In Deutschland ist ein einziges Buch von ihm übersetzt worden. In Frankreich gehört er mittlerweile zu den einflussreichsten Stimmen der Intellektuellenszene. Dabei entspricht der pensionierte Philosophielehrer so gar nicht dem Habitus des mondänen Geistesarbeiters: Jean-Claude Michéa versteckt seine Glatze meistens unter einer schwarzen Mütze und trägt Baggyhosen, lebt auf einem Bauernhof im menschenleeren Département Landes und meidet Journalisten wie die Pest. Aber er mischt die Karten der politischen Theorie neu und ist im Wahljahr 2017 in aller Munde. Ein Feuilletonjournalist des Figaro sprach sogar von einer Generation Michéa und teilte die französische Jugend in drei Gruppen ein: die Dschihadismusanwärter, die rechten Verfechter der „Identität“ und die Fangemeinde des Philosophen.
Wer das Phänomen Michéa verstehen will, kann sich bei ehemaligen Schülern umhören. Eine erzählte in der Presse kürzlich von der Faszination, die der 1950 geborene Lehrer bei seiner Hörerschaft im Gymnasium von Montpellier auslöste. Wer rationalere Erklärungen bevorzugt, muss vor allem Notre ennemi, le capital („Unser Feind, das Kapital“) lesen. Das neue Buch des Philosophen, das gerade in Frankreich erschienen ist und bereits drei Mal neu gedruckt werden musste, ist eine Abrechnung mit dem Marktliberalismus – von der industriellen Revolution bis heute.
„Lauf langsamer, Kamerad“
Wie Marx es bereits begriffen hätte, setze das Gesetz der Akkumulation, das dem Kapitalismus zugrunde liege, eine Art permanente Flucht nach vorn, eine Religion des Wachstums voraus. Dem Kapitalismus wohne, sagt der Sohn eines Widerstandskämpfers und Mitglied der französischen kommunistischen Partei zwischen 1969 und 1976, eine „Notwendigkeit inne, die Verwertung des Kapitals bis ins Unendliche fortzuführen“. Nun neige sich der Kapitalismus seinem unausweichlichen Ende zu, prognostiziert Michéa. Er stoße an die Grenzen einer Moral, die das Leben in der Gemeinschaft dem „eiskalten Wasser der Berechnung“ vorziehe; an die Grenzen der Natur und schließlich an systemimmanente Grenzen. Dass demnächst eine gigantische Finanzblase platzt, ist für ihn selbstverständlich.
Dabei richtete sich Michéas Kritik nicht vorrangig gegen den Marktliberalismus, sondern gegen die „modernen Linken“, die sich in einem „moralischen, politischen und geistigen Bankrott“ befänden. „Links“ heißt für den Franzosen alles, was sich vom ursprünglichen Sozialismus – und dessen ehrenvollem Kampf – ein wenig entfernt habe. Die Rückkehr der französischen Arbeiterbewegung in den Schoß der Republik im 19. Jahrhundert und die Kompromisse der Sozialdemokratie mit der Macht gelten dabei als Fehlschritte, der Anarchist Pierre-Joseph Proudhon und Rosa Luxemburg als Vorbilder. Michéa empfindet für Realos und Reformisten aller Art nur Abscheu. Große Koalitionen nach dem deutschen Vorbild oder republikanische Bündnisse im Namen des Demokratieschutzes gegen die Rechtsextremen sind für ihn keine vertretbaren Lösungen.
Was der Franzose aber den Linken vor allem vorwirft, ist ihr naiver Fortschrittsglaube. Anstatt die marxistische Kritik der Moderne zu übernehmen, hätten sie in den Apfel der Aufklärung gebissen. Verblendet von ihrer Faszination für Technik und Menschenrechte hätten sie jedes Festhalten an Institutionen der Vergangenheit pauschal als „reaktionär“ abgestempelt. Ein Kardinalfehler, der für Michéa bis heute wirkt – in Form eines kulturellen Liberalismus, der nur die andere Seite der Kapitalismusmedaille sei. Ein bekannter Spruch der 68er Bewegung lautete: „Lauf schneller, Kamerad, die alte Welt ist hinter dir.“
Der Philosoph, der auf seinem Bauernhof mehrere Stunden Handarbeit am Tag leistet, schlägt eine neue Formel vor: „Lauf langsamer, Kamerad, die neue Welt – inklusive Erderwärmung, Goldman Sachs und Silicon Valley – steht vor dir.“
Für Michéa-Kenner sind diese Ansichten nicht neu. Notre ennemi, le capital stellt sich in eine Reihe früherer Werke wie Les mystères de la gauche. Darin hat George Orwell den Ehrenplatz: Der englische Schriftsteller, Beobachter des Arbeitermilieus und Kritiker der Sowjetunion zugleich, diente Michéa bereits in den 1990er Jahren als Inspirationsquelle – zu einer Zeit, als ein kleiner Verleger aus Montpellier seine Schriften entdeckte. Namen wie die des Schriftstellers Guy Debord, des Anthropologen Marcel Mauss oder des Historikers Christopher Lasch tauchen auch beim Philosophen immer wieder auf, wohlwollend integriert in Michéas Weltsicht.
