Mobilität für Europas Profit

Doppelmoral Der Umbruch im Maghreb hat die Angst vor Flüchtlingen verstärkt. Doch ihre Migration ist erzwungen und nützt nicht nur Afrikas, sondern vor allem auch Europas Wirtschaft

Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok will in Libyen „Leben retten“, aber nicht mit „offenen Grenzen“. Weil „jetzt nicht die Zeit für Wirtschaftsflüchtlinge“ sei, diskutiert die Union lieber eine Verschärfung des Ausländerrechts. Die französische Rechtsauslegerin Marine Le Pen besucht Lampedusa und spricht vom „Migrationsloch Europas“. Italien hindert Boote mit libyschen Flüchtlingen, seine Gewässer zu befahren. Trotz des nordafrikanischen Massenexodus’ bleibt in Europa in Sachen Asylpolitik alles beim alten: Die Angst vor dem „afrikanischen Wirtschaftsflüchtling“ lässt sich unter jedem Vorzeichen neu modellieren. Dahinter steht eine europäische Migrationspolitik, die hauptverantwortlich für die – erzwungene – Migration aus Afrika ist. Diese Widersprüchlichkeit offenbart sich in den europäischen Ländern selbst.

In Europa leben derzeit nach offiziellen Angaben rund 4,6 Millionen Afrikaner, der Großteil kommt aus dem Maghreb. Nur etwa 300.000 davon wohnen in Deutschland. Migranten aus dem sub-saharischen Afrika leben überwiegend in Frankreich und England, in Deutschland sind es bis zu 200.000. Die meisten sind da, weil sie gebraucht werden – von der EU, aber auch von Afrika. „Es sind die Migranten in Europa, die die afrikanischen Länder am Leben erhalten“, sagte Alassane Dicko von der Assoziation der Abgeschobenen Malis (AME) auf dem Weltsozialforum im Februar in Dakar. Er hat Recht: In einigen Ländern Afrikas fallen die staatlich erfassten Rücküberweisungen von Migranten höher aus als die ausländischen Direktinvestitionen oder die Entwicklungshilfe.

Alles Gute aus Europa

Freihandel und Liberalisierung – seit den frühen achtziger Jahren kauft sich die EU mit Macht in die entscheidenden Wirtschaftsbereiche Afrikas ein: Fischerei, Baumwolle, Fleischproduktion. Die lokalen Märkte sind in desolatem Zustand, die Existenz der ländlichen Kleinbauern ist größtenteils zerstört. Die Hälfte der knapp einen Milliarde Menschen in Afrika lebt in bitterer Armut, 20 Millionen von ihnen sind auf der Flucht. Afrika hat ein Drittel seiner Akademiker durch Abwanderung in die Industrieländer verloren.

Zehntausende machen sich als Hoffnungsträger ihrer Familien auf den Weg nach Europa – mehr als zehn Prozent kommen dabei ums Leben, etwa zehn Prozent erreichen vielleicht Europa, aber selten ihr eigentliches Ziel. Und der Rest kehrt nicht etwa zurück, sondern lässt sich aus Gründen der Scham in anderen afrikanischen Ländern ausbeuten. Die Destabilisierung ist komplett.

