Gen-Glauben

GENTECHNOLOGIE Eine Replik auf den Beitrag "Evolutionäres Zufallsereignis" von Sabine Paul und Thomas Junker (

1. Gene steuern Gesundheit, und Gentechnik bedeutet gesundheitliche Omnipotenz. Medien mögen dies erzählen; der Realität entspricht es nicht. Gene sind Elemente des Regulationsprozesses in Zellen und fungieren interaktiv vernetzt mit dem zellulären Umfeld bis zur organismischen Umwelt. Ein "Anknipsen" dieses oder "Abknipsen" jenes Gens und die im Beitrag erträumten kausal-unilinearen Wirkungen auf phänotypische Eigenschaften, "Krankheit" oder "Gesundheit" gibt es weder bei multifaktoriell bedingten Krankheiten - was der Beitrag immerhin einräumt - noch bei monogenetischen. Gedankenspiele über eine Einsparung von Krankheit und Leid mögen daher vielleicht preiswert zu haben sein. Weltweite gen"therapeutische" Experimente an austherapierten PatientInnen mit monogenetisch wie multifaktoriell bedingten Erkrankungen aber kosteten Menschenleben und bestanden nicht einmal die Prüfung der technischen Gentransfer-Sicherheit. Mutationen und andere genetische Veränderungen ebenso wie über 90 Prozent aller Behinderungen werden nach wie vor im Lauf des Lebens erworben.

Der Omnipotenz-Glaube entstammt den Propagandamaschinen einer jungen Technologie. Tatsächlichen und potenziellen PatientInnen gegenüber, die unter dem Druck zunehmend sozialpflichtiger Gesundheit und Fitness stehen, ist sie wegen hoher Forschungsinvestitionen unter Legitimationszwang; ihnen gelten die Heilsversprechen. MedizinerInnen und ihrem Selbstverständnis, HelferInnen individueller PatientInnen zu sein, schlägt sie das scheinbar praktikable Denkmodell vor, mit medizinisch-gentechnischen Mitteln "kausal" und an Individuen ansetzen zu können. Es scheint vorteilhaft gegenüber komplexeren Modellen, die mehr krankheitsbewirkende Faktoren ins diagnostische und therapeutische Kalkül einbeziehen. Reduktionistisch und gesellschaftlich hochproblematisch bleibt dieses Modell dennoch.

2. Genetifizierte Medizin bringt Selbstbestimmung. Diese Meinung lässt sich kaum ohne strikte Absehung von der Realität vertreten. Genetifizierte Medizin ist nur um den Preis auch der Reproduktionsmedizin zu bekommen. Den aber bezahlen vor allem Frauen: mit hochriskanten Eizellentnahmen und unter Abgabe wesentlicher Entscheidungs- und Selbstbestimmungsrechte. Was von der "Selbstbestimmung" von Frauen und Paaren übrigbleibt bei den Prozeduren der künstlichen Befruchtung, lässt sich bändeweise in Untersuchungen und Selbstzeugnissen nachlesen. Über "Qualitäts"kriterien und die konkrete Auswahl einzusetzender Frühembryonen z. B. bei Präimplantationsdiagnostik - mit künstlicher Befruchtung als zwingende Voraussetzung - entscheiden ReproduktionsmedizinerInnen. Über Normalitäts- oder Anomalitäts-Kriterien genetischer Eigenschaften überhaupt entscheidet die Definition eines "Normalgenoms", das vier weiße US-amerikanische "Mittelklassen"-GenomforscherInnen, drei Männer und eine Frau, aus ihren Blutproben zusammenwürfelten - wahrhaftes "Gen-Lotto". Die Definition einer "schweren genetischen Belastung" entscheiden im Zweifelsfall der gesellschaftliche main stream und Richtlinien der Bundesärztekammer. Pränataldiagnostik führt gegebenenfalls zwar zur Abtreibung jener Föten, bei denen eine Krankheit oder Behinderung feststellbar ist; Schwangere haben dann fremdbestimmte genetische Kategorisierungen schon internalisiert, oder sehen sich neu vor Entscheidungen nach diesen Kriterien gestellt - oder aber sie entscheiden über die Schwangerschaft ohnehin nach anderen Aspekten. Darüber, dass das Down-Syndrom bei der Durchsetzung chromosomaler Pränataldiagnostik im Zentrum stand, entschied die humangenetische Zunft mit detaillierten Kosten-Nutzen-Rechnungen. Bis heute führt die Diagnose Frauen in Höchstraten zum Schwangerschaftsabbruch, während sich Down-Kranke und ihre Angehörigen mit Mühe dagegen zu Wort melden müssen.

3. Individuelle Eugenik bringt selbstbestimmte individuelle Krankheitsvermeidung. Mag sein, dass die überschaubare Gruppe der Ashkenasim in den USA die Tay-Sachs-Krankheit tatsächlich mit individuell freien Entscheidungen vermindert hat. Das UNESCO-Programm gegen die so genannten Mittelmeer-Thalassämie auf Zypern hingegen funktioniert schon erheblich weniger individuell und selbstbestimmt: mit staatlichen und kirchlichen Heiratsverboten für zypriotische DispositionsträgerInnen. Die Verhinderung einer Heirat mit nichtzypriotischen AnlageträgerInnen würde kontinentale, gar weltumspannende Heiratsverbote erfordern. Und soll konsequenterweise auch bei den schon erwähnten erworbenen genetischen Veränderungen eugenisch eingegriffen werden? Durchgängig soziokulturell bestimmte Konzepte wie die von "Krankheit" bzw. "Gesundheit" ermöglichen schon deshalb kaum eine "selbstbestimmte" Eugenik, weil eugenisches enhancement oder embetterment nahtlos überein stimmt mit den in der materiellen Struktur und den ideologischen Produktionen kapitalistischer Leistungsgesellschaften und den in ihnen an- und von ihnen nahegelegten Praxen der Subjekte. Vorstellungen einer "individuellen und selbstbestimmten Eugenik" wären daher gesellschaftspolitisch sträflich naiv.

Obwohl genetisch fabrizierte, individuell selbstbestimmte Eugenik kaum zu haben ist, ist sie schon jetzt ein soziales Problem. Der Traum der Krankheitsausrottung löscht die Frage nach den Bedingungen und Kontexten, unter denen Kranke, die es weiterhin geben wird, und Gesunde miteinander leben können, und trägt zur gesellschaftlichen Barbarisierung bei: Er gefährdet das Konzept von Gesellschaft als Solidarverband. Ein Vierteljahrhundert institutionalisierter Pränataldiagnostik zeigt: Neben den merklichen Verbesserungen der Akzeptanz Behinderter bei den "Normalen", die vor allem auf die Aktivitäten ihrer Selbstorganisationen zurückgehen, steht die Abwertung behindert Geborener aufgrund des Glaubens, Behinderung sei gendiagnostisch und -technisch zu verhindern oder zu beseitigen. Eine ideologische und soziale Auswirkung der Diagnostik, die weniger eine behinderungsvermindernde als vielmehr eine gesellschaftlich fatale Wirkung hat.

Dr. Claudia Stellmach ist Migrations- und Medizinsoziologin in Bonn.

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