Macht macht erfinderisch

Basisdemokratie Der dauernde Zoff bei den Piraten bestätigt all jene, die schon immer ahnten: Hierarchiefreie Debatten funktionieren nicht
Macht macht erfinderisch

Foto: Patrik Stollarz / AFP / Getty

Wer über innerparteiliche Demokratie streitet, nennt einen Klassikernamen immer zu recht: das schon 1911 veröffentlichte Buch Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie von Robert Michels, in dem er „die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens“ untersucht hat. Sein Fall war die deutsche Arbeiterbewegung, namentlich die damals offiziell noch revolutionäre SPD. Michels’ Verdikt war vernichtend: „Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie“. Was er dann zum Gesetz jedweder sozialen Bewegung erhob: „Die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden.“

Michels These, dass jede Partei sich zu einer Herrschaft weniger über viele entwickelt, dass also „echte Basisdemokratie“ im emphatischen Sinn nicht funktioniert, scheint die Piratenpartei gerade zu bestätigen: Keinem Online-Votum, keiner Parteitagsabstimmung ist es gelungen, den Richtungsstreit zwischen den sozialliberal und den emanzipatorisch Orientierten im Parteivorstand zu entscheiden. Welchen Kurs die Piraten einschlagen, werden nun wohl diejenigen entscheiden, die den aktuellen Machtkampf gewinnen.

Die Gründe für den Hang zu Machtzirkeln liegen laut Michels im Wesen von Organisationen begründet. Er nannte die Herausforderung, große Menschenmengen mitwirken zu lassen, das „Verehrungsbedürfnis“ der Mitglieder und die auch intellektuell überlegene Ausstattung von Berufspolitikern. Bei ihnen sammeln sich Statusmacht, Reputation, Wissen und Geld.

Die optimale Demokratie wäre demnach eine mehr oder weniger von unten legitimierte Elitenherrschaft. Zwei Tendenzen können hier postdemokratisch zusammenfließen: die Abschottung der „politischen Klasse“ und die freiwillige Abdankung einer passiven Mitgliederbasis. Robert Michels zog für sich übrigens eine praktische Konsequenz: Er wurde zum Anhänger Mussolinis, ließ sich in Italien einbürgern und als Professor an einer faschistischen Kaderschmiede in Perugia einstellen.

Gegen seine These spricht das nicht, aber gegenüber eisernen Gesetzen in politischen Fragen ist Skepsis angebracht. Die ohne Zweifel quer durch alle politischen Lager erkennbaren Tendenzen zur Wenigen-Herrschaft werden nämlich immer wieder durchkreuzt. Innerparteiliche Demokratie ist in Artikel 21 des Grundgesetzes und im Parteiengesetz verankert, Möglichkeiten zur Initiative, Mitwirkung und Abwahl des Funktionärskaders gibt es genug. Und tatsächlich gibt es immer wieder Wellen der Mobilisierung „von unten“, die Oligarchen verscheuchen. Wetten, dass bald selbst Putins Kamarilla gehen muss?

Experimente helfen

Die Entwicklung der Grünen, deren anfänglich basisdemokratische Struktur unterdessen einer ordentlichen Hierarchie gewichen ist, gibt Michels auch nur teilweise recht. Denn ganz hat die Partei ihre Ambitionen nicht aufgegeben, und die heilsame Konkurrenz der nächsten Antipartei der Piraten führt gerade bei den Grünen zu einem erstaunlich offenen Beratungsprozess des Wahlprogramms. Dabei werden Elemente des Liquid-Democracy-Experiments gewissermaßen „zu Fuß“ und analog umgesetzt. Das Auftreten der Konkurrenz, in der ein neuer, generalistischer und aktivistischer Typus von Parteimitglied aufgetreten ist, veranlasste auch die Lenker der großen Volksparteien dazu, häufiger an Deck zu gehen und ihrer Mannschaft zu lauschen.

Das Problem ist dabei natürlich das Gros der Parteimitglieder, von denen die meisten Karteileichen sind. Die aktive Minderheit ist an einer partizipatorischen Revolution in ihrer Partei und auch an Transparenz weniger interessiert als daran, am Machterwerb der Partei durch Posten und Lobbyeinfluss teilzuhaben.

Die Utopie der hierarchiefreien Partei wird von der disziplinlosen Führung der Piraten gerade blamiert. Hier kann man erleben, wie eine Parteibasis, die programmatisch nicht auf Machtteilhabe aus ist, den Machtwettbewerb einer Partei behindert. Wozu aber sind die Piraten dann gut? Egal, wer den internen Machtkampf für sich entscheidet: Liquid Democracy bleibt als mögliches Mittel gegen die Repräsentationskrise der Politik interessant. Dieses Format bietet die Flexibilität, sich als Mitglied eine Meinung zu bilden, Prioritäten zu setzen und Stimmen dosiert zu delegieren. Das erscheint aussichtsreicher als die meist von Populismus getriebene „Basisdemokratie“ durch das Fallbeil des Mitgliederentscheids.

Liquid Democracy ist eine Lockerungsübung der repräsentativen Demokratie, die durch „neue“ Technologien erleichtert wird und in Bürgerbeteiligungsprozessen Anwendung finden kann. Michels’ Pauschalkritik war von revolutionärer Ungeduld getrieben. Selbst wenn die Piratenpartei scheitern sollte, darf das nicht zu falschen Schlüssen verleiten: Wir müssen uns Zeit nehmen für Experimente partizipatorischer Demokratie.

Claus Leggewie ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen

AUSGABE

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 8/13 vom 21.02.20013

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden