Es werde Licht

Essay Vor 60 Jahren begann mit den Römischen Verträgen die europäische Integration. Heute ist sie gefährdet. Wie Europa Armut, Arbeitslosigkeit und Populismus trotzen kann
Ausgabe 12/2017
Kampf um die Sterne
Kampf um die Sterne

Montage: der Freitag, Material: Getty Images

Nach dem überraschenden Ausgang des Brexit-Referendums und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten haben viele Europäer auf Defätismus und das Erwarten der nächsten Niederlage umgeschaltet. Sie sahen Wahlsiege der Rechtspopulisten Geert Wilders und Marine Le Pen als unausweichlich an. Ersterer ist nun schon abgewendet, Letzterer ziemlich unwahrscheinlich – kann man seinen Pessimismus nun auf die allfällige Wahl Beppe Grillos in Italien oder die deutsche Bundestagswahl im September mit einer starken AfD projizieren?

Bereits mit der Installation des ersten grünen Staatsoberhaupts in der Wiener Hofburg im vergangenen Dezember war aber, ganz knapp, die Trendwende erkennbar. Nicht nur die autoritären Nationalisten mobilisieren ihre Anhänger, darunter viele Nichtwähler, mobilmachen können auch die Mitte und die Linke. Und Frankreich hat mit Emmanuel Macron einen Kandidaten, der Europa ausdrücklich zur Zentralachse seines Projekts gemacht hat. Das unverstellte Bekenntnis zu einer lebendigen Europäischen Union kann alles wenden. Veranstaltungen landauf, landab und zu Zehntausenden frequentierte Demos zeigen, dass Europa als Thema wieder da ist und namentlich junge Menschen antreibt, aus der Passivität einer sicher geglaubten Lebensform herauszutreten. Und es damit nicht allein einigen EurOPAs (wie mir) oder der Antifa zu überlassen, sich gegen Nationalisten zur Wehr zu setzen.

Das Gift der Rechten

Aber nur keine Illusionen. Erstens ist die völkisch-autoritäre Rechte nicht passé mit ihrer populistischen Methode, Schwächen von Euro und EU, reale und gefühlte Ungleichheit, Widrigkeiten der Globalisierung und eine verbreitete Zukunftsangst gegen „die da oben“ (Politik, Medien, Gerichte, Experten, Wissenschaft, Linksliberale) und Fremde zu wenden. Ihre Parteien und Bewegungen haben ein gewaltiges – und im Zweifel auch gewalttätiges – Potenzial.

Und Wut, Ressentiments und Verschwörungsdenken werden virulent gerade, wenn die bürgerliche Mitte und die liberale Bürgergesellschaft sich wieder Platz verschaffen und unter Beweis stellen, dass sie, die Anhänger offener Gesellschaften, „das Volk“ in seiner Mehrheit repräsentieren, nicht die Identitären, die gern „Wir sind das Volk!“ skandieren. Ihr Gift ist tief in die europäische Gesellschaft eingedrungen, der Rassismus gesellschaftsfähig; emanzipierte Frauen spüren Gegenwind und es ist kein Zufall, dass sie in der Regel deutlich weniger zum Autoritarismus neigen, selbst wenn dieser auf den Namen Marine hört.

Karte: der Freitag; Material: Getty Images/Imago

Zweitens ist es mit der abstrakten Verteidigung einer EU nicht getan, wenn deren Schwächen und Probleme nicht angesprochen werden. Wenn ich am 25. März nach Rom fahre und am 60. Jahrestag der Römischen Verträge hoffentlich mit einigen zehntausend Gleichgesinnten für die Europäische Union demonstriere, dann bekenne ich mich nicht zu dem Europa, wie es sich gegenwärtig präsentiert: lasch, zerstritten, ziellos. Nicht demokratisch, nicht gerecht, nicht nachhaltig genug. Mit Parlaments- und Kommissionspräsidenten, denen der Degout im Gesicht steht. Die das Mittelmeer zur Todeszone erklären und zur Jugendarbeitslosigkeit kein Gegengift gefunden haben.

