Was für eine Sensation: Am 12. November 1918, drei Tage nach dem Sieg der Novemberrevolution in Deutschland, führte der Rat der Volksbeauftragten mit einem „Aufruf an das deutsche Volk“ das Wahlrecht für Frauen ein: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystem für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“
Alle sechs Ratsmitglieder des obersten Revolutionsgremiums waren Sozialdemokraten. Als einzige Partei damals in Deutschland forderte die SPD schon seit 1891, dass Frauen an die Wahlurne treten dürften. Doch entsprechende Anträge der SPD-Fraktion fanden im Reichstag bis dahin nie eine Mehrheit. Ohnehin war die SPD zu jener Zeit die einzige deutsche Partei, die sich für die rechtliche und politische Gleichstellung von Frauen einsetzte. So nahm sie – neben einer liberalen Splitterpartei – als einziges politisches Gremium nach dem Ende des Politikverbots für Frauen 1908 weibliche Mitglieder auf.
100 Jahre Frauenwahlrecht
1918, vor einhundert Jahren, durften in Deutschland Frauen das erste Mal an die Wahlurne treten. Grund genug für die Freitag-Redaktion, zum Internationalen Frauentag die Hälfte dieser Ausgabe der Hälfte der Menschheit zu widmen: Frauen. Eine Ausgabe, die das Jubiläum von 100 Jahren Frauenwahlrecht zum Anlass nimmt, um sowohl an den Kampf von Frauen- und Wahlrechtlerinnen in Deutschland, England und der Schweiz zu erinnern als auch den Blick über die Historie hinaus zu weiten. Wir rücken den Druck, dem Frauen heute ausgesetzt sind, in den Fokus:
Wie sie es auch anstellen, irgendetwas daran ist immer falsch. Warum? Weil es kein eindeutiges Frauenbild gibt, so wie noch vor einigen Jahrzehnten? Dafür gibt es jede Menge vorherrschende, meist eindimensionale Zuschreibungen: Weibchen mit Kernkompetenz für Kinder, Küche, Vorgarten. Oder machthungrige Karrierefrauen, denen feminine Eigenschaften abhandengekommen sind.
Haben Frauen eine andere Wahl? Dürfen sie einfach so sein, wie sie nun mal sind: stark, schwach, Mutter, kinderlos, Chefin, Hausfrau? So unterschiedlich also wie das Leben selbst? Und eine Wahl jenseits der fakultativ-obligatorischen Möglichkeit, über den Bundestag, ein Kommunal- oder Landesparlament mitzuentscheiden?
Was 1918 wie eine emanzipatorische Revolution anmutet, hat eine lange Vorgeschichte. Nachdem 1948 die Märzrevolution in Deutschland gescheitert war, hatten Bayern und Preußen ein Vereinsgesetz erlassen, das Frauen verbot, sich zu politischen Zwecken zusammenzuschließen oder Parteien beizutreten. Selbst die Teilnahme an Versammlungen politischer Vereine wurde ihnen untersagt. Angeblich sollten Frauen damit vor politischer Verführung geschützt werden.
In Wirklichkeit fürchteten die Fürsten, die ihre Macht noch einmal retten konnten, die Frauen. Diese waren im sogenannten Kartoffelaufstand schon im Frühjahr 1847 auf die Straßen gegangen. In Berlin war es nicht bei Protesten gegen Lebensmittelmangel und überteuerte Produkte geblieben. Am Stadtschloss hatten Frauen Scheiben eingeworfen und den Rücktritt des Königs sowie Freiheit und Demokratie gefordert. Erst ein massiver Militäreinsatz schlug den Aufstand nieder.
Irrenhaus, dann Freitod
Bei der Revolution 1848 wollten die meisten Revolutionäre keine Frauen dabeihaben. Die Aufklärung hatte ein Frauenbild hervorgebracht, wonach das „schwache Geschlecht“ ins Haus und nicht in den öffentlichen Raum gehörte. Um den Forderungen der Frauen Gehör zu verschaffen, gab die sozialkritische Schriftstellerin Louise Otto-Peters in Leipzig schließlich die erste Frauen-Zeitung heraus. Zudem wurden Frauenvereine gegründet, die das Frauenstimmrecht und Gleichberechtigung forderten. Ohne Erfolg. Selbst als 1871 das „Deutsche Reich“ gegründet wurde, blieb das Politikverbot gegen Frauen in Kraft. Ausnahmen gab es nur während Wahlkämpfen, um Frauen als Wahlkampfhelferinnen einzusetzen. Mehr noch: Frauen wie Rosa Luxemburg und Clara Zetkin waren als starke Rednerinnen gefragt, insbesondere bei der SPD. Solche Auftritte nutzten Frauen schließlich für ihre eigene politische Agenda.
Ansonsten sahen sich Frauen gezwungen, ihr Engagement als unpolitisch darzustellen. So wurde der 1859 in Berlin zugelassene „Fröbel’sche Kindergartenverein“ zum Ausgangspunkt für eine neue Frauenbewegung. Um den politischen Anspruch zu verschleiern, erklärten die Aktivistinnen, wie Frauen am besten in der Gesellschaft wirken könnten, nämlich mit „geistiger Mütterlichkeit“. Bildung, Soziales und Gesundheit wurden zu weiblichen Domänen, Bereiche und Politikfelder also, in denen Frauen heute nach wie vor am stärksten vertreten sind. Der Arbeiterinnenbewegung indes nützten solche Selbstbeschränkungen und Tarnungen nichts. Ihre Vereine wurden jedes Mal nach kürzester Zeit aufgelöst, die Vorstandsfrauen mit Geld- und Haftstrafen kriminalisiert. Agnes Wabnitz, die im Gefängnis mit Hungerstreik gegen die politische Verfolgung protestierte, wurde ins Irrenhaus eingewiesen und ein Entmündigungsverfahren gegen sie eingeleitet.