Wer diese nicht teilt, wird nicht verschont. In einem Ton, der an persönliche Beleidigung grenzt, stichelt der Philosoph gern gegen „linke Soziologen“, Journalisten linksliberaler Medien oder Politiker aller Parteien. Sie würden sich gleichermaßen der Verachtung des Volks schuldig machen. Anstatt Antirassismuskampagnen zu organisieren oder die Rechte von Homosexuellen gesetzlich verankern zu wollen, sollte man sich vielmehr für den Erhalt beziehungsweise die Rückkehr zur common decency engagieren – eine Form des Zusammenlebens unter einfachen Menschen, die Orwell gepriesen hatte und bei der Hilfe und Solidarität im Alltag wichtiger sind als die Verfolgung des eigenen Interesses. In einprägsamen Formeln („Hayek = Foucault“) und verschachtelten Texten tut Michéa seinen ausgeprägten Kulturpessimismus kund. Demzufolge waren wir früher viel gebildeter, viel bodenständiger und viel glücklicher. Heute hingegen entspreche alles – von unserem entwurzelten Kosmopolitismus über die Zerstörung der Natur bis zu unseren Facebook-Freundschaften – der „atomisierenden Vorstellungswelt des Liberalismus“.
Pro Podemos
Solche Thesen sind für Rechtskonservative ein gefundenes Fressen. Alain de Benoist, Vordenker der Neuen Rechten, hat Michéa mehrfach Anerkennung gezollt. Junge katholische Intellektuelle, die 2013 gegen die Homoehe demonstriert hatten und im Zuge der Proteste kleine Kulturzeitschriften wie Limite oder Philitt gegründet haben, verehren ihn, bezeichnen sich gar selbst als Michéisten. Auch aus dem Front National kamen lobende Worte: 2012 verwies Marine Le Pen in einem Buch auf Michéas „stechende Argumente“.
Ehemalige Mitstreiter von links distanzieren sich derweil von dessen „Anarcho-Konservatismus“. Wer früher die erfrischende Denkweise eines „Ikonoklasten“ würdigte, der zur Neuentdeckung der politischen Schriften Orwells beigetragen hatte, warnt heute vor einem Rechtsruck in der intellektuellen Szene Frankreichs. Die Kritik der Aufklärung und des Fortschritts erinnert an manche Argumente der Frankfurter Schule: in den Pariser Salons ist sie aber hoch verdächtig. Vor allem Michéas Auffassung des Volks und seine antielitäre Pose gegen die Menschen „von oben“ sei typisch für „rotbraunes“, populistisches Gedankengut.
Michéa selbst bekennt sich zum Populismus – und verweist auf dessen Ursprünge bei russischen Bauern des 19. Jahrhunderts. Dass er so viel Unterstützung von rechts bekommt, scheint ihn kaum zu irritieren. Er würde sich „mehr Sorgen machen“, sagte Michéa in einem Interview mit der Zeitschrift Marianne, wenn seine „Kritik des kulturellen Liberalismus bei Laurence Parisot oder Pierre Gattaz“, den Vertretern des französischen Arbeitgeberverbands, ankomme. Marine Le Pen als Gefahr? Vor allem ein weiteres Zeichen für das Versagen der Linken. Donald Trump als großes Unheil? Eher ein Schreckgespenst, dessen Antisystemrhetorik sich bald als eine Täuschung entpuppen wird.
In der heute inflationären Auswahl der Weder-links-noch-rechts-Angebote bevorzugt Michéa die spanische Variante. Zumindest in ihren Anfängen habe die Podemos-Bewegung eine Allianz der „kleinen Leute“ gesucht, wie der Franzose sie sich erträumt. In Sachen Wirtschaft wünscht er sich eine radikale Abkehr vom Wachstumsfetischismus und die Einführung lokaler Währungen.
Wie auch immer man diese einzelnen Vorschläge einordnet, es gelingt dem französischen Intellektuellen, die üblichen ideologischen und politischen Kategorien zu verwischen. Das mag der Grund für seinen jetzigen Erfolg oder das Symptom einer Gesellschaft ohne Kompass sein, die auch im Bereich der Ideen zu vielen Grenzüberschreitungen bereit ist. Egal ob man dies erfreulich oder alarmierend findet, Michéa ist der Philosoph der Stunde.
Info
Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft Jean-Claude Michéa Matthes & Seitz 2014, 192 S., 19,90 €
Notre ennemi, le capital Jean-Claude Michéa Flammarion 2017, 320 S., 19 €
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