„Liquid Democracy“ ist ein doppelbödiges Experiment: „Liquidieren“ kann „verflüssigen“ bedeuten – Banken werden zum Beispiel liquide gemacht. Es kann aber auch „zur Strecke bringen“ bedeuten – Banken gehen bankrott. Viele Piraten und andere Anhänger des Begriffs Liquid Democracy meinen selbstredend, dass sie erstarrte Politikformen verflüssigen wollen. Dabei nehmen sie allerdings das Mittel für den Inhalt. Wichtig wäre zunächst zu entscheiden, ob der Trend hin zur Postdemokratie beschleunigt oder überwunden werden soll.
Das Unbehagen an den aktuellen Betriebsformen der Politik ist nicht unbegründet: Die „Euro-Rettung“ etwa ist ein Ausbund an Intransparenz. An ihr können weder Bundestag noch Europaparlament noch spanische oder griechische Volksvertreter groß teilnehmen, geschweige denn, dass das europäische Volk in toto um seine Meinung gefragt würde. Krisen sind „Stunden der Exekutive“, die autoritäre Politiker und Intellektuelle immer schon als Reinform staatlicher Politik gefeiert haben.
Was interaktive Politik bringt
Andererseits fehlt heute in keiner Politikerrede der Appell, „die Bürgerinnen und Bürger stärker zu beteiligen“. Schließlich ist selbst die am Kabinettstisch ausgerufene Energiewende überhaupt nur zu schaffen, wenn das Volk mitwirkt. Sogar Volksabstimmungen und Bürgerentscheide sind in den Parteien nicht länger als Anschläge auf die repräsentative Demokratie verpönt, sondern werden als sinnvolle Ergänzung angesehen.
Den Experten und Verwaltern graust es da. Denn wo eigentlich nur „soziale Akzeptanz“ inszeniert werden soll, da fordern die Menschen nun wirkliche demokratische Legitimation. Wo die fehlt, ist künftig weder Atommüll noch Kohlendioxid zu verbuddeln, sind keine Überlandleitungen zu errichten, werden keine Flughäfen erweitert und keine Bahnhöfe modernisiert.
Und da demokratische Aushandlung dauert, sehen viele Kritiker die Effektivität und Effizienz der Politik – also „das was hinten dabei rauskommt“ – gefährdet. Diejenigen etwa, die bei der Energiewende auf die Tube drücken, weil sich das Zeitfenster für erfolgreichen Klimaschutz schließt, fürchten nun langwierige Konflikte.
Kann ein Remix repräsentativer und direktdemokratischer Elemente überhaupt etwas verbessern? Die Stärke der Parteiendemokratie bestand früher darin, effektives Regieren mit demokratischer Legitimation zu verbinden. Auseinanderlaufende Ansprüche wurden durch Parteien im „vorpolitischen Raum“ gebündelt und auf Kompromissfähigkeit getrimmt. Damit waren die Parteien wichtige Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft, die bis in die siebziger Jahre hohes Ansehen genossen.
Letzteres hat sich geändert. Dass aber „die da oben“ mittlerweile unten durch sind, hängt weniger mit dem Qualitätsverlust oder der Charakterlosigkeit der Politiker zusammen. Es hat vielmehr mit den objektiven Voraussetzungen des gegenwärtigen Systems zu tun: der Liquidierung von staatlicher Politik durch die Privatisierung, Globalisierung und Virtualisierung des politischen Raums.
@Globalisierung: Nicht erst die Finanzkrise demonstriert, wie sehr Nationalstaaten selbst vom Format der USA oder Deutschlands an Souveränität verloren haben. Vieles ist längst entschieden, wenn es in die nationalen Parlamente kommt – durch „Brüssel“ oder „die Märkte“, also einem Konglomerat von 200 bis 500 großen Unternehmen. Selbst die überlastete Erdatmosphäre und die geschundenen Tropenwälder, also die Natur, herrschen indirekt mit. Nationale Parlamente stellen oft nur noch einen Schatten demokratischer Kontrolle dar. Ersatzweise müssen internationale Nichtregierungsorganisationen wie der WWF, außerparlamentarische Protestgruppen wie Occupy oder Expertenräte wie der Weltklimarat IPCC die Volkssouveränität substituieren, um nicht zu sagen: simulieren. Die auf den Container des Nationalstaats zugeschnittenen Parlamente können auf die neue Herausforderung kaum noch angemessen reagieren.
@Privatisierung: Im selben Maße wie die Eliten in Politik und Wirtschaft die Kastration des Nationalstaats vorangetrieben haben, haben sie privat-öffentliche Netzwerke gefördert, ohne die der Anspruch, in alle denkbaren Lebensbereiche zu intervenieren, gar nicht denkbar wäre. Im Politologenjargon: An die Stelle von Government ist Governance getreten, also eine „flüssige“ Kooperation privater und öffentlicher Akteure. Das kann fallweise sehr segensreich sein, weil es den Bürgern mehr Freiheit und Autonomie verschafft, es kann aber eben auch mappusianische und mafiöse Formen annehmen.