Profitiert wird davon in ganz Europa, ob in der Pflege, der Gastronomie oder der Landwirtschaft. Ein Blick zurück: Mit der Industrialisierung der landwirtschaftlichen Produktion in Europa verringerte sich der Anteil der bäuerlichen Betriebe. Der Bedarf an Arbeitskräften sank, die innerfamiliäre Arbeitskraftmaschinerie zerbrach an der – gleichermaßen als Chance und Notwendigkeit daherkommenden – Landflucht. In den Städten warteten besser bezahlte Jobs und die Befreiung von der ländlichen Isolation. Die Abwanderung in die nichtlandwirtschaftlichen Sektoren beförderte das Verschwinden der bäuerlichen Höfe. Als ab den siebziger Jahren die Getreidepreise fielen, fingen viele Landwirte an umzusatteln – auf Gemüse- und Sonderkulturen wie Erdbeeren und Spargel, deren ganzjähriger Anbau und Genuss plötzlich möglich wurde: mithilfe von Düngemittelchemie, neuen Bewässerungsmethoden, mit der Technisierung der Produktion in Form von High-Tech-Gewächshäusern und riesigen Hallen oder kilometerlangen Tunneln aus Plastik. Aber wer sollte darin arbeiten, wenn es das ländliche Proletariat und die hofeigene Arbeitskraft nicht mehr gab? Um die personellen Löcher aufzufüllen, wurde in den siebziger Jahren damit begonnen, Arbeitsmigranten aus osteuropäischen und nordafrikanischen Ländern anzuwerben.

Moderne „Fremdarbeiter“

Am Beispiel Südspanien lassen sich die Entwicklungen der letzten 20, 30 Jahre besonders gut illustrieren. Dort waren es vor allem kleinere bis mittlere Betriebe, die mit neuen Formen landwirtschaftlicher Produktion experimentierten. Im südspanischen Huelva, dass seit dieser Zeit für industriellen Erdbeeranbau steht, stieg nicht zuletzt durch den Überschuss an billigen migrantischen Arbeitskräften die Produktion enorm: von 6.500 Tonnen zu Beginn auf fast 350.000 Tonnen im Jahr 2004. Im industriellen Gemüseanbau in den Niederlanden, Italien, Frankreich und Deutschland, der den Großteil der landwirtschaftlichen Produktion ausmacht, sind die Zahlen ähnlich. Lukrativ wurde das Geschäft aber erst, als Tomaten und Paprika aus den „Gemüsegärten Europas“ zu Schleuderpreisen in Europas Supermärkten verkauft werden konnten.

Dafür mussten die Lohnkosten gesenkt werden – mit einheimischen Arbeitern war das nicht zu gewährleisten. „In der andalusischen Region Almeria arbeiten bis zu 150.000 migrantische Arbeiter, vor allem aus dem Maghreb und Westafrika“, sagt Dieter Behr vom Europäischen BürgerInnenforum (EBF). Beliebig eingestellt und wieder entlassen, müssen sie nach Bedarf zur Verfügung stehen – „in Rufweite des Patrons“. „Die massive Ausbeutung in diesem Sektor ist nur durch hyper-mafiöse und gewalttätige Strukturen aufrechtzuerhalten“, so Behr.

Die europäische Politik kreiert eine reguläre, nämlich kontrollier- und steuerbare Migration, der eine irreguläre, unkontrollierbare, „falsche“ gegenüber steht. Ein Spannungsfeld: Agrar-Verbände fordern hohe Kontingente an Arbeitskräften und gleichzeitig dominiert rechtspopulistische Einwanderungsabwehr den Migrationsdiskurs. Aus diesem Konflikt gehen rechtliche Sonderformen hervor, wie der Erntehelfer-Status in Frankreich oder die so genannten Herkunftsverträge in Spanien. In Zusammenarbeit mit Behörden entstehen bilaterale Anwerbeprogramme mit Kriterienkatalogen, die zeigen, wie ungezwungen die europäische Migrationspolitik Menschen ohne EU-Zugehörigkeit in Prekarität und soziale Unsicherheit zwingt. Im Licht der ökonomischen Rationalität erscheint so als Qualifikation, was in der Erfolgsgeschichte des Kapitalismus nicht wegzudenken ist: Nur wer dem Einwanderungsland zu Profit verhilft, darf sich – für einen kurzen Moment – frei bewegen.

Lesen Sie dazu auch Ein Leben im "Legal Limbo", ein Interview mit Hein de Haas, der am International Migration Institute (IMI) in Oxford zu den Verbindungen von Migration und weltweiten Entwicklungsprozessen forscht.

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