahrlehrer Michael K. ist inzwischen mit seiner Familie umgezogen. Vier Jahre lebte der 41-Jährige im Erdgeschoss des Hauses, in dem das Ehepaar K. die Wohnung im 1. Stock innehatte. Über das Verhältnis weiß er kaum Gutes zu berichten, auch er spricht von lauten, unangenehmen Nachbarn, womit vor allem Wladimir K. gemeint ist. Anna K. nimmt er dagegen ausdrücklich aus, anscheinend wurde sie im Hause allgemein bedauert.

Vor allem ein Ereignis ist dem Zeugen besonders lebhaft in Erinnerung geblieben, da es für ihn einen absoluten Tiefpunkt der Beziehung darstellte. Und dieser war erreicht, als Wladimir K. eines Tages vom Balkon herab nach unten pinkelte.

Das kann's ja wohl nicht sein! Sie haben jetzt 10 Minuten Zeit das wegzumachen, habe er sofort nach oben gebrüllt, berichtet der Zeuge. Noch heute schwingt in seiner Stimme ein wenig von der Rage mit, die er damals empfand.

Daraufhin wurde ein Eimer Wasser nach unten gekippt, wahrscheinlich von ihr, glaubt der Zeuge, weil sie später kam und eine Schachtel Pralinen als Entschuldigung brachte.

Kann es ein, dass der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt nicht ganz nüchtern war, fragt der Verteidiger.

Wahrscheinlich schon, ich denke, das macht man nicht, wenn man nüchtern ist, antwortet der Zeuge.

Die letzte Zeugin ist Mina T., 50 Jahre alt, die als Raumpflegerin eine benachbarte Wohnung betreute, wo sie montags, mittwochs und freitags für einige Stunden putzte. Von dort sah oder hörte sie Wladimir K., wenn er rauchend auf dem Balkon stand, wenn er telefonierte oder mit seiner Frau stritt. Auch diese Zeugin beschreibt ihn als einen Zeitgenossen, der vor allem durch die Lautstärke seiner Stimme unangenehm auffiel. Gegrüßt habe er dagegen nie.

Bereits im September 2011, also ein halbes Jahr vor Annas Tod, überhörte sie eine heftige Auseinandersetzung, bei der es darum ging, dass er Geld von ihr wollte. Er drängte sie offenbar und sie bekam mit, wie Anna ihm fast triumphierend entgegen hielt:

Von mir kriegst du nichts mehr. Du warst da und konntest bleiben. Du kriegst nichts mehr ...

Sie verstehe russisch, was Wladimir K. vermutlich nicht wusste, betont die Zeugin.

Am Freitag, den 20. April 2012, also einen Tag vor Annas Tod, hielt sie sich wieder um die Mittagszeit an ihrem Arbeitsplatz auf. Auch an diesem Tag ging es laut zu in der Nachbarwohnung. Er sei vulgär geworden und habe seine Frau auf russisch als „Hure“ beschimpft, woraufhin diese nichts mehr erwiderte. Sie sah, dass Wladimir K. zum Rauchen auf dem Balkon hinaustrat, wobei er sehr unruhig wirkte. Dann ging er nach hinten, dann nach oben, also die Treppe hoch, worüber sich die Zeugin wunderte.

Dem steht entgegen, dass Wladimir K. erst am Samstag, einen Tag später, von seiner vergeblichen Reise nach Russland zurückkehrte. Daraufhin vom Verteidiger befragt, glaubt sich die Zeugin ihrer Sache dennoch ganz sicher zu sein.

Nach einer Pause geht es mit den psychologischen Gutachtern weiter.

Dr. Kristina K. führte an drei Tagen im August / September 2012 eine Exploration durch, an der sich auch der Psychiater Professor Norbert L. beteiligte. Die Gespräche fanden im Beisein einer Dolmetscherin statt.

