Anfang des Jahres haute die EU-Kommission das „Juncker-Papier“ heraus, mit fünf Szenarien zur Zukunft der Europäischen Union zwischen „Macht euren Kram doch alleine!“ und: „Was habt ihr denn für Ideen zu Europa?“ Der Brexit-Schock saß tief, das Weiße Haus bezog der Anti-Europäer Donald Trump, seine Fellows Geert Wilders und Marine Le Pen riefen an der Wacht am Rhein zum Sturm auf die EU. Ein paar Monate danach erfreut sich die Union wieder größerer Beliebtheit. Theresa May und Trump müssen die Suppe auslöffeln, die sie eingebrockt haben, das christliche Abendland hat mal Sendepause, die AfD schrumpft und im Elysée regiert Emmanuel Macron, der glaubhaft alles auf die europäische Karte gesetzt und mit „Lust auf Zukunft“ gewonnen hat.
Alles gut? Nicht wirklich. Das liegt vor allem an der europapolitischen Erstarrung Berlins. Dass sich über Monate hinweg auf Straßen und Plätzen tausende Pro-Europäer unter blau-gelben Flaggen versammelt haben, scheint Kanzlerkandidaten aller Parteien kaltzulassen. Längst ist eine europäische Gesellschaft mit hoher Binnenmobilität und unübersehbarem Migrationshintergrund gewachsen, und jedem müsste klar sein, dass sich keine einzige große Herausforderung – exemplarisch die Energie- und Verkehrswende, um ehrgeizige Klimaziele zu erreichen – mit nationalen Bordmitteln lösen lässt. Wir sitzen im selben Boot: Deutsche betreffen die Attacken auf die Gewaltenteilung und die Demokratie in Ungarn und Polen genauso wie der in die französische Nationalversammlung eingebrachte Gesetzentwurf zur „Moralisierung der öffentlichen Politik“ (alias Korruptionsbekämpfung). Es gibt in Europa keine Außenpolitik mehr, Einmischung in innere Angelegenheiten ist unvermeidlich geworden.
Kanzlerin kleiner Karos
Zumal drei Fehdehandschuhe gegen Europa geschleudert worden sind: durch den autoritären Nationalismus Amerikas, die Aggressivität der russischen Oligarchie und den Islamismus in dschihadistischer und AKP-Montur. Doch in Berlin, Sitz der europäischen Hegemonialmacht und der mächtigsten Politikerin der Welt, werden kleine Karos über saubere Diesel und sichere Renten gemalt. Nicht, dass diese Themen unwichtig wären, es mangelt ihnen aber an europäischem Format. Wir in Europa beschwören ehrwürdige Werte (oder unsere gute Küche), bilden aber keine effektive Handlungsgemeinschaft. Wenn Stalin im Kalten Krieg einmal als ungewollter Promoter der (West-)Europäischen Union galt, kann man das bislang für das Trio Infernale Trump, Putin und Erdoğan nicht behaupten. Das entschiedene „Europa zuerst!“ lässt auf sich warten. Und ein solches ist das genaue Gegenteil von Trumps weißem Nationalismus und Protektionismus, von dem sich Europa unabhängig erklären und zugleich eine weltoffene Politik gestalten muss. Eine Unabhängigkeitserklärung beginnt am besten mit „We, the people“.
Angela Merkel, deren Elogen am Grab des „großen Europäers“ Helmut Kohl noch im Ohr sind, zaudert, Martin Schulz, dessen Zeit im EU-Parlament nicht so lange her ist, will ihr keinen Europa-Wahlkampf aufzwingen. Die grünen und liberalen Koalitionsanwärter bekommen den Macron-Schwung aus der Mitte auch nicht hin, dabei hat Frankreichs Präsident die biestigen Nationalisten links und rechts außen nicht mit üblichen Brot-und-Butter-Versprechen bezwungen, sondern – gegen eine angeblich Europa-averse öffentliche Meinung! – mit der Beteuerung einer offenen Gesellschaft, die mit den Nachbarn kooperiert und Europa anders als bisher vergemeinschaftet. Dass er nun als Erstes eine Werft verstaatlicht, Flüchtlinge aus dem Süden und Leiharbeiter aus dem Osten abschreckt, ist enttäuschend, könnte aber damit zu tun haben, dass Berlin den jungen Mann in Paris mal werkeln lässt und seine Avancen auf die lange Bank schiebt, bis diese oder jene Koalition ihre Arbeit aufgenommen hat.
In Zeiten des Brexits
Europapolitik Besorgt klingen die Wahlprogramme bei allen Parteien, wenn es um die Zukunft Europas geht. Nur der AfD ist der Brexit ein willkommener Anlass, um an ihre Anfänge als monothematische Anti-Euro-Partei zu erinnern. Die AfD fordert den Ausstieg aus der Währungsunion und die Wiedereinführung der D-Mark. Es sei Deutschlands Aufgabe, für Europa ein Anker der Stabilität zu sein, befinden hingegen CDU und CSU. Eine Vergemeinschaftung der Schulden schließen sie aber kategorisch aus. Das klingt nach einem „Weiter so“ in der Griechenland-Politik. SPD und FDP fordern EU-Reformen, aber mit unterschiedlicher Stoßrichtung. Die SPD will eine gemeinsame Wirtschaftsregierung, die FDP einen EU-Außenminister und einen europäischen Grenzschutz. Grüne und Linkspartei sprechen explizit von einer Krise. Die Linke will einen EU-Neustart mit neuen Verträgen und mehr Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten, die Grünen fordern einen europäischen Zukunftsfonds.
