Am 25. April 1974, vor genau 30 Jahren, entschied sich das portugiesische Volk mit der "Nelkenrevolution" noch vor Spanien für die Demokratie und gegen den Faschismus. Portugal hatte in den 400 Jahren seiner imperialen Geschichte als Kolonialmacht nur zwischen 1910 und 1926 eine kurze republikanische Periode durchlaufen. Die fast 50 Jahre währende Diktatur des Estado Novo konzentrierte ihre ganze Energie stets darauf, den politischen Status quo im Lande selbst wie in den afrikanischen Kolonien aufrecht zu erhalten - damit wurde sie zusehends zum Anachronismus.
Während der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist Portugals linke Opposition, allen voran die Kommunistische Partei (PCP), zerschlagen oder in den Untergrund gedrängt. Diktator Antonio de Oliveira Salazar stützt sich mit dem autokratischen Estado Novo auf ein System der Korporationen - einen Stände- und Beamten-Staat, dessen Normen und Strukturen keinerlei freie politische oder gewerkschaftliche Aktivität außerhalb der offiziellen União Nacional erlauben. Der portugiesische Faschismus, das ist vor allem ein oligarchisches Bündnis mit dem Klerus, wie sich das in einem zutiefst katholischen Land anbietet, und den Eliten in Armee und Kolonialbürokratie. Außerhalb der Städte lebt eine in apolitischer Erstarrung und Unmündigkeit gehaltene Bevölkerung in fast mittelalterlicher Abgeschiedenheit ohne Medien und Infrastruktur - während die intellektuelle Opposition ins Exil vertrieben ist.
Ein portugiesisches Commonwealth
Erst in den späten fünfziger Jahren gibt es Anzeichen dafür, dass sich der Widerstand aus seinen Fesseln zu lösen beginnt und davon profitiert, dass Portugal in der Dekade vor der "Nelkenrevolution" von 1974 eine ebenso überforderte wie reizbare Kolonialmacht ist, die auf das Niveau eines "Schwellenlandes" abzusinken drohte. Nur denkt das Regime von Staatschef Marcello Caetano nicht daran, seinen Kolonien in Afrika den Rücken zu kehren, auch wenn große Teile der dort stationierten Streitkräfte schwer demoralisiert sind. Caetanos Sturheit nährt bis in die Generalität hinein die Furcht, Portugal werde als ausgeblutetes, verbrauchtes, in Westeuropa weithin isoliertes Landes an der Peripherie des Kontinents verkümmern. Anfang der siebziger Jahre fliehen Zehntausende potentieller Rekruten für die Kolonialarmee nach Frankreich oder Nordafrika, um sich dem vierjährigen Militärdienst in Angola, Mozambique oder Guinea-Bissão zu entziehen. Dort lässt sich die Unabhängigkeitsbewegung längst nicht mehr aufhalten. Guinea-Bissão und die Kapverdischen Inseln werden 1973 durch die UNO als souveräne Staaten anerkannt. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis Angola und Mozambique den gleichen Weg gehen.
Wie sehr es in der Kolonialarmee gärt, offenbart die Gründung des Movimento das Forças Armadas (MFA/Bewegung der Streitkräfte) in Guinea-Bissão, deren Ausläufer bald auf Angola, Mozambique und das Mutterland übergreifen. Dass damit der Anfang vom Ende der Diktatur eingeleitet ist, ahnt zunächst kaum jemand. Der MFA stößt auf Sympathie bis in die höchsten Militärkreise hinein. In der Person des Generals António de Spinola schließt sich auch eine Galionsfigur des konservativen Flügels der Armee dem Movimento an, in dem ansonsten linksorientierte Offiziere den Ton angeben, deren Einfluss in der Zeit unmittelbar nach der "Nelkenrevolution" erheblich sein wird.
