Die Stunde der Prinzessin

Kehrseite I Nachdem er sich das Haupt geschoren hatte, bereute er es. Er sah nun, was ihm alle vorausgesagt hatten: die Form seines Kopfes war nicht schön, und ...

Nachdem er sich das Haupt geschoren hatte, bereute er es. Er sah nun, was ihm alle vorausgesagt hatten: die Form seines Kopfes war nicht schön, und er sah sehr jung aus ohne Haar, wie ein großes Baby mit hellblonden Bartstoppeln. Auch fand er seinen Mund jetzt viel zu weich, viel zu mädchenhaft.

Aber die Mädchen liebten seinen Mund.

Er überlegte, sich einen Bart wachsen zu lassen. Aber das erschien ihm wie eine Flucht aus der Entscheidung, sich das Haupt zu scheren, eine Inkonsequenz. Er wollte nicht zugeben, einen Fehler gemacht zu haben.

Er ging sich eine Mütze kaufen.

Er kam zurück mit einer tibetischen Mütze aus rotem und grünem Samt, über und über mit Perlen bestickt. Die Mütze hatte an vier Ecken spitze Auswüchse, von denen schwarze Quaste herabhingen, die wie Zweige von Trauerweiden seine Schultern streiften. Seine Mutter fragte, ob er sich denn unbedingt zum Gespött machen müsse. Seine Mitschüler lachten einige Tage lang. Er hielt stand. Auch wollte er die Mütze während des Unterrichts nicht absetzen.

Er war neugierig, kontaktbedürftig, auch einsam. Er sprach gern von sich. Ihm war es ein Rätsel, wie er ist.

Wenn er klingelte und ich öffnete die Tür, so trat er einige Schritte zurück und wiegte lächelnd seinen Kopf und einer der vier Trauerquaste baumelte vor seinem Gesicht. Er war nicht verlegen, sondern ironisch, um nicht verlegen zu sein.

Ob sie da sei?

Ja.

Ich rufe ihren Namen.

Nun wird nach einigen Augenblicken des Innehaltens und einer schon fast unmenschlichen Beherrschung eine Tür aufgerissen. Eine wunderschöne Prinzessin erscheint und wirft mir einen Blick zu, der besagt, ich möge mich auf der Stelle verflüchtigen. Und ich mache, dass ich wegkomme.

Denn die Stunde der Prinzessin ist angebrochen.

Seine Stimme ist ein reiner Gegensatz zu ihm: ein vertrauenerweckender patriarchischer Bass, der eher einem dickbäuchigen vollbärtigen Seemann entspräche. Sie wandert ohne Mühe durch die Wand in mein Ohr und lässt die Buchstaben der Wörter in dem Buch, das ich gerade lese, erschauern. Seine Stimme ist etwas so von Grund auf anderes als sein Milchgesicht, sein weicher Mund.

Die Mütze bleibt auf dem Kopf.

Wenn du willst, sagt er, setz ich sie ab.

Ich bewundere deinen Mut, sagt die Prinzessin, das traut sich keiner.

Das ist kein Mut, sagt er, das ist nur Trotz.

Sein Bass brummt weich und wird zu einem fließenden Gemurmel, aus dem hier und da ein Lacher der Prinzessin herausgluckst.

Am Anfang ist sie verlegen. Da sind ihre Lacher so angestrengt, dass es mich schmerzt. Gierte sie jetzt nicht nach Übereinstimmung. Doch später, zum Glück, werden die Lacher hell und kommen aus voller Kehle, aus echten Überraschungen und unerwarteten Wendungen. Aus den Aberwitzigkeiten, die sie lieben und sich erzählen, aus ihrem Einvernehmen, das sie nun heraufbeschwören, das kraft eines Wollens besteht, das sich nun gegenseitig multipliziert und ausweitet in ein Hingerissensein, das die ganze Welt verzaubert.

Das kann man nicht jeden Tag haben.

Ist er fort, klingt und schwingt er noch einige Tage durch die Wohnung, und alles ist gut. Aber dann kommen die Niederungen. Der Nachhall wird Missklang. Prinzessin fängt an zu strampeln, hängt fest, braust auf und bisweilen bohren ihre blanken Augen finstre Löcher in die Luft.

O gebt dem Kinde was zu fassen mit der Hand!

