Die Welt ist Hund

Essay Laurie Anderson erinnert sich mit, an, durch ihr Terrierweibchen: „Heart of a Dog“
Ausgabe 12/2016

Jazzlegende Louis Armstrong befand einmal: „Mit einem kurzen Schweifwedeln kann ein Hund mehr Gefühle ausdrücken als ein Mensch mit stundenlangem Gerede.“ Die Performancekünstlerin und Regisseurin Laurie Anderson widerspricht ihm mit ihrem essayistischen Dokumentarfilm Heart of a Dog eindringlich, indem sie beides kombiniert, das Wedeln und das Reden, und so eine emotionale Collage kreiert, die die menschliche und tierische Wahrnehmung hinterfragt.

Im Zentrum der Arbeit steht Andersons Terrierdame Lolabelle, die für die Regisseurin einem Familienmitglied mindestens ebenbürtig war. In der Eröffnungssequenz irgendwo zwischen Fantasie und Albtraum schenkt sie der Hündin das Leben, überschüttet sie mit Liebe, nicht ohne deutlich zu machen, dass Mensch und Tier ein ungleiches Machtverhältnis verbindet. Es folgt eine Montage von privatem Videomaterial, inszenierten Erinnerungen, Texttafeln, abstrahierten Naturaufnahmen und Comicsequenzen.

Anderson kommentiert die Bilder durchgehend aus dem Off. Sie beschreibt, erklärt und kontrastiert das Gezeigte und versetzt den Zuschauer mit ihrer sanften Stimme bald in einen tranceartigen Zustand. Humoristische Einwürfe verhindern, dass man sich in diesen Momenten ganz verliert, dass man dem Film meditativ erliegt; sie wecken den Geist für die nächste poetische Passage. Dann spricht die Regisseurin plötzlich mit der gehorsamen Stimme eines deutschen Schäferhunds, dann mit der eines liebeshungrigen Pudels und schließlich mit der ihres vergnügungssüchtigen Zwergterriers, bevor sie auf die Veränderungen in der US-amerikanischen Gesellschaft zu sprechen kommt, die die Attentate vom 11. September 2001 bewirkt haben.

Anderson stellt Überwachungsvideos und Aufnahmen aus Flughäfen mit wachsender Präsenz von Sicherheitspersonal neben fiktive Eindrücke von Lolabelle, die darin etwa bemerkt, dass bis dahin unbekannte Raubvögel ihr nach dem Leben trachteten. Nun muss der Terrier nicht länger nur die Grenzen am Boden bewachen, sondern seine Aufmerksamkeit auch dem Himmel widmen. Die Parallele ist nicht subtil, aber einprägsam. Die unsichtbare Bedrohung wird zu einer realen, und der Slogan der alltäglichen Alarmbereitschaft („If you see something – say something!“) schwebt eine Zeit lang als Drohung über Land und Film.

Aus der Hundeperspektive erleben wir in Heart of a Dog die aufregenden Seiten des New Yorker West Village, der kalifornischen Hügellandschaft und des Inneren eines Tierheimzwingers – mal in verzerrter Fischaugen-Optik, viel öfter aber auf Augenhöhe mit den Menschen.

Als Lolabelle ihre Sehkraft verliert, wird sie künstlerisch aktiv, sagt der Film, sie lernt, Keyboard zu spielen. Anderson organisiert Auftritte für ihre Hündin und überlegt, was sie mit deren „Arbeiten“ (Lolabelle malt Bilder, indem sie über Plastik kratzt, und erschafft Skulpturen, indem sie in Gips tritt) machen könnte. Das ist komisch, aber immer aufrichtig, die Regisseurin nimmt Lolabelle so ernst wie sich selbst. Sie vergleicht die unterschiedlichen Sinneswelten und stellt sie in einen größeren Zusammenhang. Wie verändern sich Erinnerungen mit der Zeit? Wie geht man mit Angst und Verlust um? Welche Geschichten sind es wert, erzählt zu werden? Welche Kunst muss man zeigen?

Ihre Gedanken untermauert Anderson in Schrift und Sprache mit philosophischen Zitaten. Das wirkt zuweilen etwas bedeutungsschwer, wenn sie etwa David Foster Wallace („Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte“) oder Sören Kierkegaard („Das Leben kann nur rückwärts verstanden werden, muss aber vorwärts gelebt werden“) zitiert. Doch letztlich findet Laurie Anderson ein Gleichgewicht zwischen den großen Fragen und der emotionalen Intimität, wenn sie uns an den Geistern ihrer Vergangenheit teilhaben lässt.

Info

Heart of a Dog Laurie Anderson USA 2015, 75 Minuten

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