Sie bescheinigt Wladimir K. zunächst einen überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten, was dem Eindruck widerspricht, er sei einfach eine Art „primitives Monster“ ohne Sinn und Verstand und seiner Frau nicht ebenbürtig gewesen.

Unter den Zuschauern löst dieser Befund denn auch Überraschung aus, eine fast ungnädige Überraschung, möchte man sagen, da Annas Freunde und Verwandte ihn verständlicherweise in ein möglichst düsteres Licht getaucht sehen möchten.

Dass er kaum Deutsch sprach, obwohl er sich seit 1995 in Deutschland aufhielt, sei kein intellektuelles sondern eher ein Motivationsproblem gewesen. Es bestand für ihn keine Notwendigkeit deutsch zu sprechen, da seine Frau alles für ihn regeln konnte. Die Psychologin erinnert daran, dass Wladimir K. einen überdurchschnittlich guten Schulabschluss erzielte und längere Zeit erfolgreich als Lehrer für Militärkunde arbeitete. An Talentlosigkeit allein kann es folglich nicht gelegen haben. Da er sich während der Sitzungen obendrein teils ohne Hilfe der Dolmetscherin verständigen konnte, ist ohnehin nicht ganz schlüssig, wie weit seine Sprachabstinenz wirklich ging.

In psychischer Hinsicht zeigte er weder Scham noch Reue, man könne von „emotionaler Unberührtkeit“ sprechen, so die Gutachterin, was auch dem Eindruck der Zeuginnen und Zeugen entspreche, die ihn als machohaft und unfreundlich beschrieben hätten. Selbst als er eine Beziehung zu einer anderen Frau unterhielt, griff er immer wieder auf die Unterstützung der Ehefrau zurück. Fragen, die diese betrafen, beantwortete er teils mit weitschweifigen Kommentaren. Und noch ein anderer Aspekt seines Verhaltens fiel ihr streckenweise als irritierend auf: Insgesamt hielt er wenig Blickkontakt, aber wenn, dann fixierte er sein Gegenüber mit einem Blick, der starr wirkte, da er kaum blinzelte.

Wie die bereits früher durchgeführte radiologische Untersuchung, erbrachte auch eine neue Tomografie keinen Befund. Es fanden sich keine Merkmale einer organischen Beeinträchtigung, noch ergaben sich aus ihrer Sicht Hinweise auf eine schwere psychische oder schwere Persönlichkeitsstörung, die sich strafrechtlich relevant auswirken könnten.

Abschließend weist Frau Dr. K. noch darauf hin, dass Wladimir K.'s Angaben über seinen Alkoholkonsum teilweise schwanken und er während der Untersuchungshaft an keinen Entzugserscheinungen litt. Es könne sich also evtl. um ein taktisches Argument handeln.

Als letzter Gutachter gibt Professor Norbert L., der am ersten Verhandlungstag bereits die Biografie des Angeklagten referierte, noch einmal Auskunft aus psychiatrischer Sicht. Er untersuchte ihn an zwei Tagen und setzt zunächst bei der Frage einer möglichen Bewusstseinsstörung durch Tabletten- oder Alkoholmissbrauch an. Sein Vortrag wird mit besonderer Spannung erwartet, da die Angehörigen kaum wünschen können, dass eine Einschränkung der Schuldfähigkeit Wladimir K. bei der Verurteilung zugute kommen könnte.

Der Angeklagte gebe vor, während der Hin- und Rückfahrt Amphetamine eingenommen zu haben, die er von Kumpels in Russland bekam. Diese sogenannten Analeptika hätten jedoch nur eine kurze Wirkzeit, also normalerweise von ca. 2 Stunden, seien hinsichtlich der Schuldfähigkeit demnach zu vernachlässigen, so der Befund des Psychiaters.

