„Wer kennt Haitis Geschichte?“

Im Gespräch Yanick Lahens ist eine der bekanntesten Autorinnen Haitis. Ein Gespräch über ihr neues Buch, das Erdbeben und die Wahl des Sängers Michel Martelly zum Präsidenten

Der Freitag: Ist Ihr Buch der Versuch, sich schützend vor Haiti zu stellen?

Yanick Lahens: Das Buch ist zweierlei: Zum einen die Schilderung persönlicher Erlebnisse und zum anderen eine allgemeinere politische Analyse. Darin richtet es sich nicht nur an die westliche Öffentlichkeit, sondern auch und nicht zuletzt an die Haitianer selbst. Es geht aber nicht nur um das Beben und die Politik, sondern auch um Fragen des Schreibens. Darum richtet sich das Buch auch an Schriftsteller.

Was war der Ausgangspunkt des Buches?

In den ersten Tagen dachte ich: Schreiben? Warum schreiben? Ich hatte genug zu tun mit dem Überleben meiner Familie und den Menschen in meinem Haus. Es war nicht klar, wie lange Wasser da sein würde, es war nicht klar, wo wir hingehen würden – meine ganze Energie war aufs Überleben konzentriert. Nach dieser ersten Phase konnte ich wieder hinaus­gehen und meine Aufmerksamkeit auf andere Dinge richten. Ich begann, Notizen zu machen, auf Zetteln, noch ganz unsortiert. Und dann rief mich recht bald meine Verlegerin aus Frankreich an und bat um einen Artikel für die Tageszeitung Libération. Ich schrieb diesen Artikel, der am 19. Januar erschien, und machte weiter meine Notizen, jeden Tag.

Wie haben Sie einen Ton gefunden für diesen Artikel und dann später für den Roman?

Es war mir sehr wichtig, die Stereotypen, die die Leute beim Thema Haiti immer erwarten, zu ver­meiden. Ich wollte gerade nicht exotisieren, das Elend nicht übertreiben. Ich verstehe mich andererseits auch nicht als Aktivistin. Wenn ich schreibe, denke ich zunächst an Menschen, die mir nahe sind. Ich freue mich natürlich, wenn ich auch viele andere Menschen erreiche.

Was den Ton angeht: Ich wollte dem Pathos nicht zu viel Raum geben. Die erste Zeit nach dem Beben war es sehr still in Port-au-Prince. Mir schien, als ob nur Stille darauf antworten könne. Es stellt sich ohnehin die Frage nach der angemessenen Reaktion. Wenn du einen Menschen aus deiner Familie verlierst, dann weinst du noch viel, aber wenn es fünf sind? Ich schreibe manches, was sehr grausam ist, aber es gibt eine Distanz, die ich ebenfalls wollte. Ich habe den Schreibprozess dann ganz bewusst für drei Monate unterbrochen, es war mir wichtig, dass da ein Abstand entsteht.

Sie schreiben: „Die Katastrophe hat unsere Erinnerungen mit sich genommen“. Heißt das, dass an der Stelle der kollektiven Erinnerung jetzt eine Leerstelle entstanden ist?

Das schreibe ich im ersten Kapitel; das gibt auf jeden Fall meinen ersten Eindruck wieder. Du fährst durch eine dir lange vertraute Stadt, und nach dem Erdbeben sind all die Dinge, die du kennst, plötzlich einfach nicht mehr da. Sicher, Dinge verändern sich immer, aber das hier war sehr brachial, sehr brutal. Ein entscheidendes Erlebnis war, als ich eines Tages an dem Haus vorbeifuhr, das ich beim Gedanken an die Geschichte immer vor mir gesehen hatte. Von einem Tag auf den anderen existierte es nicht mehr. Das war der Moment, in dem ich wollte, dass die Geschichte weitergeht. Für mich war das Buch ein Versuch, die Sachen wenigstens auf dem Papier wieder zusammenzufügen, nicht zuletzt für die Nachwelt.

