Showdown in der Prärie: Die Besetzung von Wounded Knee im Jahr 1973
Zeitgeschichte Die Widerstandsbewegung American Indian Movement in South Dakota besetzt aus Not und Verzweiflung einen historischen Ort. Die Besetzung wird von der US-Regierung als Verschwörung angesehen und direkt militärisch bekämpft
Oscar Running Bear vom AIM am 4. März 1973 in Wounded Knee
Foto: Getty Images
Der Name hatte bereits einen Platz im indigenen Gedächtnis Nordamerikas: Am Wounded Knee Creek (Chankpe Opi Wakpala) im Staat South Dakota kam es am 29. Dezember 1890 zum letzten Massaker an den Ureinwohnern. 500 Soldaten der 7. US-Kavallerie hatten einen Zug der Lakota umzingelt, die sich im Reservat Pine Ridge (ehemals Internierungslager Nr. 344) niederlassen sollten; 350 waren es, davon 120 Frauen und Kinder. Als die Indianer entwaffnet wurden, wollte ein Lakota, der taub war, seine Flinte nicht hergeben und schoss in die Luft, darauf gingen die aufgestellten Hotchkiss-Kanonen los. Nur wenige überlebten. Die Zeitungen berichteten nach dem Gemetzel von der „Schlacht am Wounded Knee“, die „Indianerkriege“ wurden für beendet erklärt und zwanzig S
g Soldaten in Washington mit der Medal of Honor geehrt, der höchsten militärischen Auszeichnung.1973 sollte der Ort des Massakers für die Ureinwohner zu einem Symbol neuer Hoffnung, Identität und Selbstbestimmung werden. Am 27. Februar besetzten Mitglieder der Widerstandsgruppe American Indian Movement (AIM) den historischen Platz, der aus einem Friedhof und einem Trading Post bestand. Es war die Idee der stammesältesten Frauen, diese Aktivisten zu Hilfe zu rufen, um einen medienwirksamen Protest zu inszenieren. Die junge Widerstandsbewegung hatte ihren Ursprung in Minneapolis-St. Paul im benachbarten Minnesota, wo AIM die indianische Stadtbevölkerung durch eine Patrouille vor Übergriffen der Polizei schützte. Die Besetzer verlangten in erster Linie, den Ratsvorsitzenden Dick Wilson abzusetzen, der korrupt war, das Reservat wie ein Diktator regierte und über eine eigene, bewaffnete Schlägertruppe verfügte, die Goon Squad. AIM wollte darüber hinaus den Rassismus inner- und außerhalb des Reservats anprangern, ebenso die fortschreitende Zerstörung der Landwirtschaft, den Diebstahl ihres heiligen Bergmassivs He Sapa, extreme Armut und eine hohe Selbstmordquote. Der Protest nahm Anstoß daran, dass die Kinder durch die Internatsschulen der Regierung und die christlichen Kirchen kulturell entfremdet wurden. Verantwortlich für die Bevormundung in allen Lebensbereichen war das BIA, das Bureau of Indian Affairs, eine Behörde des Innenministeriums. Das BIA war 1824 aus dem Kriegsministerium hervorgegangen; 1934 hatte es sogenannte Tribal Councils eingerichtet, über die es sämtliche Belange der 574 Reservate regelte. Diese Stammesregierungen nach weißem Vorbild standen im Widerspruch zur Sozialstruktur jeder Stammesgesellschaft. Der Ratsvorsitzende Dick Wilson sah in den über 200 Aufständischen, zu denen auch die spirituellen Ältesten gehörten, einen terroristischen Angriff.Den Medien fiel es schwer, das Ganze einzuordnen. Indianer gegen Indianer? Auf der einen Seite die „Progressives“: Sie stellten die Regierung, sie wurden vom BIA bezahlt und galten als demokratisch gewählt. Auf der anderen Seite die „Traditionals“ der Oglala-Lakota, die von Washington ignoriert wurden, da sie das Mehrheitswahlrecht als koloniales politisches System boykottierten. Die Traditionalisten nannten die „progressiven“ Stammesmitglieder im BIA-Sold verächtlich „Apples“: außen rot, innen weiß. Auf dem Reservat Pine Ridge standen sich jetzt beide Fraktionen gegenüber.Für die US-Regierung war das Feindbild von einst sofort wieder zur Hand: Der Protest wurde als Angriff auf die nationale Sicherheit eingestuft. AIM galt als „kommunistisch unterwandert“. Alexander Haig, stellvertretender Stabschef der Army, berief eine Sondersitzung im Pentagon ein. Colonel Volney Warner von der 82. Division der Luftwaffe und Colonel Jack Potter von der Sechsten Armee, beide mit Vietnam-Erfahrung, wurde das Kommando