Ist das hier Provinz oder nicht

Alltag Heide Hampel hat in Neubrandenburg ein Literaturzentrum aufgebaut, das Lebenswerk einer Detektivin

Vor dem Bücherregal eines anderen Menschen stehen, neugierig suchen und Vorlieben enttarnen. Simone de Beauvoir muss sie doch gehabt haben, Solschenyzin auch. Aber wo sind sie? Hat jemand die Westbücher ausgeliehen und nicht zurückgebracht? Und wo stehen ihre eigenen Bücher?
Es sind alte Ausgaben, oft benutzt, aber schon lange nicht mehr. Die Bücherwand hat sie sich damals extra bauen lassen, erzählt Hampel, die viel weiß über die Schriftstellerin Brigitte Reimann, vor deren Büchern ich stehe. Der letzte Ehemann der Reimann, der Erbe, hat sie bewahrt. Aber das Tagebuch der Autorin bricht so plötzlich ab, einige Zeit vor dem Tod, und das Heft ist gerade vollgeschrieben, erzählt die Sammlerin Heide Hampel. Vielleicht gibt es noch ein weiteres, verborgenes Tagebuch? Spekulationen, aber ich bin keine Detektivin, ich stelle mir das nur so vor. Heide Hampel wird sich oft als Detektivin gefühlt haben. Sie ist Hausherrin hier, im Literaturzentrum Neubrandenburg, Geschäftsführerin, aber sie arbeitet oft zu Hause, ihr Arbeitsplatz unter dem Dach gehört jetzt einer Kollegin. Sie, die 55-Jährige, übt schon ein bisschen das Loslassen. Wer weiß, wie lange sie hier noch sein kann.
Die Stadt Neubrandenburg kennt kaum jemand. Den Namen schon, mehr nicht. Fragt man Heide Hampel nach dem Reiz der Stadt, nennt sie die Landschaft mit Wasser, den Tollensesee. Und dann die Jahre, die sie schon hier lebt. Die binden sie - wie die Leute. Sie kennt hier jeden - fast jeden, korrigiert sie sorgfältig. Dadurch kann man eine ganze Menge erreichen. Das meiste, was sie bisher gewollt hat, hat sie geschafft. Zum Beispiel dazu beizutragen, dass Brigitte Reimann nicht vergessen wird, vor dem Ende der DDR nicht und auch nicht danach.
Das Literaturzentrum Neubrandenburg steht dort, wo das Haus stand, in dem Brigitte Reimann gewohnt hat. Eine umständliche Beschreibung, aber so ist es. Als die Stadt dem Verein endlich die Mittel für den Umbau des alten Häuschens genehmigt hatte und die übriggebliebenen Mieter ausgezogen waren, als die Baufirma schließlich anfing, fielen die Wände zusammen. Zum Trost zitiert Heide Hampel die Architektin: Noch nie habe sie eine kleine alte Villa mit so wenig Charme gesehen. Die Baufirma - schlechtes Gewissen? - erbot sich, für das einmal vereinbarte Geld einen Neubau hinzustellen. Archiv im Keller, Arbeitsräume, ein heller Raum mit Glasfront und Blick in den Garten, der Bücherwand, drei alten Möbeln von der Reimann und ihrem Porträt in Öl. Zum Tag der offenen Tür am Wochenende kommt eine ganze Menge Leute. Eine kleine Fallada-Ausstellung wird eröffnet, 70 Jahre Kleiner Mann, was nun?, zwei Lesungen sind zu hören. Es gibt nicht so viel in Neubrandenburg, dass man so einen Nachmittag ungenutzt verstreichen lassen kann, wenn man Bücher mag.
Heide Hampel ist Buchhändlerin und blickt - schon - auf ihr Lebenswerk. Es passt alles zusammen: ihre Liebe zu den Büchern; die Stadt, die nicht gerade überquillt vor Kunst und Literatur; Brigitte Reimann, die schon vor Reich-Ranicki entdeckte Autorin mit den Tagebüchern und einem modernen, Fragment gebliebenen Roman; die Seen und die Aktivität dieser Bücherfrau. Eines gelingt ihr nicht so gut: ihre Lebendigkeit und Nachdenklichkeit auf Fotos deutlich zu machen. Sie ist ganz anders in der Realität, als wenn sie jemand fotografiert. Ein Bild zeigt sie mir, auf dem hätte ich sie nicht einmal erkannt. Das Foto ist eineinhalb Jahre alt. Da war sie noch eine andere Frau, scheint es, gelassener, zuversichtlicher, weniger allein. Seitdem hat sie einen Autounfall überlebt und dabei ihren Partner verloren. Sie ist sehr tapfer, was für ein altmodisches Wort. So altmodisch wie "Lebenswerk".