Spinola paktiert aus taktischen Gründen mit dem MFA, um sich nach einem möglichen Kollaps der Caetano-Diktatur für das Amt des Staatschefs anzubieten und dafür Sorge zu tragen, dass es keine "übereilte" Dekolonisierung Angolas und Mozambiques gibt, sondern eine "Autonomie innerhalb einer föderativen Lösung" - ein "portugiesisches Commonwealth" gewissermaßen, um von der imperialen Vergangenheit zu retten, was noch zu retten ist. Spinola klammert sich in seltsamer Verblendung an die Chimäre eines kolonialen Erbes, das längst ein Anachronismus ist. Es gelingt ihm nach dem 25. April 1974 zunächst tatsächlich, für fünf Monate die portugiesische Präsidentschaft zu übernehmen. Der General muss zurücktreten (30. September), als ruchbar wird, dass er versucht hat, die "schweigende Mehrheit des Volkes" gegen die Offiziere des MFA um Premierminister Vasco Gonçalves in Stellung zu bringen.
Die Geschichte der "Nelkenrevolution" wäre jedoch unvollständig wiedergegeben, würde sich der Blick allein auf die Streitkräfte richten. Ohne ein Aufwachen und Erstarken von illegalen Aktionsgruppen und Parteien sowohl der kommunistischen Richtung (der PCP unter ihren Generalsekretär Alvaro Cunhal) wie auch der anarcho-syndikalistischen wäre der Befreiungsschlag vom April 1974 undenkbar gewesen. Der Aufschwung beginnt schon 1970 nach dem Tod Salazars, als Marcello Caetano, der von seiner politischen Statur her nicht die autokratische Vehemenz seines Vorgängers verkörpert, zu erkennen gibt, den Estado Novo keineswegs aufgeben zu wollen. Es kommt zu selbstbewussten Aktionen der Opposition, zur Gründung der illegalen Gewerkschaft Intersindical, zu Streiks, zur Sabotage gegen Kriegschiffe, bis hin zur Zerstörung von militärischem Gerät, das für die Kolonialgebiete bestimmt ist - Attentate gegen Agenten der Geheimpolizei PIDE häufen sich. Eine explosive Lage, in der spürbar wird, dass sie zum Sturz der Diktatur führen kann, sobald die Armee den Gehorsam verweigert.
Grândola vila morena
Der 24. April 1974 ist für die Portugiesen ein Tag wie jeder andere. Es gibt keine Anzeichen für außergewöhnliche Ereignisse. Leser der Lissabonner Abendzeitungen müssen schon sehr genau hinsehen, um eine sonderbare Notiz zu bemerken, die auf ein hörenswertes Abendprogramm im Rundfunk verweist.
Kurz nach Mitternacht, gegen 0.30 Uhr, strahlt der Sender Radio Renascença das verbotene Volkslied von José Afonso "Grândola vila morena" aus - das Signal für den MFA und die von ihm geführte Widerstandsbewegung, den Sturz des Regimes einzuleiten. Ein Regiment nahe Lissabon rückt aus, weitere Einheiten in Lamego, Tomar, Mafra, Vendas Novas und Santarém folgen - kurz nach drei Uhr morgens sind strategische Punkte der Hauptstadt, inklusive der Radiosender und eines Teils Ministerien, besetzt. Am frühen Morgen lässt der MFA sein erstes Kommuniqué verlesen, mit dem die Bevölkerung aufgefordert wird, Ruhe zu bewahren. Regierungstreue Einheiten sollen in den Kasernen bleiben, was nicht durchweg befolgt wird. Kurz darauf folgt eine weitere Erklärung: "Unnötiges Blutvergießen wird schwer bestraft", heißt es darin, direkt an die regimetreuen Befehlshaber gerichtet. Zu diesem Zeitpunkt sind die Offiziere und Soldaten des Movimento noch nicht in dem Maße Herr der Lage war, wie das in den ersten Kommuniqués behauptet wird. Am Vormittag des 25. April 1974 haben sich Hunderte Gefolgsleute Caetanos in öffentlichen Gebäuden und etlichen Kasernen verbarrikadiert. Es folgen langwierige Kapitulationsverhandlungen, der Nervenkrieg nimmt kein Ende, aber von Stunde zu Stunde hat der MFA die Lage besser unter Kontrolle. Flüchtende Minister werden gefangen gesetzt, weitere Einheiten schließen sich dem Aufstand an. Gegen Mittag verlassen Zehntausende ihre Häuser und strömen auf die Straßen - es folgt ein letztes Ultimatum des MFA an den Staatschef.