übergeben. Sie einigten sich auf 17 Panzer, dazu Helikopter und Phantom-Bomber nach Bedarf, 130.000 Schuss Munition vom Typ M-16, 41.000 vom Typ M-1, dazu Leuchtraketen und jede Menge Tränengas.Militär im eigenen Land – das war seit dem Bürgerkrieg nicht mehr passiert. Es gab keinen Sonderbefehl des Präsidenten Richard Nixon, der bald über die Watergate-Affäre stürzen würde. Aber es gab einen Beschluss aus den 1960er-Jahren, mit dem Titel Garden Plot (Verschwörung im Garten) auf den sich Haig stützte. Garden Plot sollte zum Tragen kommen, wenn das Sozialgefüge der USA von Bewegungen innerhalb des Landes bedroht war. Für diesen Fall war ein Zusammenwirken aller Verteidigungskräfte vorgesehen: Armee, Marine und Luftwaffe gemeinsam mit der National Guard, den US-Marshals und der Highway Patrol. Zu den Verbündeten vor Ort zählte noch das FBI, verstärkt durch die Reservatspolizei und die Goons, jene Privatarmee des Stammesratsvorsitzenden Dick Wilson.Das Militär rückte an, und mit ihm die Medien. Vielleicht wäre es außer den zwei Toten auf indianischer Seite zu größerem Blutvergießen gekommen, hätte die Belagerung nicht vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit stattgefunden. Der Ausnahmezustand dauerte 71 Tage, in denen die „Independent Oglala Nation“ ausgerufen wurde. Am 8. Mai endete der Aufstand; die Besetzer ergaben sich, die Gesandten der US-Regierung versprachen, den Forderungskatalog zu behandeln, wozu es freilich nie kam. Die anschließenden Strafprozesse gegen die Aufständischen, vor allem ihre Anführer Dennis Banks und Russell Means, boten eine Überraschung: Als Richter Fred Nichols feststellen musste, dass sämtliche Telefonate der Angeklagten mit ihren Anwälten vom FBI abgehört wurden, sich zudem die Regierung weigerte, Gesprächsprotokolle zu Wounded Knee dem Gericht auszuhändigen, stellte er die Verfahren ein. Von Nichols ist der Ausspruch überliefert, er habe bisher an die US-Verfassung, die Flagge und Apple Pie geglaubt – davon sei nur noch der Apfelkuchen geblieben.Washington wollte sichergehen, dass der Widerstand nicht wie ein Lauffeuer auf andere Stammesgebiete übergriff. Unter dem Indianerland lagen wertvolle Bodenschätze: Öl, Kohle, Gold, Uran. Man brauchte kooperative Stammesregierungen. Würden die Reservate künftig von Traditionals kontrolliert, wäre der ungehinderte Zugriff auf die Ressourcen gefährdet. Also blieben FBI-Einheiten weiter vor Ort. Über 60 Reservatsbewohner starben durch Schüsse, die Morde sind bis heute nicht aufgeklärt. Zwei Jahre dauerte der „Reign of Terror“, wie die Zeit von den Betroffenen genannt wurde. Das FBI bildete 2.000 Special Agents auf dem Prärie-Reservat aus. Die Militanz des American Indian Movement, hieß es, rechtfertige das.Wounded Knee klingt nach bis heute. Ohne den Protest vor 50 Jahren gäbe es kein wiedergewonnenes indigenes Selbstbewusstsein, kein Netz unabhängiger Survival Schools und American Indian Colleges, kein Forum für indigene Völker bei der UNO. Doch es gibt auch eine permanente Erinnerung an die Ära des Terrors und der Angst, verkörpert durch Leonard Peltier, der seit 47 Jahren in Sicherheitsverwahrung gefangen gehalten wird. Während des Reservatskrieges kamen 1975 zwei FBI-Agenten und ein indigener Aktivist ums Leben. Peltier, der bei dem Schusswechsel zugegen war, wurde mit erzwungenen Zeugenaussagen und gefälschten Beweisen zu „zweimal lebenslänglich“ verurteilt. Als sich nach Jahrzehnten das Bild des „kaltblütigen Mörders“, den das FBI immer wieder neu beschworen hatte, nicht mehr halten ließ, wurde die Anklage auf „Beihilfe zum Mord“ verändert, das Strafmaß aber beibehalten. Weltweite Aufrufe zu seiner Freilassung blieben ungehört. Papst Franziskus schrieb an die Präsidenten Obama und Biden; der führende Staatsanwalt gab zu, damals falsch gehandelt zu haben; sogar eine FBI-Agentin distanzierte sich im Januar 2023 von der Hasskampagne ihrer Behörde und rief nach Peltiers Freilassung, der heute 78 Jahre alt und schwer krank ist.Placeholder authorbio-1
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