Nach ihrem Freitod 1894 entwickelte die sozialistische Frauenbewegung ein neues Organisationsprinzip: Überall wurden Vertrauensfrauen gewählt, die nicht dem Vereinsrecht unterlagen. Damit unterliefen sie das Politikverbot gegen Frauen so erfolgreich, dass es bei der Einführung eines reichsweiten Vereinsgesetzes 1908 kein Thema mehr war. Als daraufhin der „Bund deutscher Frauenvereine“, ein 1894 gegründeter Dachverband der bürgerlichen Frauenbewegung, das Frauenstimmrecht in seinen Forderungskatalog aufnahm, führte dies allerdings zu Austritten von Mitgliedsorganisationen, beispielsweise dem Evangelischen Frauenbund. Nicht alle Frauen waren der Meinung, dass es ein demokratisches Wahlrecht für alle geben sollte. Anders als bei den berühmten englischen Suffragetten kam es in Deutschland daher nicht zu einem gemeinsamen Kampf für ein Frauenstimmrecht.
In der SPD, wo die Sozialistinnen nun zwar offizielle Mitglieder waren und politisch agieren konnten, sollten sich die Frauen dennoch komplett der Parteiarbeit unterordnen statt „Sonderinteressen“ vertreten. So verloren Frauen, sobald sie in die Partei eingetreten waren, Rechte wie die Möglichkeit, eigene Delegierte wählen zu können. Die Sozialistinnen hielten an ihrer Forderung nach dem Wahlrecht allerdings fest – und riefen 1911 den Internationalen Frauentag ins Leben. Federführend dabei war die Frauenrechtlerin und Friedensaktivistin Clara Zetkin. Die Resonanz auf den Tag, der bis heute international begangen wird, war unter den deutschen Frauen groß. Vorbild hierfür war der „Frauentag für das Frauenwahlrecht“ der amerikanischen Sozialistinnen, an dem sich 1909 und 1910 Millionen Frauen und Männer in den USA beteiligt hatten.
1918: Streik der Arbeiterinnen
Zum Frauentag 1915 vor dem Reichstag in Berlin versammelten sich Tausende Frauen, um gegen den Ersten Weltkrieg zu demonstrieren. Das war die erste Kundgebung in Deutschland gegen den Krieg. Auch in den folgenden Jahren ist maßgeblich den Frauen das Antikriegsengagement zu verdanken. Mit dem Streik einer halben Million Berliner Rüstungsarbeiterinnen im Januar 1918 schließlich begann das Revolutionsjahr. In der Novemberrevolution 1918 erlangten Frauen formell ihre politische Gleichberechtigung, in der Praxis sah es allerdings anders aus. In die revolutionären Räte wurde so gut wie keine Frau gewählt.
Beim Reichsrätekongress im Dezember 1918 waren unter den 492 Delegierten nur zwei Frauen. Gleichzeitig wurden Frauen mit der sogenannten Demobilmachungsverordnung von ihren Arbeitsplätzen verdrängt, die sie während des Krieges erhalten hatten.
Infolge des Krieges war die Mehrheit der Wahlbevölkerung weiblich und ihre Stimmen damit wahlentscheidend. So sahen sich sämtliche Parteien bei den Parlamentswahlen dazu gezwungen, nicht nur Kandidaten, sondern vor allem Kandidatinnen zu präsentieren. Auch jene Parteien, die bislang jegliche politische Beteiligung von Frauen abgelehnt hatten. Die Frauen wurden aber auf hinteren und damit unsicheren Listenplätzen nominiert. Das hatte für die Frauen zur Folge, dass sie stärker für den Erfolg ihrer Partei kämpfen mussten, um überhaupt zum Zuge zu kommen.
Mit mäßigem Erfolg: Der Anteil der weiblichen Abgeordneten im Reichstag blieb bei der ersten Frauenwahl 1919 unter zehn Prozent. Während der Weimarer Republik nahm die Zahl der Frauen im Parlament weiter ab. Auch in Landes- und Kommunalparlamenten sah es nicht besser aus. Eine Regierungsfunktion konnte keine Frau erlangen. Dass mit Katharina von Oheimb eine Frau potenzielle Reichskanzlerin werden konnte, verhinderte ihr nationalliberaler Parteivorsitzender Gustav Stresemann.
Die NS-Diktatur war das bislang dunkelste Kapitel bei der weiblichen Partizipation: Das passive Wahlrecht für Frauen wurde mit der traditionellen Begründung abgeschafft, dass Politik nicht frauengemäß sei. Gleichzeitig ließ sich der „Führer und Reichskanzler“ Adolf Hitler von Frauen feiern. Zudem wurde mit den Frauenschaften der Nationalsozialisten und dem Bund Deutscher Mädel eine millionenfache weibliche Unterstützung für die verbrecherische NS-Politik geschaffen.
Im Grundgesetz der Bundesrepublik konnte die Gleichberechtigung nur durch eine breite Frauenkampagne verankert werden. Dafür wurde die Initiatorin Elisabeth Selbert, eine der vier „Mütter des Grundgesetzes“, allerdings politisch kaltgestellt. So wie der Juristin erging es auch anderen Parlamentarierinnen, die sich für Frauenrechte einsetzten.
Garantieren mehr Frauen in politischen Ämtern mehr Frauenrechte? Eine Frage, über die bis heute gestritten wird. Deutlich indes ist, dass durch Frauenquoten in den meisten Parteien der Anteil weiblicher Abgeordneter in den Parlamenten mittlerweile gestiegen ist. Letztendlich muss sich der Erfolg des Frauenwahlrechts allerdings an frauenpolitischen Errungenschaften messen lassen.
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