Hat sich das Verhalten des Auslands zu Haiti durch das Beben verändert?

Ich hatte erst Hoffnung, aber eigentlich hat sich an der Logik der internationalen Hilfe wenig ge­ändert. Es ist eine Logik, die beide Seiten pervertiert: die Geber wie die Empfänger. Bis zu 85 Prozent der Hilfsgelder aus dem Ausland bleiben in der Verwaltung stecken. Und das Geld, das ins Land kommt, führt dazu, dass hier die Preise steigen: Die Miete in dem Stadtteil, in dem ich lebe, ist um das Vier­fache in die Höhe gegangen. Die ­Mitarbeiter der NGOs mieten Autos, und wenn es nicht genug ­Autos in Haiti gibt, mieten sie Autos in der Dominikanischen Republik. Es ist eine Art Industrie – mehr als alles andere. Ich sage nicht, dass wir keine Hilfe brauchen, ich sage nicht, dass alle NGOs diesem Bild entsprechen. Aber ich denke schon, dass das ganze System grundsätzlich neu überdacht werden muss.

Hat die Erfahrung der letzten 14 Monate Ihre eigene Beziehung zu Haiti verändert?

Sie hat mich eher bestärkt in meiner Überzeugung, dass wir eine fantastische Überlebens­fähigkeit besitzen. Nicht im Sinne von Ausdauer – Ausdauer klingt, als gäbe es da ein haitianisches Gen. Es ist komplexer. Die meisten von uns sind in Schwierigkeiten und im Elend geboren. So ist eine Kultur des Umgangs mit dem Elend entstanden. Es gibt aber auch eine Kehrseite: Das ist der über­mäßige Argwohn. Die Haitianer vertrauen niemandem: der Re­gierung nicht, den NGOs nicht, niemandem. Eine wichtige Frage in meinem Buch ist: Kann man so wirklich weitermachen? Ohne Vertrauen? Ich denke, es muss sich etwas ändern, und ich denke, wir brauchen eine politische Führung, die aktiv ist und die die eigenständige Aktivität im Land unterstützt.

Es wird oft gesagt: So viel Geld ist nach Haiti geflossen und nichts hat sich verändert.

Das Bild, das als Stereotyp existiert, ist doch: Niemand ist kompetent, alle sind korrupt. Aber wie hat Haiti vor dem Erdbeben überlebt, wenn niemand kompetent ist, wenn alle korrupt sind? Haiti stand in seiner Geschichte ja keineswegs im Abseits der Moderne. Aber wer kennt eigentlich Haitis Geschichte seit dem 19. Jahrhundert? Niemand. Dass es Elektrizität gab, lange bevor sie viele andere Orte der Welt erreichte; dass Haiti von Jacmel aus Handelsbeziehungen unterhielt, sehr starke Handels­beziehungen sogar: Niemand weiß das. Man kann den Eindruck haben, es gehe vielen nur darum zu zeigen, dass ein Land der black people nichts aus eigener Kraft schaffen kann.

Es gibt Fälle wie Kanada, das einerseits Geld gibt, andererseits gut ausgebildete Haitianer nach Kanada lockt, damit die dort arbeiten und „ein besseres Leben“ als in ihrer Heimat haben können. Ich kann da natürlich keinen guten Rat geben. Vielleicht hilft der Blick von außen, der so möglich wird, auch der Entwicklung im Land.

Stimmt der Eindruck, dass sich die Dinge in Haiti vor dem Erdbeben zum Besseren entwickelt hatten?

Für mich hat es seit 2004 definitiv einen Fortschritt für Haiti gegeben. In der Zeit unter Duvalier und Aristide gab es kein Parlament, jetzt gibt es eines. Das ist ein Fortschritt. Es gab Wahlen, zugegeben: zu viele Wahlen, die viel Geld gekostet haben, aber doch Wahlen auf der Grundlage einer Verfassung, das ist ein großer Fortschritt. 2009 stieg die landwirtschaftliche Produktion um 25 Prozent. Ein Fortschritt. Der nächste große Industrie-Park wird nicht wieder in Port-au-Prince entstehen, sondern im Norden, auch das ist ein Fortschritt.

