Kunst aus Gewalt

Ausstellung Bruno Schleinstein wurde misshandelt und weggesperrt – und verarbeitete das mit zartem Strich
Ausgabe 33/2020

Es ist kein Wunder, dass einer den Menschen misstraut, der von frühester Kindheit an sein Leben in Erziehungsheimen fristen musste, 1941 dann in eine für skrupellose Menschenversuche berüchtigte Nervenklinik gesperrt wird, um erst 17 Jahre später nach einer endlosen Odyssee von Ausbruchsversuchen und Zwangseinweisungen endlich „frei“ zu sein. Wie frei ist man dann noch? Man würde vielleicht annehmen, dass so viel Gewalt einen Menschen zerbrechen lässt. Der Künstler, Schauspieler und Musiker Bruno Schleinstein (1932 – 2010) hat ebendieses Schicksal erlitten, sich jedoch von niemandem davon abbringen lassen, in Zeichnungen, Texten, Fotos und Gouachen darüber zu sprechen, wie man trotz eines eiskalten Orkans aus widrigen Umständen die Welt einfühlsam beobachten und ihre erratischen Geschichten zu verstehen suchen kann.

In der Kölner Galerie Delmes & Zander ist nun eine Auswahl wundervoller Zeichnungen, Skizzen, Fotos und Materialien von Bruno Schleinstein zu sehen. Schleinstein war Autodidakt, es gab in seinen ersten Lebensjahrzehnten wohl niemanden, der ihn als gleichwertiges Gegenüber, geschweige denn als Künstler wahrgenommen hätte. Trotzdem übt er, übt und übt. Es gibt aus dieser Zeit unzählige Studien von Händen, Körpern, Figuren, Gesichtern. Jedes irgendwie zur Verfügung stehende Papier wird zum Zeichnen benutzt. Akkurate Raster aus Bleistiftstrichen überziehen zahllose Handskizzen und Figurengruppen auf alten Firmenformularen und Notizblöcken, und nach und nach kann man förmlich zuschauen, wie jemand etwas lernt. Etwas eben auch unbedingt lernen will. Die Hände beispielsweise, eine der schwierigsten akademischen Übungen und eine besondere Obsession Schleinsteins, werden immer besser und besser. Weit, weit weg von Akademie und berühmten Professoren, in unerreichbarer Ferne von so etwas wie Kunstmarkt, gibt es hier einen, der sich das selber macht, was ihm sonst keiner geben will. Bildung, Respekt, Liebe. Viele Jahre arbeitet er so für sich, Anfang der 1980er folgen durch die Vermittlung von Freunden erste kleine Ausstellungen in Kneipen und in der von der Künstlergruppe „endart“ geführten gleichnamigen Galerie in Berlin, da ist er fast 50.

Seiner Mutter malt er ein Grab

Bruno Schleinstein ist die Verkörperung von Selbstermächtigung. Seine sich stets verbessernden technischen Fähigkeiten nutzt er für Zeichnungen und Bilder, die wie Suchscheinwerfer über reale und imaginäre Momente seines Lebens wandern. Immer wieder taucht die Mutter auf, die ihn mit drei ins Heim gab und zu der er 1945 (inzwischen seit über zehn Jahren weggesperrt) bei einem seiner Ausbruchsversuche flüchten wollte. Als er nach tagelanger Wanderung endlich bei ihr eintrifft, weist sie ihn ab. In seinen späteren Zeichnungen taucht diese abwesende und abweisende Mutter als liebevolles und geliebtes Wesen immer wieder auf. Unzählige Zeichnungen zeigen ihr (imaginäres) Grab, mit Blütenblättern umwunden, eine Grab-Inschrift lautet: „Ruhe sanft mein Mütterlein“, eine andere Zeichnung zeigt einen Querschnitt mit dem in der Erde versenkten Sarg, dieses Mal ziert „Deine Seele Gott – Mein Herz für Dich“ den Grabstein. Ein anderes Mal steht sie da als Gespenst, ganz durchsichtig und mit einem durchsichtigen kleinen Jungen auf dem Arm, im Licht des Vollmonds. Ganz so, wie Gespenster eben Dinge tun, die wir Lebenden nicht tun können, sosehr wir es uns auch wünschen. Der herzzerreißende Versuch einer alternativen Geschichtserzählung findet sich in einer besonders idealisierten Zeichnung einer liebevollen Mutter an der Wiege ihres kleinen Kindes. Herzen schmücken die Tapete, die Mutter sitzt lächelnd bei ihrem Kind, und vielleicht war es ja auch genau so. An die ersten drei Jahre des Lebens kann sich niemand erinnern, kindliche Amnesie heißt das in der Wissenschaft. Also wer weiß, vielleicht war es schön, bevor es schlimm wurde. So funktioniert Kunst als Magie, als Zaubertrick –wenn sie nur einem Einzigen hilft, ist das schon genug. So was gibt es selten.

Manche seiner Werke sind tatsächlich als magische Hilfsmittel erdacht. Ein Bild hatte er für seine ebenfalls abwesende Schwester gemalt, es sollte ihr nach seinem Tod zugestellt werden und sie durch den schieren Anblick töten. So viel Kraft hat er wohl der Kunst zugeschrieben. Auch das gibt es nicht oft. Immer wieder geht es in Bruno Schleinsteins Zeichnungen um Abwesendes und Ungreifbares, die Liebe, den Tod. Ein sehr akkurates Herz-Symbol auf Millimeterpapier rutscht ein bisschen aus seiner Befestigung, liebevoll gezeichnete und kolorierte Fake-Erinnerungen an ein romantisches Berlin gibt es, auch eine grausige Obduktion. Der auf die Zeichnung gesetzte Schriftzug „Todesursache Heimweh“ erklärt, woran man auch sterben kann: an Haltlosigkeit. Manchmal rutschen die Zeichnungen ins Fantastische, wirken wie Entwürfe für Theaterstücke oder Filme: Ein Schwein steht da im feinen Gehrock, Gelenkfiguren sind wie absurde Spielzeuge aufgestellt, historisch verkleidete Figuren stehen graziös an der Liege eines Kranken. Vielleicht sind es auch Entwürfe für Moritaten-Bilder, denn Bruno Schleinstein war in den 1960ern eine Zeit lang selbst Moritatensänger, einer, der mit selbstgemalten Tafeln musizierend in den Hinterhöfen Berlins Schauerballaden sang, also einer Beschäftigung nachging, die es eigentlich gar nicht mehr gab. Oder es sind Eindrücke aus der Filmwelt, in die er zufällig geriet, als Werner Herzog ihn, nachdem er ihn in einer Doku über Außenseiter Berlins gesehen hatte, als Darsteller für seinen Kaspar-Hauser-Film besetzte und Schleinstein daraufhin eine Zeit lang ziemlich berühmt war. Daher kennen ihn einige heute noch: „Ach der! Ja klar, Kaspar Hauser!“ Bis zuletzt hat er den Menschen misstraut. Selbst Werner Herzog. Von seiner argwöhnisch ausgehandelten Filmgage hat Schleinstein sich damals einen Steinway-Flügel gekauft, den er sehr geliebt haben soll. An diesem Flügel sitzend ist er im Jahr 2010 gestorben. Es lohnt sich, diesen modernen Kaspar Hauser durch seine Kunst kennenzulernen, denn Lernen und Kunst, das hat er beides wirklich ausgesprochen gut gekonnt.

Info

Warten ist der Tod Bruno Schleinstein Noch bis 22. August bei Delmes & Zander, Köln

Claus Richter ist Künstler und lebt in Köln

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