Ich rufe den Exiteers in London, Rotterdam, Mailand, Wien und Paris nicht einfach zu: mehr Europa! Demonstrieren werde ich für ein besseres und anderes Europa – gerechter, nachhaltiger und demokratischer. Das finde ich kaum in Jean-Claude Junckers vor kurzem veröffentlichten Weißbuch. Da führt keines seiner fünf Szenarien hin, es fehlt dort an vielem.

Drittens ist Europa von echten Feinden umgeben. Der türkische Staatschef läuft auf seinem Weg in die Alleinherrschaft Amok und trägt den von ihm initiierten Bürgerkrieg ins Herz Europas. Die Ambitionen Wladimir Putins, die EU zu spalten und den geopolitischen, also eurasischen Kern der Sowjetunion zu reanimieren, dürften nun dem letzten Putinbegeisterten aufgegangen sein. Und wenn Putin nicht die Idee, Institution und Sicherheitsarchitektur des Westens herausforderte, würde das der erste Mann in den USA auf seine vulgäre, unwissende und chaotische Weise erledigen – ganz gleich, ob sich die alten Schutzmächte zur gemeinsamen Herrschaft über Europa verabreden oder sich in riskanten Manövern neu verfeinden.

Europa hat Feinde, und es wird Zeit, aufzuwachen und den Weckruf aus der Peripherie als Anlass einer europäischen Unabhängigkeitserklärung zu nehmen, was bitte sehr nicht den Rückzug in die Festung meint, sondern selbstbewusstes Auftreten in den Arenen globaler Kooperation für die Sicherung globaler Gemeingüter, beginnend mit dem Aufhalten des gefährlichen Klimawandels, den die Autokraten in Washington, Moskau und Ankara verleugnen.

  • Schottland
    Die bereits sehr komplizierte Situation im Vereinigten Königreich verschärfte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon gerade noch, indem sie ankündigte, ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands anzustreben. Eine Mehrheit der Schotten hatte bei der Brexit-Abstimmung für den Verbleib in der EU votiert.

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  • Großbritannien
    „Brexit bedeutet Brexit“, sagte Theresa May , nachdem sie nach dem Brexit-Referendum Premierministerin geworden war. So ganz klar darüber, was ein EU-Austritt nun genau bedeutet, ist man sich im Vereinigten Königreich aber noch nicht. Jedenfalls streitet man sich über weiche und harte Varianten. Und darüber, wie viel Mitsprache das Parlament haben soll. Am 29. März will May nun offiziell den EU-Austritt in Brüssel beantragen. Dann bleiben zwei Jahre, um die Regularien dafür zu verhandeln.

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  • Polen und Ungarn
    Sowohl Jarosław Kaczyński, Chef der polnischen Regierungspartei PiS, als auch der ungarische Regierungschef Viktor Orbán wettern nur allzu gern gegen die EU und scharen mit diesem Feindbild ihre Anhänger um sich. Ihre Ausfälle werden dabei umso schärfer, je deutlicher die Hinweise aus Brüssel werden, dass zur EU-Mitgliedschaft auch die Verpflichtung zum Rechtsstaat und zu Mindeststandards beim Umgang mit Minderheiten und Flüchtlingen gehören.

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  • Griechenland
    Anders als in deutschen Medien oft dargestellt, ist die Regierungspartei Syriza nicht anti-, sondern proeuropäisch. Auch Yanis Varoufakis kämpfte als Finanzminister um den Verbleib Griechenlands im Euro und in der EU. Seit er aus dem Amt geschieden ist, arbeitet er mit der Organisation DiEM25 an Reformvorschlägen für ein gerechteres Europa.

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  • Deutschland
    Ein Sieg von Martin Schulz bei der Bundestagswahl im September könnte auch frischen Wind für die europäische Integration bedeuten. Kaum ein Politiker auf dem Kontinent ist über nationale Grenzen hinweg so gut vernetzt wie der langjährige Präsident des EU-Parlaments. Und Schulz könnte auch Schluss machen mit einer deutschen EU-Politik, die nur auf Austeritätsziele starrt.

