"Ch. Haufe" war auf dem kleinen Schildchen zu lesen. Seit einigen Jahren mussten alle Angestellten mit einer Sicherheitsnadel an ihrer Schürze befestigte Namensschilder tragen. "Da kommt Persönlichkeit rüber! Unsere Kunden wollen wissen, mit wem sie es zu tun haben!" Diese zwei Sätze und keinen mehr, hatte Filialleiter Hunzinger auf Weisung der Geschäftsleitung damals an die versammelte Belegschaft gerichtet, bevor sie alle wieder wie an jedem Morgen pünktlich um halb neun an ihre Arbeit gegangen waren. Frau Haufe nahm ihren Platz an Kasse vier ein.
Obwohl sie gerade mal die 30 überschritten hatte, tippte sie seit über zehn Jahren in einem großen Supermarkt an der Kasse die Preise ein. Das "Ch." stand für Charlotte, was jedoch keine ihrer Kolleginnen wusste. Nicht ein einziger Kunde hatte jemals danach gefragt. Längst hatte sie aufgehört, die Menschen zu beobachten, ja überhaupt wahrzunehmen. Ihr "Grüß Gott" und "Auf Wiedersehn" hörte sie seit Jahren ebenso wenig wie das endlos monotone Summen des Rechenwerks der Registrierkasse.
Die meisten Preise kannte sie auswendig. Einmal hatte sie davon geträumt, bei dieser Spielshow teilzunehmen. Wenn jemand die Preise für Zucker, Wattestäbchen oder Gummibärchen kannte, dann war sie es. Das Haus hätte sie sich gar nicht gewünscht. Auch die Reise hätte sie nicht interessiert. Nein, der Farbfernseher mit Großbildschirm hätte ihr vollauf genügt. Sie hatte sich bereits die Abende ausgemalt. Die Löwen wären plötzlich zweimal so groß wie bisher, und Johnny Depp auf ihrem Wohnzimmerteppich beinahe in Lebensgröße, nur drei Meter von ihr entfernt, mit bloßem Oberkörper.
Sie hatte sich vertippt. Aus Versehen hatte sie, (wahrscheinlich hingen ihre Gedanken noch dem Wohnzimmerteppich nach), den Beutel Vollkornmehl mit 42 Euro anstelle der 42 Cent eingegeben. "Storno! Kasse vier!" Wie immer wurde die Kundschaft ungeduldig. "Einmal, wenn ich es eilig habe", murmelte eine ältere Dame laut genug vor sich hin. Frau Haufe wusste auch, was ihr Filialleiter, Herr Hunzinger, sagen würde, während er den irrtümlich falsch bonierten Betrag wieder stornierte. "Das kostet Zeit und somit letztlich Geld", war ein Spruch neben vielen anderen, den alle Kassiererinnen kannten. Hatte sie sich früher in solchen Fällen bloßgestellt und verletzt gefühlt, so hörte sie auch hier heute längst nicht mehr hin. Hunzinger kam, blickte lächelnd auf den Herrn im Sakko, steckte seinen Schlüssel in die Kasse und warf ihr einen verächtlichen Blick zu, während er auf Storno umschaltete. Charlotte tippte den falschen Betrag abermals ein und Herr Hunzinger konnte sein Schlüsselchen wieder herausnehmen. "Das kostet Zeit und somit letztlich Geld." Mit einem kurzen wieder freundlichen Blick auf den geduldig wartenden Kunden eilte er zurück in Richtung Büro.
Charlotte hatte bereits die Unterlagen für die Show angefordert. Als sie jedoch gelesen hatte, dass ein Photo im Abendkleid und Bikini beizulegen sei, hatte sie die Papiere kurzerhand in den Mülleimer geworfen. Erst gestern während ihrer Mittagspause hörte sie, wie zwei Männer abschätzig über sie sprachen. Dabei war "Rubensbacke" noch eher harmlos. Nein, Charlotte war nicht sehr attraktiv und in der Tat höchst übergewichtig, aber sie deshalb ständig beleidigen zu wollen oder mit höhnischen Blicken zu strafen, war eine böswillige Ungerechtigkeit. Noch nie hatte sie sich darüber beklagt. Hätte sich auch nur einmal einer für sie interessiert, so hätte er Charlottes aufrichtiges und freundliches Wesen sofort erkannt und zu schätzen gewusst.
Eine halbe Stunde noch, und dieser Arbeitstag wäre auch überstanden. Sie tippte noch die Dose Sonnentomaten ein, drückte auf Summe und am Display der Kasse schien in orangefarbenen Ziffern zweiundvierzig-Komma-zweiundvierzig auf. Zweiundvierzig Euro und zweiundvierzig Cents. "Das haben Sie ja toll hingekriegt!" "Ist eine Schnapszahl!" "Bringt Ihnen Glück!", riefen ihr jetzt die Wartenden beinahe freudig aufgeregt zu. "Sind wohl ein Sonntagskind?", fragte die Kundin, während sie in ihrer Geldbörse nach den passenden Münzen suchte. "Besser als ein Sechser im Lotto!", setzte der junge gutaussehende Geschäftsmann noch eins drauf. Ihre Blicke hatten sich für den Bruchteil einer Sekunde getroffen. "Da müssen Sie sich was wünschen, Frau Haufe, soviel Glück hat nicht jeder!", schallte es von ihrer neuen Kollegin von Kasse fünf herüber. "Charlotte, ich heiße Charlotte." "Na denn mal los, wünsch dir was!", sie lächelte Charlotte fröhlich an. Jetzt erst bemerkte Charlotte, wie alle in der Schlange sie erwartungsvoll anblickten. Selbst der ältere Herr, der zweimal die Woche kam, stets schlecht gelaunt, selbst er blickte sie jetzt freudig an. Sogar bei Herrn Hunzinger, der gerade vorbeikam, glaubte sie, ein zögerliches Lächeln, das ihr gegolten haben könnte, wahrgenommen zu haben.
Dann, nach einer kurzen Pause - fast schien es, als wäre die Zeit stehen geblieben - begann Charlotte mit dem Eintippen der nächsten Ware. Natürlich hatten alle gehofft, sie würde ihnen verraten, was sie sich gewünscht hatte. Aber woher hätten sie auch wissen sollen, dass Charlottes Wunsch bereits in Erfüllung gegangen war.
Claudius Wiedemann wurde 1961 in Augsburg geboren. Er schreibt Theaterstücke und Kurzgeschichten, ist als Journalist tätig und lehrt Literatur und Theater an der Fachhochschule Augsburg.
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