Manchmal hatte sie ihn verlassen. Da kam er nicht. Nie wäre er gekommen im Zeichen der Verlassenheit, dem Verwiesensein aus der Welt, das er mit Stolz erwiderte. Aber die Prinzessin sprach nicht, wenn sie ihn verließ. Wie auch? Wenn er da war, wollte sie ihn doch nicht verlassen. Sie verließ ihn nur, wenn er nicht da war: Soll er sehen, was er davon hat!

Da kam er nicht. Er ließ sich nicht erpressen.

Und sie wartete.

Doch dann vergaß sie ihn, denn sie war ja noch keine Frau, die ihr Leben an einen Mann hängt. Sie war noch klein genug, um dem Leben immer neue Dinge abzuringen, Dinge wie farbige Glasperlen, bunte Bauklötze, Pappen und Papiere, Kleber, Knöpfe, falsches Haar und Lumpenfetzen, kleine Zuchtanstalten für Plastikfiguren, die nach ihrer Pfeife tanzten. Dinge, die ihn nicht betrafen, die nicht mit Sehnsuchtsstoff behaftet waren.

Er war ja schon viel festgefahrener.

Dann, zwischendurch und beiläufig, dachte sie sanft: Eigentlich müsste er mal wieder hereinschauen! Das war der richtige Tonfall. Der richtige Zeitpunkt. Ein Strahl schoss von ihr zu ihm, dem er nicht entkam. Es keimte in ihm etwas auf. Er kämpfte damit: Diese Kleine!

Er gab sich noch einige Tage Zeit, in denen ihre Geduld schon wieder in Zorn umschlagen konnte, manchmal bis in die Abgründe der Leere und Gleichgültigkeit hineinreichte, zu wehmütigen Abschiedsgedichten trieb, die sie schnell zerriss. Oder zu nervenzerfetzenden Improvisationen auf dem Klavier, man gefiel sich auch und genoss die Zerrissenheit aus Wut und Liebe.

Dann kam er.

Unser Gehäuse war einer seiner festen Häfen. Ein Schiff muss hin und wann anlegen. Das Meer ist schön, doch immer Meer ist nicht mehr schön.

Sie hatten erbarmungslose Urteile über die Welt, sie bildeten ein einzigartiges Strafgericht, wer alles in ihren Augen seinen armen Kopf verwirkt und zu sterben hatte wegen bodenloser Dummheit, wegen himmelschreiend abstoßenden Wesens, wegen unerträglicher Hässlichkeit und unzumutbarer Eigenart.

Ich war froh, dass Jugend nicht die Macht hat. Ich war froh, dass Jugend entmündigt ist. Dass man erst nach vielen Schmerzen und langen Irrtümern einen Mund kriegt, es hat seinen Sinn. Ihr Geist war kantig, hart und ungeschmeidig. Kein Geist eigentlich, sondern eine Unleidlichkeit.

Am wenigsten konnten sie Menschen leiden. Recht gut kamen Hunde weg und die beiden Wellensittiche der Prinzessin.

Und alles beruhte auf Sorglosigkeit und Unwissenheit, auf dem, was ich der Prinzessin nicht aufbürdete.

Die Lacher werden seltener und hören dann ganz auf. Der Motor seiner Brummstimme geht leiser und leiser. Es wird ruhig und dann ist es ganz still. Ein Geheimnis liegt in der Luft. Ein Rascheln wie in der Vorweihnachtszeit. Es wird Wacht gehalten über der Stille. Wenn Kinder nicht mehr zu hören sind, machen sie Dummheiten. Ich schlafe ein.

Ich schlief immer gut, wenn er da war.

In tiefer Nacht klappt die Tür.

Wo bin ich? Hab ich geträumt?

Ich rufe: Kinder, die Tür ist zu!

Was ist?

Die gestrenge Stimme der Prinzessin.

Nichts, schon gut. Ich hab geträumt.

Jetzt ärgert sich die Prinzessin.

Ich höre noch, wie er unten sein Fahrrad losschließt und dann wuchtig in die Pedale tritt. Er braust davon. Wieviel Kräfte übriggeblieben sind.

Die Prinzessin kann mit niemandem in einem Bett schlafen. Es ist ihr zu eng, zu warm. Also, die Prinzessin will auch schnell wieder allein sein.

Claudia Kleinschmidt, geboren 1952, lebt in Berlin, ist Philosophin und freischaffende Autorin. Den Text entnahm sie ihrem Manuskript Carlottas Welt.


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