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  • Frankreich
    Ein Land streitet um seine Zukunft in Europa. Im laufenden Präsidentschaftswahlkampf deutet einiges auf eine Stichwahl zwischen dem überzeugten Europäer Emmanuel Macron und der rechten EU-Hasserin Marine Le Pen hin. In ihrem Programm hat Le Pen angekündigt, die Franzosen über einen Frexit abstimmen zu lassen. Macron will dagegen „ein starkes Europa“. Und er will beweisen, dass man mit einer proeuropäischen Haltung auch Wahlen gewinnen kann.

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  • Niederlande
    Zu den Überraschungen der Parlamentswahl vergangene Woche zählte nicht nur, dass Geert Wilders weit davon entfernt blieb, seine PVV zur stärksten Partei zu machen. Eine Überraschung war auch das Abschneiden von Jesse Klaver und seiner Partei GroenLinks. Mit einem dezidiert linken und europafreundlichen Programm gewannen die Grünlinken vor allem bei den Jungen dazu.

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Viertens bleiben die Flüchtlingsfrage, die Europa tief gespalten hat, und die Gefahr dschihadistischer Anschläge virulent, die – auch wenn sie nur locker verknüpft sind – von der seltsamen Internationale der Nationalisten gegen Europa ins Feld geführt werden. Wenn sich die Fluchtbewegung aus den Bürgerkriegs- und Armutsregionen Afrikas und Asiens wieder verstärkt (und es gibt keinen Grund, dass das nicht der Fall sein sollte), wenn dann der IS und seine Bataillone in den Vorstädten erneut Terrorangst verbreiten und sich Muslime unter Loyalitätszwang mit ihren selbsternannten Kalifen und Sultanen setzen lassen, dann kann sich aus diesem brisanten Gemisch jederzeit eine neue autoritäre Welle bilden.

Zusammen mit dem algerischen Schriftsteller Boualem Sansal habe ich kürzlich eine euromediterrane Sicherheitskonferenz angeregt, die sich ernsthaft mit Radikalisierung und Fluchtursachen auseinandersetzt. Und die dabei ebenfalls Entwicklungschancen in dieser Region ausmacht, die etwa im Bereich der Energiewende liegen könnten. Das Europa, das sich dabei neu bildet, ist allgemein von einer Trias geleitet: Es braucht mehr demokratische Teilhabe, mehr ökologische Nachhaltigkeit, mehr Solidarität.

Das sind fünftens dann auch Wege zu mehr Generationengerechtigkeit. Die Generation EU, die sich gerade regt und bei Pulse of Europe oder Praxis Europa mitwirkt, die bei DiEM25 und vielen anderen Bewegungen dabei ist, wird sich enttäuscht abwenden, wenn sich die Politiker der EU allein auf sichere Arbeitsplätze und Renten für die über 50-Jährigen konzentrieren, während ihnen Prekarisierung und Unsicherheit drohen. Der Maßstab gilt übrigens auch für viele Ideen, die im Milieu von Podemos und Syriza oder beim französischen Linken Jean-Luc Mélenchon traktiert werden – national-keynesianischer Besitzstandswahrungssozialismus mit antideutscher Spitze.

Von dieser Kritik unbenommen ist, dass es jetzt keinen Wettbewerb um die beste Europainitiative geben darf, sondern eine Pluralität diverser Proeuropäer, die den Gegner nicht in Berlin oder Brüssel, sondern eher in den Führungsetagen des Finanzkapitals und bei steuerflüchtigen Oligarchen sehen. Der auf Fremde und Flüchtlinge verschobene Klassenkampf muss stattdessen ausgerichtet werden auf die wirklichen Verursacher von Ungerechtigkeit und Ungleichheit.

