Polen ist in die Schlagzeilen geraten: Die polnische Außen- und Sicherheitspolitik wirft bei den "alten Europäern" Fragen auf. Wo will der größte der Beitrittskandidaten eigentlich hin? Ins gemeinsame Europa oder doch in die Arme der Vereinigten Staaten von Amerika? Dass Regierungen in Zusammensetzung und Haltung nicht unbedingt abbilden, was Bevölkerungen denken, ist bekannt. In Sachen Irak-Intervention klafften in Polen - anders als in unserem Land - die Haltungen auseinander. Welche kulturellen Verwerfungslinien sich zwischen dem "alten" und "neuen" Europa noch auftun werden, zeigt der Blick auf die politischen Diskussionen in Polen.
Das Land steht kurz vor dem Referendum. Anfang Juni ist es soweit. Zwar wird noch etwas gezittert, ob die notwendige Wahlbeteiligung erreicht werden wird. Doch alle Umfragen deuten auf eine Zustimmung der Bevölkerung mit großer Mehrheit hin. Derweil hat die polnische Regierung mit der Europäischen Union einen Beitrittsvertrag verhandelt. Dieses Abkommen enthält auch Kurioses. Einen Passus nämlich, der spezifische Vorstellungen von polnischer Souveränität in Sachen "Kultur und Moral" fasst. Dies mag im ersten Moment für all die, die gern die berühmte Formel von der "Vielfalt in der Gemeinsamkeit" propagieren, interessant klingen. Doch erschöpft sich Kultur und Moral hier lediglich in bestimmten Feldern des gesellschaftlichen Seins und überdies mit wenig emanzipativer Grundhaltung.
Die polnischen "Moralsätze" enthalten Ausführungen über die Regeln des sozialen Lebens, die Würde der Ehe und Familie, die Erziehung von Kindern und den Schutz des Lebens. Am 10. April 2003 stimmte das Parlament einer Resolution auf dieser Grundlage zu. Diese hat zwar keinen Rechtscharakter, hält aber fest, dass sich Polen in Hinblick auf die genannten Bereiche keinen internationalen Regulierungen verpflichtet sieht. Und das obwohl die auf der 4. UN-Weltfrauenkonferenz in Peking verabschiedete Aktionsplattform, in der unter anderem die reproduktiven Rechte der Frauen hervorgehoben werden, derweil auch von Polen unterschrieben wurde. VertreterInnen von Nicht-Regierungsorganisationen sprechen von einem Deal. Der Passus mit den "Moralsätzen" sei auf Druck der katholischen Kirche zustande gekommen. Im Gegenzug habe diese ihre Unterstützung für den Beitritt gewährt.
Das Amt der polnischen Regierungsbeauftragten für die Gleichstellung von Frauen und Männern war an der Ausarbeitung der "Moralgrundsätze" nicht beteiligt. Die Leiterin der außenpolitischen Abteilung, Lidia Goldberg, erwartet deshalb eine "heiße Debatte" über das umstrittene Papier und insbesondere das Abtreibungsthema in der polnischen Öffentlichkeit. Einen Vorgeschmack auf diesen Streit bot kürzlich ihre Chefin Izabela Jaruga-Nowacka. Sie konterte in einer Parlamentsdebatte, als ein konservativer Abgeordneter ein Arbeitsverbot für Homosexuelle forderte, schlagfertig mit der Rückfrage, ob der geschätzte Kollege vielleicht eine Staatsrente für Homosexuelle einzuführen gedenke. Eine Wander-Ausstellung, derzeit in Danzig zu sehen, sorgt für entsprechende Aufmerksamkeit. Auf großflächigen Plakatbildern werden im Rahmen der Kampania Przeciw Homofobii (Kampagne gegen Homophobie) Fotografien von homosexuellen und lesbischen Paaren gezeigt, die - Hand in Hand - die BetrachterInnen anstrahlen. Aus Angst vor rechtsradikalen Übergriffen verzichteten die MacherInnen auf eine öffentliche Vernissage. Homosexualität öffentlich zu zeigen ist nicht ohne Risiko. So wird berichtet, dass die Warschauer Polizei zwei sich auf der Straße küssende Männer vorübergehend festnahm.
Ein anderes empfindliches Thema betrifft die Abtreibungsgesetzgebung, die bislang in Polen ähnlich restriktiv gefasst ist wie in Irland oder Malta. Wurde von der Linksregierung noch in Vorwahlzeiten eine Liberalisierung versprochen, hat sie die Reform nun auf die Zeit nach dem Referendum verschoben, ohne sich dabei konkret festzulegen. Offizielle Stellen sprechen von ein paar hundert Abtreibungen jährlich. Die inoffiziellen Zahlen sollen bei einigen Hunderttausenden liegen. Betroffene Frauen und behandelnde ÄrztInnen wollen sich dazu bislang allerdings nicht öffentlich äußern. Der Druck auf dem Arbeitsmarkt ist immens und die Zahl der weiblichen Arbeitslosen groß. Nicht selten verlangen Arbeitgeber präzise Auskünfte von Bewerberinnen über ihre Lebens- und Familienplanung. Gleichzeitig ist der Zugang zu bestimmten Verhütungsmitteln erschwert und fehlt eine Sexualaufklärung in den Schulen. Polnische Feministinnen jedenfalls sind phantasievoll und in Sachen Bewusstmachung neben der öffentlichen Rede durchaus aktionsorientiert. Kürzlich etwa überklebten sie Plakate, die Frauen in aufreizenden Posen zeigen und die das polnische Straßenbild beherrschen, partiell mit männlichen Geschlechtsteilen. Das sprach für sich. Die Darstellung von Frauen und Frauenkörpern in der Öffentlichkeit ist eben auch eine kulturelle Frage.
Noch ist unklar, welche Bedeutung die polnischen "Moralgrundsätze" in der Realpolitik haben werden. Die Regierungsbeauftragte für die Gleichstellung Izabela Jaruga-Nowacka sieht sie nicht als bindende Rechtsgrundlage. Zudem seien die Formulierungen so schwammig, dass man sich alles und nichts darunter vorstellen könne. Polnische Feministinnen sind da alarmierter. In ihren Augen hat die Linksregierung dem konservativen Druck nachgegeben und damit auch die Hoffnungen eingeschränkt, dass der EU-Beitritt den emanzipativ-gesellschaftlichen Fortschritt in Polen befördern könnte. Sie finden folglich die Europäische Union solle ihren Druck auf Polen verstärken und an der Stelle "nationale Besonderheiten" nicht nachgeben.
Insgesamt bleibt abzuwarten, wie all dies mit den allgemeinen EU-Richtlinien korrespondiert. Unmittelbar sanktionieren kann die EU freilich nur dort, wo Gesetze vorliegen, die mit der Rechtssprechung der Union im Konflikt stehen. Ein Gesetz zur Legalisierung außerehelicher und homosexueller Partnerschaften existiert in Polen zwar als Entwurf, scheint aber auf Eis gelegt zu sein.
Die Gerichte dürften eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Durchsetzung geteilter Normen im europäischen Haus bekommen. Die meisten Beschwerden an den Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kamen im letzten Jahr aus Polen. Sicher ist: So viel wie gegenwärtig ist in Polen noch nie über sexuelle Freiheitsrechte, sexuelle Belästigung, Gewalt gegen Frauen und Homosexualität gesprochen worden. Sicher ist auch: Es wird in Polen vorgezogene Neuwahlen geben. Eine Herausforderung wird darin bestehen, Fragen der "Kultur und Moral" in ihrem Vorfeld öffentlich zu verhandeln.
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