Europa ist die Lösung. Das Problem ist Deutschland, der größte Nutznießer des Status quo, dessen Selbstgerechtigkeit die europäische Peripherie empört. Berlin redet die deutsch-französische Achse schön, arretiert sie aber eher. Bürgerinnen und Bürger auf beiden Seiten des Rheins haben da bessere Ideen, wie man sie flottbekommt; sie beschränken sich nicht auf das durchaus mit Vorbehalt betrachtete couple franco-allemand, sondern erweitern ihre europäische Ambition nach Osten und Süden. Alte Ideen eines lateinischen Europas, die Nicolas Sarkozy mit seiner Mittelmeerunion verfolgte, sind ebenso obsolet wie eine deutsche Domäne in Ostmitteleuropa, und damit das häufig beschworene Europa der zwei Geschwindigkeiten. Vielmehr muss man Polen und Ungarn die Alleingänge ausreden und den dortigen Demonstranten Mut machen, die beharrlichen auf dem Maidan für Europa kämpfen, und den Menschen im Baltikum – wie jüngst der Bundespräsident – Beistand gegen russische Drohkulissen signalisieren. Es wäre überhaupt gut, wenn wir Europa-Saturierten öfter Zeit in diesen Landstrichen verbringen, um zu lernen, wie wichtig Europa als politische Kultur und als verfasste Institution dort genommen wird.
Diese EU kann sicher nicht bleiben, wie sie ist, aber sorgsam gehütete Grale nationalstaatlicher Souveränität sind erst recht passé. Auf der Tagesordnung stehen eine Fiskalunion, die massives Steuerdumping beendet und -schlupflöcher schließt, eine Sozialunion, die Massen- und Jugendarbeitslosigkeit effektiver bekämpft und „soziale Gerechtigkeit“ nicht als nationale Aufgabe betrachtet, des weiteren eine Sicherheitsunion, die Lücken der inneren und äußeren Sicherheit schließt, und eine europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik, die Solidarität wiederherstellt. Und die erwähnte Energieunion muss ein Patchwork unterschiedlicher Fossil-, Nuklear- und Alternativregime ablösen, um die in Washington, Canberra und Ankara leichtfertig widerrufenen Klimaziele erreichen zu können. Damit kann Europas altindustrielle Fixierung durch ein unternehmerisch reizvolles Projekt nachhaltiger Entwicklung korrigiert werden.
Provinzdenken erweist sich beim deutschen Lieblingsthema Automobil – in Berlin, Stuttgart und München glaubt man wohl, Deutschland könne den anstehenden Strukturwandel der Mobilitätsbranche alleine bewältigen, ausgerechnet in dem Sektor, der gerade das meiste Vertrauen verspielt hat. Eine europapolitische Direktmaßnahme ist, schleunigst von dem hohen Ross zu steigen, von dem Berlin allseits „Hausaufgaben“ verteilt. Der deutsche Exportüberschuss, wesentlich dem Automobilsektor zu verdanken, stellt „the German problem“ (Economist) dar, und diesbezüglich zeigt die Berliner Wagenburg nicht die mindeste Einsicht.
Mit dem bewährten Slogan „It’s the economy, stupid!“, wonach am Ende Wahlen entscheiden, wie viel die Menschen im Portemonnaie haben, hat Bill Clinton vor einem Vierteljahrhundert gesiegt. Macron hat dagegen mit einem „It’s Europe, stupid!“ alles auf eine Karte gesetzt. Wem der Wahlkampf bei uns zu langweilig ist, der kann Europa zum Gegenstand des Streits machen. Aber konkret: Außer der AfD sind eigentlich alle „für Europa“, doch dann walzen Weltpolitiker wie Jens Spahn oder Christian Lindner mit dem Schreckwort „Eurobonds“ jeden Neuansatz der Finanz- und Investitionspolitik platt. Ein europäisches Finanzministerium ist in Schäubles Wilhelmstraße kein Thema, obwohl Europa in die nächste Finanzkrise rauscht; CO2-Steuer, die Reform des darniederliegenden Emissionshandels und die Finanztransaktionssteuer sind liegen geblieben. Berlin scheint eine europäische Finanzpolitik nur etablieren zu wollen, um stärker verschuldete Haushälter gefügig zu machen und unverdienten Kollateralnutzen auszudehnen. Auch in Sicherheitsfragen verlässt sich Berlin auf verbündete Militärmächte und Geheimdienste, deren Unzulänglichkeit mit jedem Anschlag in europäischen Groß- und Kleinstädten sichtbarer wird.
Runter vom Ross!
Brückenschläge sehen anders aus. Sie verlangen nach einer anderen Sprache und nach Vorhaben, die angesichts der global vorherrschenden Niedergeschlagenheit utopisch wirken mögen. Was spricht denn gegen eine französisch-deutsche Konföderation im europäischen Maßstab, die nicht nur Finanzkrise und Terrorabwehr auf die Tagesordnung setzt, sondern eine echte Beteiligungsdemokratie entwickelt, auch im digitalen Raum – und damit dem neuen EU-Plastikwort „Digitalisierung“ eine bürgernähere Dimension verleiht? Was ist gegen eine europäische Arbeitslosenversicherung, Experimente mit dem Grundeinkommen und gegen Erasmus-Programme zu sagen, die jungen Europäern Bildungsräume und Handlungschancen eröffnen? Nicht zuletzt braucht es Initiativen mit Afrika, um der Phrase von der „Bekämpfung der Fluchtursachen“ Sinn zu verleihen.
Zu all dem können bestehende Netzwerke in Grenzregionen, reanimierte Städtepartnerschaften und alle Begegnungen beitragen. Sie machen die europäische Gesellschaft erfahrbar und bringen in einem täglichen Plebiszit überzeugte Unionsbürger hervor.
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