Sechstens muss man über Bekenntnisse zur Seele Europas, zum Institutionensystem der EU und den europäischen Werten hinaus konkrete Aufgabenfelder der europäischen Gesellschaft benennen, nicht rein nationale Projekte, die dann intergouvernemental verhandelt und auf den kleinsten Nenner zurechtgeschliffen werden. Es bedarf konkreter sozial-, wirtschafts- und bildungspolitischer Ziele, die länderübergreifend den Weg zur Sozial- und Steuerunion bahnen und etwa mit einem Erasmus-2.0-Programm und einer angemessenen Digitalisierung einen europäischen Raum für Kommunikation und Kreativität schaffen.

Auch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) muss in Richtung auf eine Verteidigungsunion erweitert werden, die am Ende eine gemeinsame Armee und eine koordinierte Entwicklungszusammenarbeit einschließen wird. Dazu gehört aus meiner Sicht, Waffenexporte in Krisengebiete sofort einzustellen und Afrika ins Zentrum der globalen Kooperation zu rücken. Während seiner G20-Präsidentschaft muss Deutschland entsprechende Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsinitiativen der G20 anregen und seine längst verlorene Vorreiterrolle in der Energie- und Industriepolitik erneuern.

Klare Ansagen wirken

Siebtens kommt nicht alles, aber eben vieles auf Deutschland an, den zurückhaltenden Hegemon in Europa. Dass Deutschland ein europapolitischer Vorreiter ist, kann man wirklich nicht behaupten. Angela Merkels Stil ist viel zu sehr auf Halten und Bewahren angelegt, und ihr Herausforderer Martin Schulz hat seine Europabegeisterung offenbar schon hinter sich – das Gros seiner aktuellen Vorschläge bezieht sich auf den Nationalstaat.

Es hat sich aber gezeigt, dass klare Ansagen von Alexander Van der Bellen in Österreich, Emmanuel Macron in Frankreich und Jesse Klaver in den Niederlanden, die eine junge Anhängerschar hinter sich wissen und außerparlamentarisch offen sind, gefruchtet haben. Es ist bedauerlich, dass die europapolitischen Konzepte der deutschen Grünen nicht so attraktiv sind, aber auch hier herrscht oft eine fast merkelhafte Verhaltenheit.

Während Merkel und Schäuble mit ihrer Austeritätspolitik gescheitert sind, ist unklar, wie ein eventuelles Linksbündnis nach der Bundestagswahl europapolitisch vorgehen würde – besser nicht in Anverwandlung „lateinischer“, gegen Berlin und Brüssel gerichteter Strategien, wie sie Benoît Hamon, der abgeschlagene Kandidat der französischen Sozialisten, im Auge hat. Diese programmatische Leerstelle ist ärgerlich, denn europäische Initiativen in der Umwelt- und Energiepolitik, auch zur Verkehrswende, zur Berufsbildung und zum digitalen Europa liegen ausgearbeitet vor.

Der passable Wahlausgang in den Niederlanden könnte zu der Schlussfolgerung verleiten, man müsse dem schlechten Populismus nur einen guten Nationalismus à la Mark Rutte entgegensetzen. Das führt in der Regel aber zur Bestätigung des Originals, wie Geert Wilders schon ganz gelassen meinte. Möge also der proeuropäische Aufstand am 25. März den parteipolitischen Eliten Dampf machen und sie zu einer Initiative für ein besseres Europa bewegen! Ein anrührendes, unter Europafreunden zirkulierendes Video zeigt, was ein kleines Mädchen, das einem Straßenmusiker eine Münze in den Hut wirft, auslösen kann. Nach und nach treten immer mehr Musiker mit ihren Instrumenten hinzu, bis ein ganzes Orchester auf der Straße Beethovens Ode an die Freude spielt. Passanten bleiben stehen und stimmen in den vielköpfigen Chor ein. Und so entsteht – eine europäische Sinfonie.

Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Zuletzt veröffentlichte er: Anti-Europäer. Breivik, Dugin, al-Suri & Co. Im September erscheint von ihm Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitserklärung

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