Gegen 16.00 Uhr endlich erklärt Marcello Caetano seinen Rücktritt. Danach kommt es auf Freudendemonstrationen zu jener Geste, die dieser Revolution ihren Namen gegeben wird - "A baixo o fascismo!", "Viva a liberdade!" rufen die Menschen, während sie den Militärs rote Nelken in die Gewehrläufe stecken.
Revolution und Restauration
Portugal 1974 - 1976
25. April 1974 - Sturz von Diktator Caetano durch die Erhebung eines Teils der Armee unter Führung des MFA.
29. April 1974 - der Vorsitzende der Sozialistischen Partei (PS), Mario Soares, kehrt aus dem Exil zurück - PCP-Generalsekretär Alvaro Cunhal kommt nach zwölf Jahren Zuchthaus frei. PS und PCP vereinbaren eine begrenzte Kooperation, um die Demokratie zu verteidigen.
15. Mai 1974 - General Spinola wird 20 Tage nach dem Sturz von Diktator Caetano als neuer Präsident vereidigt. Er unterstützt zwar Verstaatlichungen und eine Bodenreform, widersetzt sich aber dem Vorhaben des vom MFA gebildeten Revolutionsrates, Mozambique und Angola möglichst schnell in die Unabhängigkeit zu entlassen.
12. Juli 1974 - der Revolutionsrat bildet das Kontinentale Operationskommando (COPCON), um den "revolutionären Prozess" zu koordinieren und eine Rückkehr des Faschismus zu verhindern. Das Kommando übernimmt mit Brigadegeneral Otelo de Carvalho einer der militärischen Führer der "Nelkenrevolution", der zugleich Befehlshaber der Militärregion Lissabon wird und auf einen sozialistischen Weg Portugals drängt.
30. September 1974 - Rücktritt von General Spinola nach Differenzen mit dem MFA über den politischen Kurs.
11. März 1975 - Rechtsgerichtete Offiziere putschen gegen die Regierung von Premier Vasco Gonçalves (MFA) - ein Staatsstreich, in den auch António de Spinola verwickelt ist. Der General wird daraufhin aus der Armee verstoßen und geht ins brasilianische Exil.
April/Mai 1975 - Mario Soares (PS) setzt sich gegen den wachsenden Einfluss linker Militärs wie des Premiers Gonçalves und der Kommunisten auf die portugiesische Politik ein. Eine volksdemokratisch-sozialistische Entwicklung lehnt Soares mit dem Hinweis auf Portugals NATO-Mitgliedschaft ab.
25. April 1975 - bei den Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung werden die Sozialisten mit 38 Prozent stärkste Kraft, die PCP erreichte 13 Prozent.
30. August 1975 - das Kabinett Gonçalves wird durch die Regierung unter Admiral Azevedo abgelöst.
25. November 1975 - Putschversuch linker Offiziere, an dem auch General Carvalho beteiligt ist. Danach werden die MFA-Kader zusehends entmachtet und - unter dem Vorwand einer "Wiederherstellung der militärischen Disziplin" - die Streitkräfte in die Kasernen zurückgedrängt. Die bürgerliche Restauration der am 25. April 1974 eingeleiteten Veränderungen hat begonnen.
27. Juni 1976 - mit dem Sieg des von den Sozialisten (PS), Christdemokraten (PPD) und vom Christlichen-Sozialen Zentrum (CDS) unterstützten General Eanes bei der Präsidentschaftswahl setzt sich endgültig das bürgerlich-reformistische Lager der "Nelkenrevolution" durch.
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