Wenn die Stadt das Literaturzentrum nicht mehr ausreichend finanziert, sondern nur noch Geld für die Konzertkirche hat, die mit ihrem Angebot für viele Konservative im Rathaus wohl leichter einzuschätzen ist, verliert Heide Hampel ihr Lebenswerk. Aber es ist noch nie ein Haus der Bücher und des Lesens bewahrt worden, um einer einzelnen Frau - und ihren Kolleginnen - die Aufgabe zu erhalten. Nur wäre es das auch nicht allein, gerade in dieser Stadt mit dem großen Einkaufszentrum auf dem leeren Markt, vor dem sich werbend ein Autohaus spreizt, mit dem historischen Wall und den Plattenbauten. Eine Stadt, die ihre wenigen Orte, die Leute halten oder sogar heranziehen könnten, dringend braucht. Doch es wäre auch ein Verlust für Heide Hampel. Sie wäre, sagt sie, ohne das Haus "auf ihre Kinder und Enkel zurückgeworfen". Sie liebt die Familie. Aber zurückgeworfen ist das Wort, das sie wählt. Sie nimmt es auch nicht zurück.
Buchhändlerin hat die in Berlin Geborene gelernt. Den jungen Frauen wurde in der alten Bücherstadt Leipzig auch beigebracht: Ihr seid was Besonderes. Nein, so hieß der Satz nicht. Sondern, untypisch für das Land, in dem er gesprochen wurde: "Meine Damen, Sie sind etwas Besseres." So? Wenn man als Erste weit und breit den Fänger im Roggen kannte, konnte man das bald glauben. Die Arbeit war die Richtige für sie. Gelesen wurde eigentlich immer, sagt sie. Vielleicht hat auch eine Rolle gespielt, dass Buchhändlerinnen gefragt waren. Ich zum Beispiel hätte viel gegeben für eine Freundin in einem Buchgeschäft.
Irgendwann erschienen nicht nur wahnsinnig nette Kunden, sondern auch der richtige Typ in Heides Buchladen in Zossen bei Berlin. Er trug die blaue Fliegeruniform der landeseigenen Armee, er war Techniker und kaufte auch einen Techniktitel, aber das störte sie nicht. Mit ihm ging sie 1965 nach Neubrandenburg. Das Leben in der Kleinstadt am Rand von Berlin war nicht so prickelnd, sagt sie. Also warum nicht Neubrandenburg? Eigentlich ging es ihr wie Brigitte Reimann, die vier Jahre später aus Hoyerswerda nach N. kam. Der gefiel es auch besser als in dem Nest, in dem sie vorher gewesen war. Heide Hampel hat die damals schon schwerkranke Reimann noch gesehen in der Stadt, erinnert sich an das schwarze Haar und die bunten Klamotten - "wie ein Papagei". Nein, gesprochen haben sie sich nicht mehr. Jetzt arbeitet Hampel an einer Reimann-Biographie. Sie wäre vielleicht schon fertig, wenn der Unfall sie nicht so verstörend aufgehalten hätte. Aber sie wird irgendwann fertig. Wenn es ihr gelingt, die Materialmasse, über die sie inzwischen verfügt, zu bändigen.
Die Buchhändlerin Hampel wollte in Neubrandenburg bald nicht mehr Bücher verkaufen. Die langen Arbeitszeiten und keine Krippe für die beiden Söhne (historisches DDR-Zitat dazu: "Ein Offizier kann eine Familie ernähren! Sie brauchen keinen Krippenplatz."). Praktisch war sie ja allein erziehend, musste im Alltag allein zurechtkommen. Vielleicht wollte sie auch nicht mehr so oft nein sagen müssen. Kafka, Freud, Sarah Kirsch - alles immer schon vergriffen. Aber dass sie auch das störte an der Arbeit, ist nur eine Vermutung. Etwas Neues also. Rechtzeitig hörte sie: Ein Literaturzentrum soll gegründet werden; ein Zentrum für bildende Kunst gab es in Neubrandenburg schließlich schon. Sie bewarb sich, ohne genau zu wissen, was das für sie heißen könnte. Im Frühling 1972 fing sie dort an. Der Kulturbund gab abends einen Raum für Veranstaltungen frei, das war alles. Verdammte Bescheidenheit, aber was sollte man machen? Das neue Zentrum besaß zwei Schätze, die alte Schreibmaschine und den Duden, der Duden war nach kurzer Zeit weg. Eine Lehre, erinnert sich Heide Hampel: "Mir fiel auf, dass Dinge bewahrt werden müssen, Bücher und Dokumente besonders."