@Virtualisierung: Den ersten „virtuellen Ortsverein“ haben nicht die Piraten, sondern – man denke nur – die ollen Sozialdemokraten vor Jahren ins Leben gerufen. Digitale Medien haben die schon länger bestehende Tendenz beim Publikum befördert, sich nicht länger als zahlende Mitglieder in Organisationen einzuschreiben, sondern eher informell, ad hoc und ohne klaren räumlichen Bezug politisch zu betätigen. Liquid Democracy ist ein konsequenter Ausdruck dieser Virtualisierung, weil sie Bürger X nicht mehr durch Politiker U repräsentieren lässt, sondern U in der unterstellten Schwarmintelligenz aufgehen lässt, wobei ihm diverse Algorithmen und Follower-Pfade den Weg weisen.
Im besten Fall kann Liquid Democracy die Vision deliberativer und interaktiver Demokratie neu erfinden, also dem Demos wirklich wieder eine Plattform für die öffentliche Erörterung öffentlicher Probleme geben. Dafür müsste allerdings ein grenzüberschreitender Raum von global commons – globaler Allmendegüter – abgesteckt werden, von denen ein frei zugängliches Netz nur eines ist. Damit kann im allerbesten Fall sogar eine Arena des Gabentausches geschaffen werden, die die Welt aus dem Würgegriff des bankengetriebenen Geldverkehrs befreit.
Das wird mit der heutigen Gestalt des Internets aber nur schwer gelingen. Zumindest solange das Netz in den Händen von Microsoft, Google, Facebook und Twitter liegt und solange deren Dienste nicht auf den Rang von Werkzeugen zurückgestutzt werden, die einem politisch definierten Zweck dienen sollen. An sich sind diese Tools noch keine genuinen Mittel der Demokratisierung der Demokratie, sondern Fetische einer Öffentlichkeit, die durch privat-kommerzielle Interessen zugerichtet ist. Und die das fördert, was Netz-Kritiker immer schon befürchtet haben: einen elektronischen Populismus, der dann bei Volksentscheiden und auf der Straße rabiat wird.
Die Vertreter einer liquideren Demokratie haben allerdings eine Chance, wenn sie auf zwei große Herausforderungen eine rasche und praktikable Antwort finden: die Organisation der Willensbildung im Bereich der Energiewende und die Zukunft der europäischen Integration.
Der Zukunft eine Kammer
Zu Recht haben sich Volksvertreter und Verfassungsrichter gegen das Durchregieren der Exekutive in der Finanzkrise gewehrt. Ihre Antworten greifen aber immer wieder auf die nationalstaatliche Volkssouveränität zurück – und bleiben sprachlos, wenn es um die Entwicklung der europäischen Demokratie geht. Neben dem Einsatz für die Aufrüstung des Europäischen Parlaments zu einem Voll-Parlament könnten sich die Netizen daher an den Aufbau einer genuin europäischen Öffentlichkeit machen. Verfassung und Verfasstheit Europas sind die zeitgemäßen Gegenstände eines virtuellen Ratschlags, der Volksentscheiden vorangehen muss.
Nicht anders verhält es sich mit der Energiewende. Auch hier können netzpolitische Aktivitäten die Selbstverständigung der deutschen und europäischen Gesellschaft unterstützen – weiter so mit einem Kapitalismus, der blind auf Wirtschaftswachstum setzt, oder anders mit erneuerbaren Energien, fairem Handel und demokratischem Frieden. Lokale Agenden, wo zum Beispiel welche Stromtrasse verlaufen soll, sind dabei ebenso wichtig wie überlokale Herausforderungen, wo etwa das Endlager für atomaren Müll errichtet werden soll.
Damit werden die Einrichtungen der repräsentativen Demokratie nicht überflüssig, auch nicht die Parteien. Aber im Konzert der Gewaltenteilung bildet sich neben Exekutive, Legislative und Judikative eine vierte „Zukunftskammer“ der Bürger, die vernünftige Entscheidungen vorbereitet und kommuniziert. Wenn es den Piraten oder einer anderen Partei gelingt, dafür eine niedrigschwellige Beteiligungsplattform aufzubauen, machen sie sich gegen die herrschende Postdemokratie stark. Wer sich dagegen in den Raum des Netzes zurückzieht, flieht vor den Herausforderungen demokratischer Politik.
Claus Leggewie ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Der Demokratieforscher hat mit Christoph Bieber das Buch Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena herausgegeben (Transcript Verlag)
Dieser Text ist Teil des Freitag-Spezial "Liquid Democracy - eine Anleitung". Die weiteren Beiträge:
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