Volkes Stimmbruch

Sozialneid Die Debatte um die Leistungssätze für Asylbewerber hat Hass, Missgunst und Verachtung hervorgebracht. Selbst der „Bild“ war das zuviel

In der deutschen Presse herrschte nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der vorigen Woche seltene Einigkeit: Die Anhebung der Leistungssätze für Asylbewerber von 225 auf das Hartz-IV-Niveau von 336 Euro wurde überall begrüßt. In den Berichten war zudem von der Lagerunterbringung und dem Gutscheinsystem die Rede, um zu zeigen, welche „Entmündigung“ (Süddeutsche Zeitung) seit je in den sogenannten Asylbewerberleistungsgesetzen steckt.

Auch wenn das Urteil kein Ende der menschenunwürdigen Lage bedeutet, in der sich Asylbewerber hierzulande befinden – ein kleiner Schritt in diese Richtung ist es. Und sollte also ein Grund zur Freude sein für eine demokratisch verfasste Gesellschaft.

Sollte. Denn übertönt wurde das Loblied auf Verfassung und Menschenwürde vom Gezeter der öffentlichen Meinung. Der „gebührliche Volkszorn“, wie es die Flüchtlingsinitiative „The Voice“ nennt, richtete sich nach dem Urteil umgehend gegen diejenigen, denen es offiziell zu „mehr Menschenwürde“ verhelfen will.

Unter einem, wie man in diesem Fall bemerken muss, nahezu sachlichen Text auf bild.de zogen die Leserkommentatoren hasserfüllt, verachtend, ja mordlüstern blank. Nach kurzer Zeit war das selbst Springers Administratoren zuviel: Der Kommentarstrang wurde gelöscht, die Diskussion abgeschaltet.

Irrationaler Sozialneid

Wer bild.de für kein repräsentatives Beispiel hält, um die kalte deutsche Missgunst in Bezug auf Flüchtlinge zu illustrieren, kann sich die User-Kommentare fast jedes anderen Mediums zum Urteil zu Gemüte führen (auch solche, die auf freitag.de gepostet wurden). Was sich allerdings in der abgeschalteten bild.de-Diskussion so deutlich wie nirgends sonst gezeigt hat, ist das hetzerische Potenzial, das in den Formulierungen eines völlig irrationalen Sozialneids liegt. Was muss alles abgeschaltet sein an gewöhnlichem Respekt im Umgang miteinander, an geringstem Einfühlungsvermögen oder winzigster Solidarität, um Leuten, die ihre Heimat nicht freiwillig verlassen haben, damit sie in deutschen Lagern zum Nichtstun verdammt werden, noch das karge Hartz-IV-Niveau nicht zu gönnen?

Die schrille Empörung über die „Wirtschaftsflüchtlinge“ hat sicher mit den Frustrationen der gegenwärtigen Krisenpolitik zu tun: Bei den 130 Millionen Euro, die für die Anhebung der Sätze aufgewendet werden müssen, stellt sich die europäische Melkkuh, als die sich Deutsche gegenwärtig empfinden, auf die Hinterbeine – auch weil es so leicht und wichtig zu sein scheint, sich von den Ärmsten der Gesellschaft abzugrenzen.

Die unbarmherzige Drastik gegenüber „den Ausländern“ ist aber auch Folge des öffentlichen Redens und Ignorierens. Als in Leipzig kürzlich nach langer Debatte die Verlegung von 200 Flüchtlingen aus einem verschimmelten Heim in dezentrale Unterbringungen im Stadtgebiet durchgesetzt wurde, wehrten sich an elf von zwölf der vorgesehenen Orte die Anwohner umgehend. Mitleid für die Nächsten liegt ferner als jedes Gefühl für Tsunami-Opfer in Asien.

Vor diesem Hintergrund ist es fast deprimierend zu vermelden, dass in die Asylrechtsdebatte Bewegung kommt: Die EU hat Deutschland eine Verkürzung des Arbeitsverbots für Asylbewerber von zwölf auf neun Monate abgetrotzt. Das empörte Volk wird darin vermutlich einen Dammbruch sehen.

Es ist aber nur ein kleiner Schritt.

Claudia Krieg ist Soziologin, Journalistin und bloggt auf freitag.de unter c.krieg

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