Das neue Literaturzentrum zog in eins der alten Wieckhäuser in der Stadtmauer, sehr malerisch. Was wollte man dort nun machen? Keine schreibenden Arbeiter versammeln. Wie wäre es mit dem Erbe, mit der Literatur, die hierher gehört, nach Norddeutschland? Eine große Auswahl hatte man nicht. Dass Heide Hampel japanische und französische Bücher, Harper Lee und Tendrjakow liebte, war nicht so wichtig. Hier konnte man Fallada entdecken, immerhin. Sie besuchte Anna Ditzen, die Witwe, die sie aufnahm wie eine wiedergefundene Tochter; es hatte sich lange niemand um die Bücher von Fallada gekümmert. Über die niederdeutsche Literatur forschten schon andere. Fallada war "noch frei". Niemand kam einem in die Quere. Schließlich gelang es Hampels Chef Tom Crepon sogar, die Akademie der Künste dazu zu bringen, den Fallada-Nachlass in Braunschweig zu kaufen. Der lag bei einem Fleischermeister im Keller und wurde nach Neubrandenburg geholt. Die detektivische Arbeit hatte begonnen. Im zweiten Jahr des Literaturzentrums eröffneten sie die erste Fallada-Ausstellung. Drei Jahre später erschien die Fallada-Biographie von Crepon, die ungewöhnlich war für die Zeit und das Land. Über Morphium, Alkohol und Rausch, über Verzweiflungstaten konnte man etwas erfahren bei diesem Schriftsteller. Das Stöbern in Papieren und Biographien, das Suchen nach Leuten lohnte sich. Nichts war staubtrocken im Sinne von langweilig. Irgendwann kamen dann die ersten Leute von ganz allein, erzählten und brachten Material mit. Manchmal konnte einem unheimlich werden, was man alles herausfand. Bei Brigitte Reimann ging es der Erbe-Bewahrerin Hampel, die inzwischen Kulturwissenschaften studiert hatte, dann wieder so.
Na gut, Fallada, Kleiner Mann, was nun?. Und Brigitte Reimann, die die Leute aufstören konnte, in ihrer Direktheit und Schonungslosigkeit. Dazu noch ein paar junge Autoren, die ins Literaturzentrum kamen. Aber es gab doch noch ganz anderes auf der Welt, auch ganz andere Bücher. War das nicht alles Provinz hier, in dieser abgelegenen Stadt? Heide Hampel versuchte, sich Maßstäbe zu bilden, indem sie las. Bücher von überallher. Aus Island, das war möglich. Und nötig: "Sonst passiert es, dass man das vorliegende Beste für das Beste nimmt." Was sie nie wollte. Einen Dichter, der doch hierher gehörte, auch hierher, kannte sie bis 1990 so gut wie nicht. Uwe Johnson. Das konnte man nachholen, das lohnte sich für sie. Nicht auszudenken, sie hätte diese Bücher versäumt. Bizarr war der Konkurrenzkampf Johnson gegen Reimann, der in der Stadt ausbrach. Als die Ratsversammlung über die Finanzierung des Hauses entscheiden sollte, in dem die Reimann gewohnt hatte, erschien plötzlich ein Artikel über die Stasi-Täterakte der Autorin. Kein Wort über ihre Opferakte. Das Haus wurde trotzdem gebaut. Es bewahrt die Sammlung zu Reimann und Fallada, die Nachlässe. Die Macherinnen und der Verein laden sich Neugierige ein, zum Zuhören und Arbeiten. Hampel wollte nicht Reimann gegen Johnson austauschen. Es ist doch wohl für beide Platz in der Stadt.
Irgendwie trennten sich die Leute, die in Neubrandenburg mit Literatur zu tun haben, voneinander. Die Mecklenburgische Literaturgesellschaft und eine Zeitung verleihen den Uwe-Johnson-Preis. Eine große Fritz-Reuter-Gesellschaft gibt es auch noch. Und das Literaturzentrum. Das ist nicht wenig für Mecklenburg. Etwas Besonderes, meint Heide Hampel, und wenn die Stadt das nicht mehr will, kehrt eben der Provinzialismus zurück. Es läuft wie überall: Der Kulturhaushalt wird geschrumpft und geschrumpft. Es geht beim Sparen im Haus schon um Briefmarken, so weit sind sie schon. Für 2002 sollte es 40.000 Euro weniger geben als geplant, das hätte Entlassungen bedeutet. Drittmittel können eine solche Summe nicht wettmachen. Jetzt wird über 25.000 Euro diskutiert. Dahinter steht die Frage, ob Neubrandenburg Stadt der Musik und Literatur sein könnte. Oder kann man froh sein, wenn man die Musik hat? Kann man auf eine neue Straße verzichten? Oder worauf kann man verzichten? Die Stadt ohne Bücher und literarische Orte - am Ende wäre so eine Stadt einfach geistlos, sagt Heide Hampel. Und ihr Lebenswerk wäre dann - ja, wo eigentlich? Was soll man mit dem Literaturhaus denn sonst machen?

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