Der Angeklagte gebe außerdem an, er habe im Laufe des Tages bis zur Ausübung der Tat ca. einen halben Liter Likör der Marke Mümmelmann getrunken. Ein halber Liter klinge viel, doch angesichts der Statur des Angeklagten - 95 kg Körpergewicht - und der verstrichenen Zeit - Tatzeitpunkt ca. 20 Uhr - dürfte der Alkoholpegel im Blut bei max. 1,1 Promille gelegen haben, was für jemanden, der Alkohol gewohnt sei, keine wesentliche Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens bedeute.

Die Schilderung des Tatablaufs liefere keinen Hinweis auf das Vorliegen einer kognitiven oder einer Koordinationsstörung, noch sei eine Affekthaftigkeit des Tatgeschehens im Sinne einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung zu erkennen. Der Angeklagte hatte mit der Beziehung abgeschlossen und es bestand für ihn keine chronische Spannung, die sich in einem Ausbruch hätte entladen können. Auch das Muster einer Mutter-Kind-Beziehung empfand er als nicht so problematisch, jedenfalls wurde es nicht von ihm aus so beschrieben. Nach der Tat zeigte er keine Erschütterung sondern setzte sich vor das Fernsehgerät; auch später legte er ein eher besonnenes Verhalten an den Tag, indem er die Folgen seiner Alkoholisierung bedachte. Und nicht zuletzt lässt der Umgang mit der Leiche keinerlei Erschütterung erkennen.

Insgesamt spreche nichts für eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit, beendet Professor L. seinen knappen Bericht.

Damit ist es amtlich. Der Mann, der in Blut getaucht die Leiche seiner Frau zerstückelte und die Teile nicht gerade geschickt irgendwo zufällig in die Landschaft warf, weil er hoffte, dadurch zu verbergen, dass er sie in betrunkenem Zustand erstochen hatte, ist so normal, wie Menschen eben sein können.

Nach einem kurzen, abrupten Schweigen, in dem der eine oder andere den Abgründen der menschlichen Seele nachgehangen haben mochte, werden noch einige Fragen gestellt:

Der Angeklagte gibt als Tatzeit ca. 18 Uhr an. Die Zeugin Ursula G. will gegen 22 Uhr 30 noch einen Streit gehört haben, was bedeuten würde, das Opfer später starb als angenommen. Ergäbe sich daraus eine andere Bewertung?, fragt der Vorsitzende Richter.

Dieser Unterschied ist bei einem Alkohol gewöhnten Menschen nicht entscheidend.

Man kennt ja inzwischen den Begriff „Overkill“. Wie ist die psychiatrische Einordnung?

Die Erklärungen zum Zerteilen der Leiche sind nicht schlüssig. Bei einem Affekt wäre zuerst massiv zugestochen worden, dann vielleicht mehrfach rein raus. Hier hat man es eher mit einem Herumstochern in der Leiche zu tun, so als sollte der Tod des Opfers sichergestellt werden.

Was ist mit den von einigen Zeugen erwähnten „Ausfallerscheinungen“?, schaltet sich der Verteidiger ein.

Dafür gibt es keine Erklärung, nicht aus psychiatrischer Sicht. Es gibt keinen Zusammenhang zu früheren Unfällen und keine hirnorganischen Veränderungen. Eventuell handelt es sich um Alkohollücken oder um das Primärwesen des Angeklagten: Bei der Polizei sprach er von einer 8-Meter-Böschung, am Ende waren es nur 1,5 m.

Kann es sich um Epilepsie handeln?, fragt der Vorsitzende Richter.

Nein.

Gibt es eine Erklärung für den Mangel an Empathie?, forscht der Verteidiger weiter.

Nein, auch dafür gibt es keine Erklärung. Es gibt solche Menschen, denen fehlt das, das hat nicht unbedingt etwas mit seiner Frau zu tun. Man kann diskutieren, ob die Ursache genetisch oder sozial bedingt ist. Durch Therapie ist das nicht zu ändern.

Aber gibt es nicht eine Empathiesteuerung?

Das ist schwer zu beurteilen, das sind kulturelle Phänomene.

Dritter von insgesamt 5 Verhandlungstagen. Fortsetzung folgt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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