Wie schätzen Sie die Wahl des Sängers Michel Martelly zum neuen Präsidenten ein? Stellt sie eine Absage an die professionellen Politiker dar?

Es hat viel mit der Zusammen­setzung der Bevölkerung zu tun: 75 Prozent sind jünger als 23 Jahre. Die wollen Arbeit, sie wollen ihre Miete bezahlen können, sie wollen zur Universität gehen und: Ja, sie sind sehr skeptisch gegenüber politischen Parteien. Sie räumen bereitwillig ein: „Ja, er ist ein Sänger, er hat keine Ahnung, aber lieber er als ihr.“ Man darf dabei aber auch nicht übersehen, dass nur 26 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben haben.

Wie waren die ersten Reaktionen in Haiti auf Ihr Buch?

Es wurde sehr gut aufgenommen. Man muss natürlich berück­sichtigen, dass es die gibt, die lesen und schreiben können, und die, die es eben nicht können. Wir versuchen jetzt eine haitianische Edition des Buches zu erstellen, die viermal weniger kostet als ein Buch, das in Frankreich verlegt wird. Ich begegne Menschen, die mich im Radio sprechen gehört haben – und sich erst einmal bedanken. Dafür, dass ich versuche, die Dinge beim Namen zu nennen, aber nicht in einer aggressiven Art und Weise.

Wie sehen Sie die nähere Zukunft?

Ich habe Zutrauen in die Haitianer. Natürlich, viele müssen sich jeden Morgen fragen: Wie überlebe ich den Tag, wie kann ich das Essen für mich und die Kinder bezahlen? Das frisst unglaublich viel Energie. Und trotzdem herrscht keine passive Atmosphäre, es ist ein sehr dynamisches Land. Die ständigen Fragen „Wie mache ich es?“, „Wie schaffe ich es?“. Das ist ein sehr schwieriges Leben. Und doch: Gerade unter denen, die nichts haben, herrscht eine unendliche Solidarität.

Das Gespräch führte Claudia Krieg. Sie hat in der Freitag-Community das Blog c.krieg

Und plötzlich tut sich der Boden auf Yanick Lahens Rotpunktverlag Zürich 2011, 160 S., 18,50

Yanick Lahens wurde 1953 in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince geboren. In Paris studierte sie an der Sorbonne Literaturwissenschaft. Danach kehrte sie nach Haiti zurück und war Gründungsmitglied der haitianischen Schriftstellervereinigung. Lahens ist Moderatorin der Radiosendung Entre Nous und schreibt regelmäßig für Kulturzeitschriften Haitis und der Antillen. Ihren ersten Roman Dans la maison du père veröffentlichte sie im Jahr 2000, er liegt in deutscher Übersetzung seit 2004 unter dem Titel Tanz der Ahnen vor

Zum Buch Am 12. Januar 2010 erschüttert ein gewaltiges Erdbeben den karibischen Inselstaat Haiti. Innerhalb von wenigen Sekunden werden das Land und seine Infrastruktur komplett zerstört, 500.000 der neun Millionen Einwohner Haitis kommen bei der Katastrophe ums Leben. Yanick Lahens, haitianische Publizistin und Schriftstellerin, schildert in ihrem neuen Buch Und plötzlich tut sich der Boden auf (der französische Originaltitel lautet Failles Verwerfungen), wie sie das Beben und die Monate danach erlebt hat. Lahens Buch ist eine Sammlung sehr persönlicher Eindrücke und zugleich eine scharfe postkolonialistische Analyse. Es richtet sich gegen das vor allem westliche Stereotyp, das Haiti nur als ein von Korruption und Inkompetenz geprägtes Land sieht, dessen Existenz durch ausländische Hilfsorganisationen aufrecht erhalten wird. CK

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